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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Die Waldtrolle

Die Waldtrolle sind völlig anders als die bösartigen Bergtrolle, wie etwa jene, von denen dereinst die drei Prinzessinnen geraubt wurden. Wenn du von den mächtigen, rauhen und doch so zauberischen Höhen norwegischer Gebirge herab kommst, erreichst du die weiten



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Strecken des Waldgebietes, voll hoher, grüner, dunkler Kiefernwälder. Hier leben Fuchs und Hase und alle die anderen Tiere. Hier bauen die Vögel ihre Nester. Hier kann dir vielleicht eine Huldin begegnen, und hier kannst du auch einen der freundlichen alten Waldtrolle treffen. Er ist ein gewaltiger Bursche, wenn auch nicht so groß wie der Bergtroll. Er hat nur einen Kopf, mitunter aber hat er zwei Augen, genau wie du und ich, doch manchmal auch nur eines. Es gibt natürlich böse, grausame, wilde Waldtrolle - genauso wie es böse, grausame und wilde Menschen gibt -aber die meisten von ihnen sind wirklich freundlich und gutmütig, meist gefällig und friedliebend, bereit, den Menschen zu helfen, wo es nur angeht.

Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Per. Er war sehr arm. Seine Eltern lebten nicht mehr, und in alten Zeiten mußte in Norwegen ein Waisenkind von Hof zu Hof gehen und dort für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Manche Menschen waren wohl freundlich zu ihm, andere waren das gar nicht, sondern ließen ihn für Kost und Unterkunft hart arbeiten. Wohin Per auch kam, eines spürte er überall: er gehörte nirgends richtig hin und wurde eben von allen nur als fremdes Waisenkind betrachtet. Eines Sommers, Per war so ungefähr neun Jahre alt, mußte er auf einem Hofe arbeiten, dessen Bäuerin ihn ganz abscheulich behandelte. Vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein hieß es arbeiten, und niemals hatte die Frau ein freundliches Wort für ihn übrig, sondern dauernd gab es nur Scheltworte: »Das Feuer ist fast aus. Lauf schnell und haue mehr Holz, du Nichtsnutz! Es gibt zu wenig Milch, du achtest zu schlecht auf die Kühe, du fauler Bengel! Die Eier sind zu klein, du fütterst die Hühner nicht richtig, du nachlässiger Wicht! Hol Wasser vom Brunnen; du hast etwas auf dem Flur verschüttet, du mußt ihn nochmals schrubben, du Unnütz!«

Und so ging es vom Morgen bis zum Abend, bis es Per eines Tages nicht länger aushielt und er im Morgengrauen aus dem Haus flüchtete und in die tiefen dunkelgrünen Wälder lief, um dort irgendwie sein Leben zu fristen. Er nahm nichts mit sich als einen kleinen hölzernen Eimer, den er beim Fortgehen mit Beeren füllen konnte, so daß er wenigstens etwas zu essen hatte. Als die Nacht anbrach, suchte er sich einen hübsch trockenen Platz unter einem großen Felsen



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oder die Höhlung eines alten Baumstammes. Da rollte er sich dann zusammen und schlief sofort ein. Nur die weise alte Eule und die scheuen Nachtgeschöpfe des Waldes wußten, wo er lag. So verrannen ihm die Tage; kreuz und quer streifte er durch das herrliche norwegische Land und war ganz glücklich darüber, daß er zum ersten Mal in seinem Leben frei und völlig unabhängig leben konnte. Doch so sehr sich Per seiner Freiheit freuen mochte, so einsam fühlte er sich mitunter, weil niemand da war, mit dem er sprechen oder einmal in den schönen großen Wäldern spielen konnte.

