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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Früher Kasten, jetzt Parteien

Die Sippen- und in den Sippen die Altersklassengruppierung stellen die Grundlage alles altkabylischen Gesellschaftswesens dar. Eine Gruppe von Sippen bildete die Gemeinde, die Zusammenfassung der verwandten Gemeinden den Stamm, ein Zusammenschluß mehrerer Stämme führte zur Bildung eines Bundes (=tach'ebilt). Staatenbildungen in unserem Sinne gab es nicht. Ein kabylischer Fürst europäischer Art wäre den Berbern überhaupt auf die Dauer eine Unmöglichkeit, und so sehen wir denn auch alle Versuche des Altertums, Dynastien zu bilden, immer wieder scheitern, nachdem sie ganz formell und äußerlich unter dem Einfluß fremder Mächte ein mehr als problematisches Scheinleben geführt hatten.

Jedes Dorf hat aber seinen Führer, der heute mit dem arabischen Wort Amin (Emir) bezeichnet wird, der früher aber der Agelith war. Der Amin wird gewählt. Ihm zur Seite treten die Tarnen, das sind die Führer der Sippengruppen. Dazu kommen dann noch die ebenfalls gewählten Führer der Bünde und die aus persönlichem Einfluß herausgewachsenen Führer des ausgesprochenen Parteiwesens. Also alles zusammengenommen: nicht eine einzige erbliche Stellung, sondern alles auf Zutrauen und Persönlichkeit beruhend und nach jeder Richtung einem jeden äußerste Selbständigkeit gewährend.

Indem die Sippen sich zu Dörfern, diese sich zu Stämmen und



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diese sich wiederum zu Bünden vereinigen, ist eine Richtung zu höheren Gesichtspunkten geboten, weshalb wir diese dem Sippen- und Männerklassenwesen erwachsende Linie als die senkrechte bezeichnen wollen. Das Bundwesen ist das Leitmotiv in der Gruppierung der Altersklassen eines Sippenverbandes, wie in der der Stämme zu umfassenden Bünden.

Diese senkrechte Entwicklungslinie wird aber geschnitten von Gliederungen und einer anderen Idee des Gesellschaftslebens, deren Wirkungsrichtung ich, da er die erstere kreuzt, als den wagerechten Werdegang bezeichne.

In sehr alten Zeiten waren die Kabylen wie alle Berber in Kasten gegliedert. Man wird der Bedeutung der verschiedenen Spielformen wohl am besten gerecht, wenn man von vier Echrumen (Sing.: achrum) spricht.

Die erste Kaste war die der Igelithen (Sing.: agelith). Dies war ein besitzender Adel. Seine Vertreter waren die Leiter der Sippengruppen und der Ortschaften. Sie waren die Besitzer der Farmen, Führer im Kriege und die Helden der "Zeit der Märchen". Mit dem Worte Agelith verbindet das Volk den Begriff der "Sehr guten", der "Wahren", der "Rassereinen" und den der Klugheit. Heute gibt es keine Igelithen mehr. Sprechen die Kabylen von reinrassigen adligen Menschen, so nennen sie diese heute mit dem Ausdruck l'harr (Plur.: l'harro). Als Führer aber ist an der Stelle des Agelith der Amin (=Emir) ein wählbares Oberhaupt geworden. —Von ganz besonderer Bedeutung ist es nun, daß diese Agelith (ich benutze der Einfachheit halber den kabylischen Singular auch in der Mehrzahl) nicht nur Herren der Felder und Herren im Felde waren. Sie waren auch Herren des Feuers, und deshalb - so erklärt es die mythische Erinnerung - gehörten zu ihnen auch die Ichadethen (Sing.: achadeth), das sind die Schmiede. Damit aber steht die berberische Gesellschaftsordnung in einem noch ausgesprocheneren Gegensatz zu der arabischen. Denn wenn schon die Araber stets dazu neigen, dem Nomaden, dem die Wüste Durchstreifenden, den Bauern als Adel gegenüberzustellen, so gibt es für den Araber nichts Erbärmlicheres als den Schmied. Alle afrikanischen Araber setzen den Schmied auf die unterste Stufe der Berufsachtung. Der Achadeth gilt aber bei den Kabylen bis heute noch als ein sehr geehrter Mann, sein Beruf als ein hoch zu achtender. — Und das verstehen wir leicht, wenn die Erinnerung hier von seiner einstigen Zugehörigkeit zur Adelskaste zu berichten weiß. Diesen Gesellschafts- und



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Berufsgedanken vermochte die islamisch-arabische Welle nicht zu verdrängen.

