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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Die patriarchalischen Sippen und Altersklassen

Das in den Kabylen noch lebendige Geistesleben des Berbertums ist so stark, daß trotz aller fremden Einflüsse sein Grundwesen sich treu blieb. Das gilt nicht nur für solche Äußerungen der Kultur, wie sie bisher geschildert wurden; das gilt auch für den Innensinn des gesellschaftlichen Lebens, das doch, rein äußerlich genommen, am meisten den umbildenden Einwirkungen des Islam ausgesetzt war. Der Islam und seine formende Gesetzgebung herrschen herrschen nicht bedingungsweise, sondern absolut. Das mag man aus dem schönen Werke von Hanoteau et Letournent ("La Kabylie et les coutumes kabyles") ersehen. Aber sie herrschen nur als Formen, sind nur Werkzeuge, sind nicht Inhalt und nicht Werkmeister.

Das ganze Gesellschaftswesen der Kabylen beruht auf der Grundlage patriarchalischer Sippengliederung. Zu einer Sippe (als Bezeichnung wird heute vielfach das Wort lajal verwendet) gehören alle männlichen Abkömmlinge aus einer Manneslinie, also Großvater, Vater und dessen Brüder, die Söhne und ihre den Vaterbrüdern entsprungenen Vettern usw. Fernerhin sind in der Sippe, allerdings als gänzlich rechtlos, eingeschlossen alle Frauen, die hineingeheiratet haben, nie aber etwa deren Brüder, Väter usw. Da alle Weiber a priori rechtlos sind, besteht also der Sippenverband auch gewissermaßen nur aus Männern.

Vielfach wohnen die Sippenglieder nahe beieinander, oft große Gehöfte, zuweilen Dorfwinkel bildend. Diese "Imaulan" sind nach innen gegliedert nach Altersklassen, nach außen abgesondert durch die gemeinsame Pflicht zur Blutrache.

Früher zerfielen alle Imaulan sehr streng in gleichschichtige Altersklassen, nämlich: 1. die Greise = imrharen; Sing.: amrhar oder amghar), II. Patres familias (=irgessen; Sing.: argäss; d. s. also die "wirklichen Männer"), III. die jungen Männer (=illmsien; Sing.: ill'mseing), IV. die unreifen Knaben (= ärräsch; Sing.: akschisch). Die ilufamen; Sing.: lufan, d. i. kleine Kinder, das sind sowohl Knaben als Mädchen, rechneten überhaupt nicht zu den Männern, sondern zu den Weibern. Die verschiedenen Altersklassen hatten ganz bestimmte Aufgaben.

Die IV. der unreifen Knaben hatten die zeremoniellen Spiele bei den Festen. Das mag sonderlich anmuten, da sie doch als die unreifen angesehen wurden. Es wurde das aber sehr gut damit erklärt, daß diese Knaben noch kein Blut vergossen hätten, daß sie



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also noch keinerlei Rachegeister hinter sich hergezogen und sowohl als "Blutreine" wie auch "Geschlechtsreine"gewissermaßen überhaupt sündlos und rein waren. In diesem Sinne waren diese Knaben als noch Reine zur Ausführung des Kultes geeignet, so wie die Greise als wieder Reine die Anleitung dazu geben konnten.

In welcher Weise die Knaben früher zu Jünglingen bzw. jungen Männern wurden, die an den Männerversammlungen teilnehmen durften, sagt eine einzige Erinnerung: durch die Bluttat und durch die Zeit der Enthaltung wurde der Akschisch zum ill'mseing. Deutlichere Hinweisungen geben die Märchenauslegungen: sorgsame Väter suchten ihre Kinder von der ersten Bluttat durch Erziehung in der Abgeschlossenheit fernzuhalten; böse, alte Weiber trieben sie mit Macht dazu an. Sicherlich ist einem jungen Kabylen die Verehelichung erst nach einer Bluttat, ob diese nun auf der Jagd oder im Kampfe ausgeführt war, zugebilligt worden, und zwar aus dem Grunde, weil vorher der junge Knabe zwar rein, sein Same aber noch unfruchtbar war. Der männliche Same wird erst so fruchtbar wie der Itherthers nach einer Bluttat, so daß hier wohl die Anschauung, daß jeder überwundene Feind gleichbedeutend mit einer Vermehrung magischer Kräfte ist, hindurchleuchtet. Das ist aber sicher: Die zur Hervorbringung von Kindern nötigen magischen Kräfte gingen nach kabylischer Ansicht nur vom Manne, in keiner Weise von der Frau aus. Die Frau war und ist heute noch lediglich Durchgangsgefäß. Ein alter Kabyle sprach die durchaus charakteristischen Worte: "So wie Itherther seinen Samen in die Steinschale fallen läßt, so der Mann in das Weib. Das Weib ist wie die Steinschale, aus der die lebenden Gazellen hervorgegangen sind. Die Steinschale war das Weib Itherthers." — Der Mann ist also der Gebende, der schöpferische Teil, und die schöpferische Kraft gewinnt er nur durch Tat und der Tat folgende Reinigung.