Eines Nachmittags nun, als Per im warmen Sonnenschein dahinschlenderte und sich dabei ein paar Beeren pflückte, gelangte er plötzlich zu einer Lichtung, und da saß, so richtig sich in der Sonne dehnend und gegen einen mächtigen von Moos überzogenen Findling gelehnt, ein riesengroßer Troll. Per war zuerst so überrascht und erschrocken, daß ihm die Haare zu Berge standen und er sein Eimerchen auf den Boden fallen ließ, so daß ihm alle Beeren davonrollten. Dann wollte er schnell wegschleichen und lautlos verschwinden, ehe der Troll aufwachte. Er hatte aber kaum einen Schritt getan, als er eine dröhnende Stimme hörte:

»Ach bitte, lauf doch nicht fort, kleiner Junge!«

Obwohl es eine Donnerstimme war, schwang doch so viel Freundlichkeit in ihr, daß Per innehielt und sich umdrehte. Der alte Troll lächelte ein breites, behäbiges, gütiges Lächeln und rief:

»Komm näher, Kerlchen! Hab doch nur keine Angst! Können wir zwei, du und ich, nicht Freunde sein? Ich bin so einsam, und jedermann hat immer nur Furcht vor mir.«

Der nette alte Troll tat Per leid. Er hatte nicht mehr das kleinste bißchen Angst vor dem Riesen, und ehe er sich's versah, saß er schon auf dem Knie seines neuen Freundes und schwatzte drauf los.

»Ich bin nun schon so alt, daß ich gar nicht mehr gut sehen kann«, sagte er alte Troll.

Per hatte inzwischen festgestellt, daß sein neuer Freund nur ein einziges Auge hatte, und da er wußte, daß die Trolle ihre Augen ohne große Mühe aus dem Kopf herausnehmen können, sagte er:

»Gib mir dein Auge und laß es mich einmal ansehen! Vielleicht kann ich dir helfen.«



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Der alte Troll nahm sein Auge heraus, das beinahe so groß wie Pers Kopf war, und gab es dem Jungen.

»Natürlich!« rief Per, nachdem er es sich genau betrachtet hatte, »kein Wunder, daß du mit diesem Auge nicht mehr gut siehst. Denk nur, lauter kleine Ästchen und Steinchen stecken darin, und außerdem ist es ganz von Moos überzogen.«

Sorgfältig zog Per alle Äste und Steine heraus, kratzte das Moos ab, lief dann zum nahen Bach, um es zu waschen, und polierte es dann ganz blitzblank. Als es wieder glänzte und klar wie ein Wassertropfen schimmerte, gab er es dem Troll zurück, der es wieder in der Mitte seiner Stirne einsetzte, genau dort, wo es hingehörte.

»Oh, ist das aber großartig«, schmunzelte der alte Troll, »nun kann ich gleich wieder so gut sehen wie vor ein paar hundert Jahren.«

»Vor ein paar hundert Jahren?« staunte Per. »Ja, wie alt bist du denn?«

»Nun, so genau weiß ich das nicht mehr«, antwortete ihm sein Freund, »aber gut dreitausend Jahre bin ich wenigstens alt.«

Verwundert und staunend sah Per ihn an.

»Dann mußt du ja fast so alt sein wie Norwegen selber«, meinte er nach einer kleinen Pause.

Der Troll lachte sein dröhnendes, tiefes, volles Lachen, das wie ein Donnerrollen durch die Berge klang. Dann schaute er aus, wie hoch wohl die Sonne stand, und sagte: »Mein Junge, die Sonne wird bald untergehen, und dann können wir uns schnell in einem Fluß auf der anderen Gebirgsseite einen prächtigen Fisch zum Abendessen fangen. Das ist der beste Fisch im ganzen Lande. Eben nach Sonnenuntergang springt er aus dem Wasser hoch, um Fliegen zu schnappen, und da ist er leicht zu fassen.«

»Aber in der kurzen Zeit können wir die andere Gebirgsseite nicht mehr erreichen«, sagte Per. »Wir brauchen ja mindestens zwei Tage dafür.«

»Nein, das brauchen wir nicht«, lachte grölend der alte Troll. »Klettere nur rasch auf meine Schulter und halte dich gut fest.«

Also stand Per auf, und der Troll tat das auch. Höher und höher kletterte Per, bis es ihm zuletzt war, als habe er die Spitze eines Berges erklommen.



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»Fertig?«fragte der Troll.

»Ja, fertig«, antwortete Per.

