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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Der Nöck

Inmitten der Wälder, Hügel und Berge Norwegens gibt es zahlreiche Seen und Teiche, die wie Juwelen mitten zwischen grauen Felsen, grünen Kiefern und funkelnden Schneeflächen eingebettet ruhen. Sie sind fischreich, vor allem gibt es Forellen, und an den Ufern nisten viele Wasservögel. Häufig sind das Schnattern einer Ente oder der einsame Ruf eines Tauchers die einzigen Laute in dieser großen Stille. Die kleinen ruhigen Teiche vor allem sind es, in denen der Nöck gern lebt. Er ist ein qualliges, glitschiges, phosphoreszierendes und überaus scheues Geschöpf. Nur in schönen Nächten und bei Mondenschein steigt er herauf bis zur Oberfläche des Sees. Dort verharrt er stundenlang, starrt stumm in den Mond, voller Trauer, weil er tief drunten im Wasser ein einsames Leben führen muß.

Aber nicht immer ist er harmlos, das müßt ihr wissen.

Da lebte zum Beispiel einmal ein junges bildhübsches Mädchen. Ihre Augen leuchteten blau wie der sommerliche Himmel, ihr Haar



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strahlte primelgolden, ihre Haut schimmerte weiß wie Schnee und war pfirsichzart, und in ihrer Stimme schwang stets ein helles Lachen mit.

Eines Abends, als sie singend heimwärts ging -der Tag war herrlich und von Vogellauten erfüllt gewesen, die Wälder bedeckt mit duftenden Blumenteppichen, und ein sanfter Wind hatte in ihrem Haar gespielt und die Spitzen der hohen Gräser bewegt - da kam sie an einem stillen kleinen See vorbei. Die Sonne wollte soeben hinter den hohen Berggipfeln verschwinden und badete den See nochmals über und über in goldenem Licht.

Alles lag so träumerisch da, so friedvoll, die Luft war so erfrischend kühl; das Mädchen lief ans Ufer, um Hände und Gesicht ins Wasser zu tauchen. Dann kämmte sie, über den Wasserspiegel geneigt, ihr langes blondes Haar und betrachtete sich nochmals weit vorgeneigt, bevor sie den Heimweg antreten wollte. Im gleichen Augenblick aber begann das Wasser seltsam zu rauschen, anzuschwellen, und ehe sie um Hilfe rufen oder fortlaufen konnte, hatte ein gewaltiger, unförmiger und triefender Nöck ihre langen Flechten gepackt und zog sie hinab, tiefer und tiefer, bis auf den dunklen Grund des Sees. Der Nöck hatte nämlich den Widerschein des Mädchengesichtes für den Mond gehalten und sich darangemacht, zur Oberfläche hinaufzusteigen. Doch als er ihr schönes Antlitz näher und näher sah, ergriff ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas so Liebliches für immer zu besitzen. Und so war er schnell an die Oberfläche gekommen und hatte das unglückselige Mädchen ergriffen, bevor es zu fliehen vermochte. Wenn von da ab ein Wanderer nach Sonnenuntergang an dem See vorbeikommt, kann er oftmals über der Wasserfläche eine weiße geisterhafte Gestalt schweben sehen und das leise Klagen einer zarten Frauenstimme vernehmen.

In den großen Wasserfällen lebt wieder eine ganz andere Art des Nöck. Dieser ist ein wilder Bursche, in nichts seinen Verwandten ähnlich, die in stummen Seen und stillen Teichen hausen. Im Frühling, wenn die Flüsse von tauendem Schnee anschwellen und Holzflöße aus den dichten Wäldern zu den Sägewerken am Wasser herabgeschwemmt werden, erlebt der Nöck der Wasserfälle seine schönste Zeit. Kommen die Baumstämme angeschwommen und



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stürzen durch den Gischt herab, dann lacht und schreit er vor Freude. Mitunter gibt er den Hölzern einen Fußtritt, so daß einige hoch in die Luft geschleudert werden, ein andermal fängt er sie so schnell auf, daß du inzwischen nicht mal ein Streichholz durchbrechen könntest. Und manchmal greift er eine Menge Baumstämme und hält sie fest, so daß alle weiteren Hölzer, die angeschwommen kommen, sich ineinander verkeilen und die Holzfäller ihr Leben wagen müssen, um sie wieder zu trennen und zum Weiterschwimmen zu bringen. Ja, dann brüllt der Nöck vor Lachen hellauf, läßt die Hölzer los, und wenn der Flößer nicht rasch genug fortgesprungen ist, wird nie einer ihn wiedersehen.

Es gab einmal einen Mann, der in ganz Norwegen wegen seines Pferdeverstandes, seiner Pferdezucht und Reitkunst berühmt war. Unter seinen Händen wurden die wildesten und ungestümsten Pferde sanft. Nie gebrauchte, nie trug er überhaupt eine Peitsche bei sich. Es war einfach so, daß er die Pferde kannte und verstand, als gehöre er zu ihnen.

Eines Tages kaufte er auf einem Nachbargut ein ganz junges Füllen. Es war ein süßes kleines Pferdchen mit großen sanften dunklen Augen; das Tierchen und sein Herr hingen so sehr aneinander, man möchte sagen: wie Vater und Sohn.