Nun die Männerversammlung. Jedes alte Kabylendorf, ja jede Gehöftgruppe und, wenn es allein liegt, sogar das Gehöft hat zum mindestens einen Tajemait oder Tachemait; Plur.: tischemuja. Das ist ein im Freien angelegter Platz, der durch eine im Kreise angeordnete Reihe von Steinsitzen bezeichnet ist. Auf diesem Männerplatze kommen die Leute zusammen zu den Beratungen der Sippe, des Dorfes, des Stammes oder des Bundes. Weiber haben nie Zutritt und ebensowenig die Ivranijen (Sing.: abrani). Außer dem Tajemait vor dem Dorfe gibt es aber im Dorfe noch ein "Männerhaus", das heute Djemaa genannt wird, das gleichzeitig



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als Moschee dient und das auch die Lagerstätten durchreisender Freunde birgt. Die Djemaa hat nichts von der Exklusivität des Tajemait.

Auf dem Tajmait tagen die Männer der 1. bis III. Altersklasse. Die Greise geben ihren Erfahrungen, die Männer ihren Überzeugungen Ausdruck und die Jünglinge schweigen. Auf dem Tajmait werden alle Rechts- und Besitzfragen, wird alles das Gemeinwohl Betreffende erörtert und entschieden. Hier versammeln sich aber auch am Abend die Alten mit den Jungen, und hier werden die in Märchen- und Legendenform gekleideten Belehrungen erteilt. Auf dem Boden des Tajmait lebt die alte Berberkultur.

Außer dem Tajmait gab es aber noch den Thimamorth und den Tachluit. Der Tajmait ist der rein profane Männerplatz, der heute noch überall verbreitet ist, während Thimamorth und Tachluit, beide wohl stets geheimgehalten als Heimstätten alter heidnischer Gebräuche mit dem Siege des dogmatisch strengeren Islam aus der offenen Tatsächlichkeit in die verborgene und vielfach bis zum Gedächtnisleben und Verschellen zurückgedrängt sind.

Der Thimamorth galt dem Blutgericht; auf ihm kamen die 1. und die II. Altersklasse zusammen. Hier wurden die Männer der II. Altersklasse nach vorhergegangenen heiligen Opfern in die Geheimnisse der Schöpfungsmythe eingeweiht. Der Tachluit aber war das geheimnisvolle Gebiet, auf dem nur die ältesten Männer, die Imrharen, sich versammelten und dem andere Männer sich nur nähern durften, wenn die Leiche eines Greises bestattet wurde. Der Tachluit war mit Steinplatten bedeckt und mit einer Reihe Steinsitzen umgeben. Unter den Steinfliesen fanden diejenigen Greise, die sich durch besondere Klugheit, Güte und Reinheit ausgezeichnet hatten, ihre Grabstätte. Diese Leichen wurden dann bekleidet mit Gewändern, die es heute nicht mehr gibt. Sie bestanden aus Stoffen, die kunstfertig aus Schilf (= diss) gewebt waren. Es waren das Tücher,, dreimal so lang wie breit. In der Mitte war ein langes Loch hineingeschnitten, durch das man den Kopf steckte; die langen Enden fielen so vorn wie hinten gleichlang über Oberkörper und Arme bis zu den Knien herab. Um die Lenden wurde es mit einem Gurte zusammengehalten. War der Greis in jüngeren Jahren ein großer Jäger gewesen, so gingen jüngere Leute auf die Jagd, erlegten eine Antilope und trugen sie zum Tachluit. Seitwärts des Platzes wurde die Beute enthauptet, vom Schädel wurde ein Horn abgelöst, das mit dem Blute des Wildes gefüllt und mit dem oben schon erwähnten



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Atherhorn des Verstorbenen neben seiner Leiche Platz fand.