Die zweite Kaste war vertreten durch die L'hasos (Sing.: l'hass.) Diese L'hasos (das o sehr scharf gesprochen, daß es fast wie a klingt) waren Sippen, die nicht mehr rein erhalten waren, die aber ihren Besitz eingebüßt hatten. Sie galten also wohl als Nachkommen der Agelithkaste, die aber verarmt und heruntergekommen waren; Verarmte und Heruntergekommene können sich aber nach kabylischer Ansicht nicht rassenrein erhalten und deshalb bildeten sie eine zweite Kaste. Das Wort L'hasos ist im Volksmunde auch heute noch recht gebräuchlich. Man versteht darunter einen Abtrünnigen, einen Unzuverlässigen, einen Mischung geistiger Kreuzung, auch wohl einen Törichten.

Die dritte Kaste sind die Ichamassen (Sing.: ach(e)mass), das sind Hörige. Die L'hasos saßen noch auf Höfen, die allerdings dem Agelith mehr oder weniger verpfändet waren. Sie hatten aber noch vollkommene Freiheit der Person und Familie. Sie konnten ihren Wohnort verlassen. Sie konnten arbeiten, für wen sie wollten. Die Ichamassen hatten diese Freiheit nicht mehr. Sie gehörten mit Körper und Familie irgendeinem Agelith, dessen Farmen sie bestellten; für ihre Arbeit wurden sie mit einem Anteil an Feigen, Öl, Korn usw. bezahlt. Wenn ihr Herr ein großes Gehöft hatte, so wohnten sie mit darin, in einem Nebenhäuschen, einer Kammer. War sein Gehöft klein, so lebten sie in kleinen Formhöfen. Die Ichamassen sind heute noch als solche erhalten, sind aber im Laufe der Zeit zu freien Arbeitern geworden. Denn im gleichen Tempo, in dem die große Wohlhabenheit des Agelith hinschmolz, nahm das Vermögen der ärmeren Leute zu; an Stelle des Naturaltausches trat die Geldwährung, und so kann es auch der Arbeiter zu etwas bringen. Da es aber eine Sklaverei in unserem Sinne für Angehörige der hellen Rassen nicht gab, so hatte dieser Gang der Dinge kein schweres Hindernis zu überwinden.

Die vierte Kaste nahmen die Icharasen (Sing.: acharas) und die Ichenaijen (Sing.: ach[e]nai) ein, die Zunft der Lederarbeiter und die der Barden. Bei den alten Kabylen scheint die Lederarbeit zunächst in den Händen der Frauen gelegen zu haben. Wenigstens wurde mir einmal gesagt, das lederne Totenhemd der Alten hätten deren Töchter oder Schwiegertöchter bereitet; dann: die Frauen machten die ledernen Zelte (akethum; Plur.: ikethunen), und zwar verfertigten sie die Decken und stellten sie auch auf. Aus diesem



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Lanylie Bau Mahdi



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Grunde galten die Lederarbeiter als die Vertreter eines "weibischen" Berufes. Aber noch interessanter ist es, was die Tradition von einer anderen Eigenart dieser Zunft berichtet. Alle Kabylen benennen sich in echt patriarchalischer Weise nach dem Vater*(,,Sohn des"). Von den Icharasen nun heißt es, sie hätten sich früher nicht nach dem Vater, sondern nach der Mutter (also: "Sohn der") benennen müssen. An dieser Sache muß etwas Wahres sein, denn einmal wurde mir solches im Jahre 1910 im Aures und zum zweitenmal im Jahre 1914 ganz unabhängig hiervon in Ait bou Mahdi erzählt. Die heutigen Lederarbeiter selbst leugnen es natürlich und werden sogar entrüstet, wenn man sie danach fragt. Diese Icharasen verdienen aber noch nach anderer Richtung ein entsprechendes Interesse. Auch unter den Tuareg und bis zu den Nigerstämmen herab sind die Garasa und Garata als Lederarbeiter kastenmäßig abgesondert. — Über die Ichenaijen, die Sänger, kann ich wenig sagen. Ihr Gitarrenspiel (Gitarre gumbi; Plur.: agrumbi; sie bestand aus einem Schildkrötenkasten und war mit Katzendärmen besaitet, die mit drei oder vier Wirbeln gespannt wurden) ist wohl schon lange verklungen. Sie verschwanden wohl mit dem Agelith, mit dem "großen Kampfe", mit der Hochwildjagd. Man sagt, sie seien hinter den Agelith hergezogen und hätten von deren Taten gesungen. Von großen Epen, wie in den Farakaländern, habe ich nichts finden können. Möglich, daß sie vorhanden waren; wahrscheinlich ist es nicht. Ichenaijen im alten Sinne gibt es heute nicht mehr; sie wurden verdrängt durch allerhand arabische Bänkelsänger.

