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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Der Draug

Der Draug ist ein entfernter Verwandter des Wassermanns und lebt auch wie dieser draußen in der See. Ein Draug ist etwas kleiner als ein gewöhnlicher Mensch und von Kopf bis Fuß mit Seetang, Muscheln und allerlei Wasserpflanzen bedeckt. Bei Flut und in der Dämmerung kann man ihn zwischen den Booten des Fischerdorfes sehen, während die Männer damit beschäftigt sind, ihren Fang zu sortieren und ihre Netze zu flicken. Soweit es eben geht, wagt er sich in Häfen, Buchten und Flußmündungen hinein und tut alles, was er nur kann, um die Fischer auf das Meer hinauszulocken. Wo immer man einen Draug sieht, weiß man, daß es am nächsten Tag Sturm



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geben wird. Wenn er da war, liegt nachher oft etwas Erstickendes in der Luft, und der friedvollste Abend scheint gefahrdrohend. Am nächsten Tag erscheint der Draug dann auch plötzlich mitten im Sturmestoben auf See, wenn die Wellen überschäumen und der Wind in den Wogenkämmen wühlt. Gerät ein Fischer mit seinem Boot in einen solchen Sturm, so kann er nichts tun, als die Segel einholen und nur ein kleines Notsegel belassen, damit das Boot bewegungsfähig bleibt und weiter vor dem Wind läuft. Wenn ihm in diesem Augenblick aber ein Draug erscheint, weiß er, daß sein Schiff untergehen muß. In frühen Zeiten kam der Draug selbst in einem Boot -das heißt, Boot konnte man es kaum nennen -, und zwar, gegen Wind und Sturm segelnd, in Blitzesschnelle auf den Wellenbergen reitend und teuflisch lachend, wenn der erschreckte Fischer alle Kräfte aufbot, um sein Boot in der Gewalt zu behalten und das eindringende Wasser wieder und wieder auszuschöpfen. So schnell er aufgetaucht war, so rasch verschwand der Draug auch, doch nur, um kurz darauf mit noch schrecklicherem Hohngelächter wiederzukommen. Und so quälte er den armen Mann immerfort, kommend und gehend, kommend und gehend, bis zuletzt eine Woge, größer und gewaltiger als alle zuvor, sich krachend auf das kleine Boot niederstürzte, das nun von der schäumenden See verschlungen wurde. Seit langem schon pflegten die Fischer, das Kreuzeszeichen als Schutz gegen den Draug einzubrennen oder aufzumalen, wenn sie sich ein neues Boot bauten. Es beschützte sie wirklich, denn das Zeichen des Kreuzes wirkte auf den Draug geradeso wie der Ton der Kirchenglocken auf die Bergtrolle: er wurde machtlos.

Da war einmal ein Fischer, der in einem kleinen Inseldorfe vor der Westküste Norwegens lebte. Meilenweit war er als der beste Bootsbauer bekannt, und von weither suchten ihn die Fischer auf, um ihre Boote von ihm bauen zu lassen. Eines Tages nun beschloß er, auch für sich selbst ein neues Boot zu machen, und das sollte das schönste und stärkste von allen werden, die je in See stachen. Es sollte ganz leicht und wendig sein und wie ein Vogel dahinfliegen. Wochen wandte er daran, dieses Boot zu bauen und es immer vollkommener zu machen, und als er es vollendet hatte, war es wirklich das stärkste und schönste, das man je gesehen hatte. Alle bewunderten es. Manche



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mißgönnten es ihm. Und viele boten hohe Summen dafür, aber der Fischer weigerte sich standhaft, diesen köstlichen Besitz zu verkaufen.

Eines Tages kam der Priester, der auf der Insel wirkte, zu unserem Fischer und fragte, ob er ihn wohl zu dem einige Meilen entfernten Kirchspiel einer Nachbarinsel hinüberfahren würde. Der Fischer sagte gern zu, stolz darauf, sein prächtiges Boot dem Priester anbieten zu dürfen, denn dieser war auf der Insel sehr geachtet und verehrt. Also fuhren sie am frühen Morgen ab und erreichten am Nachmittag ihr Ziel. Der Fischer entschloß sich, sofort zurückzufahren, denn er glaubte, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein. Der freundliche Priester bat ihn zwar, nicht mehr zurückzufahren, sondern mit ihm auf der Insel zu bleiben, denn der Himmel war dunkel, und ein Sturm drohte. Aber der Fischer lehnte die Einladung ab und setzte die Segel heimwärts.