»Also gut. Halte dich ja fest!« Und er schritt aus. Ein Schritt vorwärts, und Per sah sich auf halber Bergeshöhe. Und die war soeben noch meilenweit entfernt gewesen. Himmel, Berge, Bäume, Seen, Wasserfälle und Ströme gingen ineinander über und wurden zu einer bewegten Masse, als die beiden vorübersausten. Per verging fast der Atem. Im nächsten Augenblick schon waren sie jenseits des Gebirges in einem freundlichen Tal, das von einem Fluß durchzogen wurde. Als er wieder zu Atem kam, rief Per aus:

»So schnell kann gewiß kein anderer sein. Es war mir beinahe schon zu schnell! Und jetzt spüre ich einen mächtigen Hunger.«

»In fünf Minuten ist unser Abendessen bereit«, sagte der Troll. Und schon kniete er am Ufer, bereit, einen großen silbrigen Fisch zu greifen, wenn er auf der Jagd nach Fliegen aus dem Wasser hochspränge. Inzwischen sammelte Per einen ganzen Korb voll der süßesten und reifsten Beeren, die er je gekostet hatte. Bald saßen sie beim herrlichsten Abendschmaus, den Per je erlebte.

An diesem Abend fand der Troll für Per eine prächtige kleine Höhle und frischduftendes Heu, während er selber dicht daneben, den Kopf an einen großen Stein gelehnt, schlief. Noch nie bisher war Per so glücklich gewesen.

Von da an blieben nun Per und der Troll immer zusammen. Der Troll lehrte Per Fische fangen, lehrte ihn die größten und reifsten Beeren und die wärmsten und behaglichsten Schlafplätze finden. Er lehrte Per die Sterne kennen und viele, viele andere wunderbare Dinge. Und die sommerlichen Tage und Nächte gingen glücklich dahin.

Als der Winter kam und der Eiswind blies, wurde eine dicke, weiche, weiße Decke über die Berge geworfen, über Hügel und Täler und Bäume; die Erde barg sich darunter und schlief fest ein. Ein großes Schweigen sank hernieder. Die Vögel verstummten, und selbst die Wasserfälle schienen nur noch zu flüstern. Der Troll führte Per zu einem hohen Gebirge, suchte ein Weilchen in seiner Tasche herum, zog einen Riesenschlüssel heraus, der zweimal so groß war wie Per, und steckte ihn in etwas, das wie ein mächtiger Spalt aussah, in



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Wirklichkeit aber ein Schlüsselloch war. Der Troll drehte den Schlüssel einmal herum, und eine große steinerne Tür tat sich auf, die in einen dunklen Gang führte.

»Wohin geht es denn da?«

»Komm nur, Per, ich werde es dir schon zeigen!«

Per kletterte auf die Hand seines Freundes. Da fühlte er sich sicherer, weil der Weg zu Anfang recht finster drohte. Aber schon wenige Minuten später stockte Per der Atem vor Verwundern und Staunen, als sie in eine große mit Silber ausgeschlagene Halle kamen. Die Wände, die Decke und der Fußboden waren ganz und gar von Silber. Es sah aus, als schimmere Mondlicht überall im Raum.

»Ist das aber schön!«, rief Per.

»Warte nur«, sagte der Troll, ging durch die große Halle und betrat am anderen Ende eine zweite. Da war es, als scheine plötzlich Sonnenlicht von den Wänden, Decken und Fußböden, denn die gewaltige Halle, die sie jetzt betreten hatten, war von oben bis unten mit Gold ausgelegt.

»Ist das aber schön!« jubelte Per.