Als das Füllen ein Jahr alt war, kam sein Herr an einem schönen Frühlingsnachmittag zu ihm und sagte:

»Heute werden wir mit dem neuen Wagen erstmals den Hof besuchen, auf dem du geboren bist.«

Obgleich es jung und noch nicht erzogen war, hatte das Pferdchen nicht das geringste dagegen, vor den buntbemalten kleinen Wagen gespannt zu werden. Vielmehr trug es den Kopf so hoch und hob die Füße so eifrig, daß man unverkennbar sah, wie stolz es ihn machte, seinen Herrn zu fahren, wie stolz es auf den neuen Wagen und nicht zuletzt auf sich selber schien. So fuhren sie durch die Wälder, fuhren am Rande des Gebirges entlang und erreichten schließlich das Tal, in dem der Hof lag, den sie besuchen wollten. Alles ging gut. Der Wagen ratterte vergnüglich des Wegs, das Fohlen trabte flink, und der Mann pfiff vergnügt. Jetzt kamen sie zu einer Brücke, die über einen tiefen reißenden Fluß, am Fuße eines gewaltigen



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Wasserfalls, führte. Der Mann zog die Zügel etwas an und verlangsamte die Fahrt, um das ununterbrochene Herabstürzen des Wassers anzuschauen.

Während er so in das wogende, weiße Strömen hineinsah, das aus großer Höhe herabdonnerte, als ob Hunderte von schlanken Wasserskiern fröhlich einen gläsernen Hang herabkamen, und dabei dem erregenden Brüllen dieser Lawine aus Wasser lauschte, stellte er sich einen Nöck vor, der hinter dem wehenden Vorhang des Wasserfalls sitzen und auf einem fremdartigen Instrument Weisen von seltener Schönheit spielen könnte. Musik, die ein Nöck in solchen Stunden ersinnt, ist sanft wie der Sang des Sommerwindes in den Föhren, beruhigender als das Murmeln der Meereswogen, süßer als das Lied der Drossel und zärtlicher als die Erinnerung an glücklichste Tage der Vergangenheit. So sehr ergreift diese Musik, daß viele, die sie vernehmen, unwiderstehlich von ihr in die brausenden Wasser gelockt werden, und niemals sieht man sie wieder.

Plötzlich fühlt der Mann, mitten aus solchen Gedanken aufgeschreckt, wie die Zügel, durch einen jähen Ruck, seiner Hand entgleiten, wie das Fohlen sich ängstlich wiehernd steil auf die Hinterhand stellt, die Nüstern weit offen, die Augen furchtstarrend, um dann in fliegender Hast über die Brücke davonzujagen. Weiter und weiter galoppiert es, ist durch nichts zu halten. Ein tief über den Weg geneigter Baum zertrümmert den hübschen neuen Wagen in tausend Stücke -aber das Pferd, in seinem panischen Schrecken, jagt weiter. Auf der Brücke lag indessen der Mann völlig verwirrt und starrte hoch. Eine ganze Zeit lang war er noch viel zu betäubt, um sich bewegen zu können. Schließlich, langsam und schmerzhaft, gelang es ihm, sich aufzusetzen und bis an das Brückengeländer zu schieben, um nachzuschauen, was wohl sein Pferd derart erschreckt habe. Da stutzte er und war nicht wenig verstört, als er ein mächtiges, berstendes Gelächter vernahm, wieder und wieder und immer wieder, so als ob jemand vor Lachen fast platzen wollte.

>Wie seltsam!<dachte der Mann, denn eben noch war ihm dieser Ort völlig einsam vorgekommen. Deshalb lehnte er sich noch weiter vor, und da sah er nun unter der Brücke einen Nöck sitzen, dem vor Lachen die Tränen über die Backen rollten.



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»Ach, du also warst es, der mein armes Fohlen so erschreckt hat!« rief der Mann wütend aus. Aber der Klang seiner Stimme ging im Toben des Wasserfalls unter, und der Nöck lachte nur noch mehr, als er das wütende Gesicht des Mannes sah. Dieser versuchte nun aufzustehen, aber er schwankte nur so, und sein rechtes Bein schmerzte fürchterlich. Mühsam schleppte er sich bis an das Ende der Brücke, um dem Spottgelächter des Nöck zu entkommen.

Kurz darauf fanden ihn einige Leute aus dem benachbarten Dorf, die Hilfe brachten. Es war ihnen gelungen, das wildgewordene Pferd einzufangen, und sogleich hatten sie sich aufgemacht, den verunglückten Eigentümer zu suchen. Der Mann erzählte ihnen seine Geschichte, und die Helfer liefen eilig bis auf die Mitte der Brücke, um auch den Nöck zu sehen -aber sie sahen unter der Brücke nichts als schäumendes Wasser. Der Nöck war verschwunden. Doch als sie sich, während sie den verletzten Mann trugen, auf den Weg zurück ins Dorf begaben, da hörten sie von ferne wieder eine dröhnende Lachsalve, diesmal aber klang sie von droben, von der Höhe des Wasserfalls.

Das Fohlen wuchs zu einem stattlichen Pferd heran und diente seinem geliebten Herrn treulich bis ans Ende seiner Tage. Doch nichts auf der Welt hätte es noch ein einziges Mal zwingen können, jene kleine Brücke zu betreten.


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