Bald aber gingen die Wogen hoch, und der Sturm brach so furchtbar los, daß er die Segel fast ganz reffen mußte. Aber er wurde nicht ängstlich, war er doch stark und seiner Kraft gewiß. Nach und nach wurden die Wogen immer gewaltiger, wuchsen höher und höher und trieben ihr Spiel mit dem Boot, als wäre es nur eine Nußschale. Einzig mit Hilfe seiner großen Erfahrung gelang es dem Schiffer, es zwischen den Wellenbergen hindurchzulenken. Plötzlich aber drang durch das Brüllen des Sturmes, das Heulen des Windes ein seltsam greller und schriller Schrei. Er schaute suchend in den sprühenden Gischt, konnte aber niemanden entdecken. Auf einmal sah er genau vor sich etwas in rasender Fahrt auf sich zujagen. Schneller und schneller flog es heran, und voller Grauen erkannte er den Draug, ein schrecklich schielendes, wild gestikulierendes Wesen. Immer näher kam es, starrte dabei hohnlachend auf den Fischer und warf triumphierend die Arme in die Luft. Während der Mann seine Furcht zu überwinden versuchte und gegen den tobenden Orkan ankämpfte, packte ihn jäh ein entsetzlicher Gedanke. Auf einmal wußte er, daß sein Meisterstück unvollkommen war. Etwas hatte er vergessen, nämlich: das Zeichen des Kreuzes auf den Kiel zu malen oder es einzubrennen. Voller Verzweiflung schaute er aus, ob der Draug wohl verschwunden wäre. Ja, er war verschwunden, doch für



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wie lange? In Todesangst raste der Fischer weiter, nur weiter, hoffend und betend, daß er die Küste, irgendwelche Küste, erreichen könne, ehe der Draug wiederkäme. Aber schon im nächsten Augenblick hetzte dieser, noch schneller als das erstemal, noch lauter, siegesgewiß kreischend, auf das hilflose kleine Fischerboot zu. Und im Nu verschwand er erneut. Nun wußte der verzweifelte Mann, daß seine letzte Stunde, vielleicht sein letzter Augenblick nahte. Er neigte den Kopf und betete, betete um Mut und Kraft. Und da sah er auf dem Boden des Bootes etwas Winziges und Glänzendes. Er hob es auf - es war ein goldenes Kreuz, das Kreuz des Priesters. Der Fischer wagte kaum seinen Augen zu trauen. Der gute Priester mußte es dagelassen haben, als er ausgestiegen war. Der Fischer hatte kaum Zeit, es näher anzusehen, als auch schon der gehende Schrei des Draug von neuem zu hören war. Aufheulend im Siegesrausch, seines Opfers sicher, tobte er geradewegs auf den Bug des Bootes zu. Hoch aufgerichtet, seinen Feind festen Blicks erwartend, stand der Fischer und hielt das goldene Kreuz dem jäh glotzenden Draug entgegen. Brüllend vor Enttäuschung und Wut, vor Haß und Entsetzen, verschwand der Unhold und kehrte nicht zurück. Als ob sie von Zorn und Grauen des Draug angesteckt wären, gingen die Wogen noch immer höher; Donner und Blitz durchtobten den Himmel. Keinerlei Wunder ließ den Fischer in dieser Nacht Land erreichen. Doch er segelte und segelte, das goldene Kreuz fest in seiner Rechten haltend und aus tiefstem Herzen den guten Priester segnend. Schließlich flaute der Sturm ab, und als der Fischer völlig erschöpft zu Hause ankam, hatte das Unwetter sich gelegt, und alles war wieder friedlich und hell.

Das erste, was der Fischer am nächsten Tage tat, als er sich von seinem Abenteuer erholt hatte, war: in den Kiel seines geliebten Bootes ein weithin sichtbares Kreuz einzubrennen. Und niemals wieder vergaß er das Zeichen des Kreuzes klar und groß an dem Kiel jedweden Schiffes anzubringen, das er von nun an baute.


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