Endlich gab es noch Sklaven; das waren aber Neger (ach ilan; Sing.: achli[n]) und Negermischlinge (ibarhasch; Sing.: abarhusch). Diese waren käuflich und über alles verachtet. Eine kastenmäßige Stellung hatten sie nicht. Ferner lebten auch hier und da Araber (= arawen; Sing.: arab) unter den Kabylen. Diese aber waren verhaßt. Kabylen und Araber hassen sich auch heute noch, und daß trotzdem an mehreren Stellen Araberstämme von den Kabylen aufgesogen werden konnten, ist auf eine Entwicklung der Achrum, die ich nunmehr schildern werde, zurückzuführen.

Diese Kasten flossen im Sippenverbande ineinander über. Einem Sippenverbande stand der Geschlechtsherr der betreffenden "Adels*



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sippe" (wenn man so sagen will), also "der" Agelith vor. Zu jeder Agelithsippe gehörten L'hasos, Ichamasen, Icharasen und Ichenaijen, auch wohl einige Achilan oder Ibarhasch. Der Ausdruck Achrum (Plur.: echrumen) kam zunächst der Kaste zu. Da aber der ganze Sippenverband seinen Namen von der Sippe des Agelith hatte, da die Unterschiede von "Rein" und "Unrein" im Rassensinne mehr und mehr verschwanden, so trat für die Bedeutung achruen der dann immer stärker betonte Begriff des "Dorfviertels" einerseits, und andererseits der Begriff des aus mehreren Sippenverbänden entstandenen Geheimbundes hervor, der erst als Athrum oder Acharuw (Plur.: ichervän), heute aber mit dem arabischen Wort als Ssoff (Flur.: lithfuw) bezeichnet wird.

An der Spitze dieses parteiartigen Geheimbundes stand in alter Zeit der Agelith, also ein Adliger. Die letzten Agelith, die an der Spitze solcher Parteien standen, sind heute noch dem Volke bekannt. Es waren zwei Brüder, die vor hundert Jahren starben. Seitdem ist die Stellung eines Acharo b'isrum, eines Geheimbundleiters, nicht mehr erblich. Die Geheimbünde verloren mehr und mehr den aus dem kastenmäßigen Sippenverbande hervorgegangenen Charakter und wurden zu politischen Parteien, deren sich überall zwei —schroff und in hartem Ringen -gegenüberstehen.

Denn die gleiche zähe Anhänglichkeit, mit der alle Berber an ihrer Sippe und ihrer Kaste hängen, die aus Ibn Chalduns Geschichte der Berbervölker ebenso deutlich hervorgeht, wie aus den Daseinsformen der südlicher wohnenden Tuareg, diese Anhänglichkeit übertrug das Kabylentum nun auf die Parteiidee, auf die Athrum. In alten Zeiten der Kastenhochhaltung wurde ein rassenmäßig Unreiner und ein Mischling in diesem Sinne mit dem Ausdruck L'hasos bezeichnet. Heute ist ein L'hasos derjenige, der aus seinem Parteiverbande austritt und einem anderen sich anschließt. Denn es sind keine geheimen Bünde mehr, sondern offen zutage tretende, und jeder Mann gehört mit seiner Sippe einer Partei an und tritt nicht nur im geheimen, sondern öffentlich für sie auf und ein.

Für die Partei, für seinen Ssoff, tut der Kabyle alles. Für sie hat er stets Zeit, stets Geld. Für sie kämpft er und stirbt er. Wenn der Kabyle für längere Zeit auf Reisen geht, ißt er der Reihe nach bei allen Mitgliedern seines Ssoff. Wenn er zurückkommt, ist ihm das Erste, daß er sie zu sich einlädt. Die Zusammenkünfte der Ssoffmitglieder finden nicht auf dem Tadjmait statt. Sie haben keine "Klublokale" wie die Altersklassen. Sie treffen sich auch heute noch entweder



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im Hause des Ssoffleiters oder in einem meist dem Ssoffleiter gehörigen Busch. Das ist ein Rest des Kastenwesens, das hier seinerzeit ja auch in der Siedlung gedieh und blühte.

Mit den Altersklassen hat das Parteiwesen also nichts zu tun. Vielfach schneiden sich beide Entwicklungsgänge und das ist der Grund, weswegen ich von einer "Wagerechten" und einer "Senkrechten" in der Gesellschaftsordnung spreche.


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