»Ach, warte nur ab!« meinte der Troll, ging durch das goldene Leuchten hindurch und betrat am anderen Ende eine dritte Halle. Per mußte heftig blinzeln, so sehr wurden seine Augen geblendet. Die Wände, die Decken, der Boden, alles schien sich wie im Tanze zu bewegen, denn alles war mit glitzernden Diamanten verkleidet. »Das ist ja wunderbar!« flüsterte Per ganz benommen von dieser Pracht und Schönheit. »Wer lebt denn hier?«

»Diese Hallen bewohnte einst der Bergkönig«, antwortete sein Freund. »Die Trolle mußten sie damals bauen. Aber nun lebt der König in einem anderen Teil der Berge, und die Hallen liegen verlassen da. Sobald der erste Schnee gefallen ist, komme ich immer hierher und bleibe, bis der Frühling die Erde wieder aufweckt.«

Nachdem sie ein paar Stunden durch dieses Wunderland mitten im Berginneren gewandert waren, führte der Troll Per in einen kleineren Raum. Der war mit Tannenholz verkleidet. In der Ecke stand ein großer Ofen, und hier richteten sich Per und der Troll während des Winters ein und freuten sich über die anheimelnde Glut und Wärme des Feuers. Manchmal, an schönen sonnigen Tagen, schlossen



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sie die steinerne Tür auf, gingen durchs Gebirge, auf den feinen knirschenden Laut unter den sausenden Schneeschuhen lauschend, und Spuren wie von langen Bändern hinter sich lassend. Eines Tages fertigte der Troll ein Paar herrliche Schneeschuhe für Per, so daß auch der jetzt über den funkelnden Teppich aus Schnee dahingleiten konnte, und sein kleiner Körper glühte nur so vor Gesundheit.

»Nun kann ich es mit dir aufnehmen, wenn du sehr langsam gehst«, lachte Per, als er auf seinen neuen Schneeschuhen einen Berghang hinunterjagte. Wenn er stürzte, dann beugte sich der alte Troll von seiner großen Höhe herab und stellte ihn wieder sanft auf die Füße, und Per wußte sich vor frohem Lachen kaum noch zu halten. Wenn ihr jemals weit droben im Gebirge ein paar einsame nicht endende Skispuren entdeckt und daneben komische Vertiefungen oder Löcher im Schnee, immer zwei oder drei Meilen von einander entfernt, dann müßt ihr wissen: das sind die Skispuren und die Fußstapfen von Per und seinem Freund.

Die Winternächte in Norwegen sind dunkel und lang, und um die Zeit abzukürzen, fing der Troll damit an, Per ganz wunderschöne Geschichten zu erzählen. Da er mehr als dreihundert Jahre alt war, kannte er deren eine ganze Menge. Und dies hier war eine von Pers Lieblingsgeschichten, die ihm sein Freund nicht oft genug erzählen konnte:

Es waren einmal drei kleine Jungen, Tor, Jon und Ole. Die wohnten mit ihrer Mutter am Rande eines großen Waldes. Ihr Vater war tot, und sie hatten nur wenig Geld. Deshalb mußte ihre Mutter jeden Tag schwer arbeiten, um alle zu kleiden, zu ernähren und ihre Hütte nett, hell und sauber zu halten. Mitunter hatte sie schwer dabei zu kämpfen. Eines Tages schickte sie ihre drei Söhne fort, um auf einem wenige Meilen entfernten Hof Eier und Milch zu holen und auf dem Rückweg etwas Feuerholz und Beeren für das Abendessen zu sammeln. Tor, Jon und Ole zogen also früh am Morgen los und erreichten mittags den Hof. Die Bauersfrau war sehr freundlich zu ihnen. Sie gab ihnen große Stücke Kuchen zu essen und viel warme Milch zu trinken. Dann nahmen sie Eier und Milch, die sie holen sollten, vorsichtig auf und machten sich am Nachmittag wieder auf den Heimweg. Überall im Walde fanden sie reife Beeren. Sie rannten



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hierhin und dorthin, und während sie ihre Körbe füllten, jauchzten sie:

»Oh! seht nur hier, Ole, Jon, die sind aber groß!«

»Ja, aber sieh erst die hier, Tor!« — »Und diese erst, sieh nur, sieh hier, Ole, schau erst mal hierher, Tor!«