Im übrigen wurde aus dem Blut, aus Leber, einigen Fleischstückchen und einigem Wasser auf sonderliche Weise (die die Kabylen aber auch sonst anwandten) ein Gericht gekocht. Aus der Haut des Wildes, und wenn es ein Büffel war - so erzählt die Legende -, aus seiner Magenhaut wurde ein Sack gemacht, der mit den Speiseingredienzien gefüllt war. Ein solcher "Kochsack" hieß aidi-dissibui. Zwischen zwei stehenden Steinen wurde nun ein starkes Feuer entzündet, das die Steine stark erhitzte. War es herabgebrannt, so wurde es während des nun folgenden Kochens nur noch glimmend unterhalten. Schlug die Flamme aus nachgelegtem Holz zu hoch, so wurde sie mit einer tharkist genannten Keule niedergeschlagen. Das Kochen selbst erfolgte in der Weise, daß durch den Beute! der sogenannte Imkethäven-buthar, eine Art Bratspieß, gesteckt wurde, dessen beide Enden auf die Standsteine zu stehen kamen und hier gedreht wurden. So wurde das heilige Totenmahl für den verstorbenen Jäger bereitet und nachher von den versammelten Greisen auf dem Tachluit verzehrt -soweit sie in ihrem Mannesalter Jäger waren. Die Greise, die solchem Berufe nie sonderlich gefrönt hatten, beteiligten sich nur, indem sie einige an Ort und Stelle über einer Steinplatte geröstete Brotfladen zu sich nahmen. Denn alle alten Männer, die nicht Jäger waren, pflegten sich überhaupt, und besonders auf dem Tachluit, mit zunehmendem Alter nur noch vegetarisch zu ernähren. — Einmal begann ein alter Mann eine Erzählung mit den Worten: "Es war noch in der Zeit, als die Greise sich nur noch von Pflanzenkost ernährten."

Die eigentlichen tatkräftigen Leiter der Sippe und die Verwalter des früher das Privatvermögen offenbar weit übersteigenden Sippenbesitzes waren die Männer der II. Altersklasse. Sie waren auch die Führer des unten zu besprechenden Ithrumen (Sing.: Athrum). Die Greise aber waren die Hüter des geistigen Lebens, die Wahrer der alten Tradition, die Leiter aller Opfer und Opferspiele, von denen ich auch nachher einiges berichten werde.

Derart gruppierten sich die Kräfte auf den verschiedenen Männerplätzen. Früher war das alles streng geschieden, innerlich wie äußerlich. Heute hat die Moschee den Männerplatz vielfach und jedenfalls in seiner Verschiedenartigkeit zurückgedrängt und teilweise auch beseitigt, so daß die Kräftegruppierungen sich nicht mehr so stark in Außenformen ausdrücken und in der Betonung der Außen-



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formen kräftigen können. Deswegen bestehen die Kräfte an sich aber doch immer noch fort. Sie sind so reif und selbstverständlich, daß sie nicht mehr wie im Jugendstadium der formalen Sitten als Krücken benötigen. Heute wirken sie unbewußt, aber desto zielsicherer. Es ist hier genau so wie auf vielen anderen Gebieten des Kulturlebens. Sogar bei uns verstehen wir mancherlei Innenwirkung nur, wenn wir uns die Formen klarmachen, die sie in ihrer Jugendzeit äußerlich prägte.

Die Kabylen benötigen heute der äußeren Betonung der Männerklassen nicht mehr. Die Eigenart des Wesens ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Und manche Entscheidung nach "islamischem Gesetz" begreifen wir nur, wenn wir uns die unter dem Schleier des Islam herrschende ältere und stärkere Eigenart klarmachen.


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