Der Nachmittag verging, und es begann zu dämmern. »Wir müssen uns jetzt aber sputen«, sagte Tor, »denn es ist schon spät und Mutter wird schelten, wenn wir nicht rechtzeitig zu Hause sind.« In dem Augenblick aber hörten sie von ferne ein seltsames Geräusch. Ein Rumpeln, danach ein gewaltiges Krachen, und das wieder und wieder. Dann verklang es. Langsam versank die Sonne hinter den Berggipfeln, und Dunkelheit breitete sich schon aus. Das Rumpeln und Krachen setzte von neuem ein, und diesmal verging es nicht wieder, sondern kam näher und näher. Die drei Jungen fürchteten sich sehr und drängten sich dicht aneinander. Krach, bum, bum, krach! Näher und immer näher, und nun war das Geräusch von brechenden Zweigen und ein Ton wie das Heranstampfen eines Elefanten zu unterscheiden. Und plötzlich schrien Tor, Jon und Ole gleichzeitig auf: »Da!«Sie zeigten auf etwas, das wie ein mächtiger Baum aussah und schnell näher kam. Im gleichen Augenblick erscholl wieder ein fürchterliches Krachen, dem das Geräusch brechender Aste, zurückschnellender Zweige und ein Aufschreien folgte.

Der wandernde Berg stand einen Augenblick lang still, und als die kleinen Jungen an ihm hinaufschauten, erkannten sie, daß er ein Bein war, ein riesengroßes Bein. Und als sie ihre Köpfe noch weiter in den Nacken zurücklegten, konnten sie höher und noch etwas höher schauen und erblickten einen Waldtroll. Der hatte gerade vor ihnen haltgemacht. Sie standen vor Angst wie festgewurzelt. Dann tat der Troll den nächsten Schritt und setzte eines seiner riesigen Beine vorwärts, mitten in eine hohe Tanne hinein, brach dabei zwei mächtige Zweige ab und schrie laut auf vor Schmerz.

Trotz all seiner Größe stolperte der arme alte Troll so tolpatschig mitten in die brechenden Äste hinein, daß die drei kleinen Buben einfach nicht anders konnten, als in Lachen auszubrechen.

»Wer ist da?« brüllte der Troll.

Die Jungen standen mucksmäuschenstill und hielten den Atem an.



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»Ist da jemand?« rief der Troll wieder.

Diesmal konnte Ole einfach nicht anders, als lauthals zu rufen:

»Ja, kannst du uns denn nicht sehen?«

»Nein, das kann ich eben nicht«, brüllte der Troll, »denn ich habe mein Auge verloren«, und damit versuchte er wieder einen Schritt zu tun und bumste an einen großen Felsen an.

Da aber tat den drei Jungen der stolpernde, dahinirrende alte Troll leid, und Klein Ole rief ihn nochmals an:

»Wo hast du denn dein Auge verloren?«

»Ach, da irgendwo hier im Walde«, antwortete der Troll. »Ich nahm es heute nachmittag heraus, um einen Splitter zu entfernen, und dabei habe ich es fallen lassen.«

»Ach du meine Güte!«rief Ole. »Dann setze dich nur eine Weile hin, und wir wollen es inzwischen rasch suchen gehen, ehe es zu finster wird und nichts mehr zu erkennen ist.«

»Seid ihr aber nett«, sagte darauf der alte Troll, den das sehr rührte; und er tappte, bis er eine Lichtung fand, wo er sich ausruhte, während die drei Jungen gingen, sein Auge zu suchen.

»Es muß ein sehr großes Auge sein«, sagte Tor.

»Dann werden wir es leichter finden«, sagte Jon.

Und die Buben begannen überall im Gesträuch und am Boden das Auge des großen Waldtrolls zu suchen. Plötzlich schrie Ole, der ein wenig abseits geraten war:

»Hallo! Tor, Jon, kommt schnell her, ich hab's gefunden!«

Tor und Jon rannten zu ihm und sahen eine große leuchtende Kugel, gewaltig wie ein Straußenei, und als sie nahe daran waren, erkannten sie, daß es wirklich ein großes Auge war, das da auf der Erde lag und sie glänzend und ausdruckslos anstarrte. Es war ziemlich schwer, und Ole trug es vorsichtig mit beiden Händen. Inzwischen war es so dunkel geworden, daß er ganz langsam gehen mußte, um ja nicht zu fallen. Als er bei dem alten Troll ankam, rief er:

»Hier ist dein Auge, alter Troll!«

»Ja«, riefen die anderen beiden erregt, »hier ist es, Ole hat es gefunden.«

Der alte Troll war ganz bewegt. Nachdem er es wieder in den Kopf eingesetzt hatte, sagte er:



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»Nun laßt euch erst einmal ansehen!« Er mußte sich dazu weit vorbeugen, weil es schon so finster war, und obwohl er recht grausig ausschaute, hatten die Jungen gar keine Angst mehr vor ihm, weil er sich so freundlich benahm.

»Hm«, sagte der Troll. »Drei nette kleine Jungen. Und welcher von euch ist Ole?«

Als sie sich kennengelernt hatten, meinte der Troll: »Nun erzählt erst mal, wo ihr wohnt, denn so kleine Jungen bleiben doch im Dunkeln für gewöhnlich nicht mehr im Walde.«

Sie berichteten, wo sie wohnten, und der Troll erklärte: »Schön, dann klettert mal auf meine Schulter, und ich will euch rasch nach Hause bringen, denn eure Mutter wird schon in Sorge sein.«

»Oh, vielen Dank«, freuten sich Tor, Jon und Ole und krabbelten auf die breiten Schultern des Troll. Da war für sie alle Platz genug. Tor und Jon saßen auf der einen, Ole auf der anderen. Dann schritt der Troll aus, und eins, zwei, drei, waren sie daheim. Vorsichtig ließ der Riese seine drei kleinen Passagiere vor der Haustür herabgleiten, und noch bevor sie sich bedanken konnten, richtete er sich hoch auf und war in der Dunkelheit verschwunden.

Ganz aufgeregt stürzten die drei Jungen zu ihrer Mutter hinein, um ihr von dem großen Abenteuer zu berichten. Das schien eine gar seltsame Geschichte; die arme Frau konnte sie ihren Kindern kaum glauben. Aber wenn sie auch noch daran gezweifelt hatte, bekam sie schon am nächsten Morgen einen Beweis. Denn als sie alle zum Frühstück vom Boden herunterkamen und Ole die Haustür auftat, um ein paar Kloben Holz aus dem Holzschuppen zu holen, da sah er zu seinem Erstaunen zwei dicke Säcke stehen, an jeder Seite der Haustür einen. Er öffnete den ersten, und heraus fiel Silber über Silber, das im morgendlichen Sonnenschein nur so flimmerte und glänzte.

»Mutter, Mutter, Tor, Jon, kommt schnell!« schrie er, und alle stürzten aus der Hütte, um zu sehen, was es da gäbe. Inzwischen öffnete Ole den anderen Sack. Und heraus strömte Gold, das mit dem Glanz der Sonne selber schier um die Wette strahlte. Wie sie nun fast atemlos waren bei diesem Anblick, entdeckten sie einen Zettel, auf dem in großen krausen Buchstaben zu lesen stand:



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»Mit herzlichem Dank für mein wiedergefundenes Auge.«

»Der Troll«, jubelten sie, »ein Geschenk vom alten Troll!«

Sie waren so ganz außer sich, daß sie vor Freude gar nicht wußten, was tun. Nun waren sie ihr Leben lang reich, und die Mutter brauchte nicht mehr Tag und Nacht zu schuften und zu arbeiten. Von nun an lebten sie alle sehr glücklich. Mitunter kam der alte Troll an schönen Sommerabenden, um seine kleinen Freunde zu besuchen. Da er aber natürlich viel zu groß war, um in ihre Hütte eintreten zu können - er vermochte ja nicht einmal sein rechtes Bein durch die Tür zu stellen - setzte er sich draußen in eine benachbarte Lichtung, und sie kamen zu ihm, kletterten auf seine Knie und plauderten voller Freude mit ihm. —

Siehst du, auf diese Art verbrachten Per und sein Trollfreund die langen Wintermonate. Soviel ich weiß, leben sie noch jetzt in einem wunderschönen weltabgelegenen Tal im Innern von Norwegen, und wenn du Glück hast, begegnest du ihnen dort vielleicht eines Tages noch selber.


Copyright: arpa, 2015.

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