Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



Atlantis Bd_01-0004 Flip arpa

EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Das Kabylentum als reifes Samenkorn am absterbenden Berberstamme. Architektur

Wenn es sich zeigt, daß bei den Kabylen noch die ganze Wesensart des Berbertums mit seinen verschiedenen Äußerungsformen und Abarten zusammengedrängt erhalten ist, so sei doch mehrmals mit aller Bestimmtheit betont, daß solche Wirklichkeit nicht nackt zutage liegt, daß immer erst mancherlei und vielerlei Neuzeitiges, Fremdartiges und vor allen Dingen Derzeitiges weggeräumt werden muß, ehe die wertvoll zusammengedrängte Ursprünglichkeit zutage tritt. Auch dafür soll ein Beispiel gegeben werden, das gleichzeitig in die gesellschaftlichen Lebensformen der Kabylen einführt. Ich will im folgenden ihre Siedlungen und Hausbauweise schildern.

Alle kabylischen Ortschaften liegen auf Hügeln, meist auf Sätteln. Sie sind mit ihren First- und Dachlinien stets so recht hineingefühlt in die Geländeformen. Das Ganze überragende Speichertürme wie bei andern Berbern habe ich als Allgemeinübliches nicht wahrgenommen, es sei denn, daß das eine oder andere Tarurfiz (Obergeschoß) oder ein die Straße überziehendes Askif solche Bedeutung im Ortsbild gewänne. Städte (= larasch; Sing.: la'asch) besitzen die eigentlichen Kabylen nicht. Sie unterscheiden Farmweiler (l'hathiv; Sing.: l[h]asib), kleine Dörfer (= thicharubin; Sing.: thacharubs; damit bezeichnet man auch gleichzeitig ein Dorfviertel) und große Dörfer (= thudar; Sing.: thadarth; auch spricht man von thudar thinkoranin; Sing.: thadarth tamkorant). Das Dorf zerfällt in Gehöfte (=imrachen; Sing.: amrach; große Gehöfte auch wohl l'hauarin; Sing.: l'hara; kleines Gehöft =tamracht), die dann und wann auch ganz einsam abseits in dem dazugehörigen Farmen liegen, während sie sonst sich in der Gemeinde dicht ineinander schmiegen.

Das moderne Kabylenhaus weist nichts, aber auch nichts Bemerkenswertes auf. Das moderne Haus stellt sich als ein kleines Lehmhaus mit Giebeldach, gedeckt mit aus Frankreich importierten Dachziegeln, dar. Die Wände sind gewöhnlich kastenmäßig wie unsere Betonbauten aufgeführt, und der europäische Dachstuhl liegt mit der Zimmerdecke direkt auf diesen "gegossenen" Wänden auf. Die Zimmerteilung weist gliedernde Wände mit Türen auf, die Außenwand Fenster mit Scheiben. Einige byzantinisch-arabische Truhen, womöglich europäische Eisenbetten, europäische Küchen-



Atlantis Bd_01-019 Flip arpa

geräte und sonstige Möbel; höchstens noch die altertümliche, wie eine Wagschale an vier Stricken hängende Wiege.

Der Wanderer muß schon ein paar Stunden weg von den französischen Kasernementsorten in das Innere vordringen, um dann z. B. in Beni Yenni zu entdecken, daß zwar das Ziegeldach und der europäische Dachstuhl auch hier schon allein herrschen, daß Decke, Dachstuhl aber nicht auf den Mauern lasten, sondern auf Pfählen, die der Mauer Halt bieten, und daß die unteren Räume Reste einer sehr merkwürdigen alten Gliederung in Wohnraum (einfach =acharn) und Viehstall (= adäinin) bieten.

Wer aber das ganze echte alte Kabylenhaus kennenlernen will, muß noch einige Stunden weiter wandern, etwa bis Tirual, wo sich ihm nun das Alte ganz unverwischt darbietet. Hier ist ein ganzes Dorf in die Kurve des Sattels hineingesenkt. Die mit Ziegeln gedeckten Satteldächer haben leicht tonnenförmig gewölbten Dächern Platz gemacht. Jedes Haus, jedes Gehöft zeigt seine sorgfältig dem Wirtschafts- und Sippenleben entsprechende Form. Je nach der Zahl der der Sippe zugehörigen Familien zerfällt ein Gehöft in eins bis fünf Häuser, die im Prinzip alle gleich, wenn auch der Ausführung nach je nach Wohlhabenheit und Sorgfalt der Bewohnenden recht abweichend sind.

Zum Verständnis der folgenden Beschreibung gebe ich als Tafel die Abbildung eines typischen Kabylenhauses aus Tirual. —Seiner ganzen Art nach besteht das Haus aus einem Holzgerüst. Es sind vier vierkantige Holzsäulen (= thighajda; Sing.: thighajdith) in die Erde gerammt, auf denen zwei schwere Wagebalken (= isulass oder imsigiau; Sing.: atheleth) ruhen, die auf der einen Seite mit dem Ende in den Kerben der Säulen liegen, auf der andern aber das jenseitige Paar so weit überragen, daß sie noch den nach dieser Richtung gelegenen Viehstall überspannen. Über diese Hauptbalken kommen nun die gebogenen Querrippen (= thassirinuinin; Sing.: thatsära). Die Wände, die nun um dieses Gestell bis zur Dachhöhe aufgeführt wurden und die nicht die geringste Tragaufgabe hatten, bestanden in alter Zeit aus Holzpfählen und Rutenverflechtung, die dann mit Lehm verkleistert wurden, stellten also primitive Rabitzwände dar. Sie waren demnach schwach und haltlos und mußten jährlich ausgebessert werden. Erst in neuerer Zeit werden die Mauern mit Stein und Lehm ausgeführt, so daß sie Haltbarkeit gewinnen und somit dies Dachgebälk und die Sparren zu tragen vermögen. Die Dachdeckung bestand früher lediglich



Atlantis Bd_01-020 Flip arpa

aus Erde, die über (auf den Rippen ausgebreiteten) Matten festgeschlagen wurde. Entsprechend der Biegung der Rippen war das Dach leicht gewölbt und gewährte dem Regen leichten Abfluß.

Das Innere des Hauses zerfällt im ganzen in drei Räume. Von der Breitseite durch die Tür (= theburth) gelangen wir in den Wohnraum (=acharn), der in der Mitte das Feuerloch (=känun), links eine mit Krügen besetzte Lehmbank (die likthar) und rechts die Bank für die mächtigen Speicherurnen (= akufin oder akufi; Plur.: ikufän) aufweist. Diese Speicherurnen bergen einen Teil der Getreideernte. Das Getreide wird von oben hineingefüllt. In der Mitte der tonnenartigen Gestalt ist eine Öffnung (= tatirtoscha), die mit einem Pfropfen aus Rinde (= legham) verschlossen ist. Hier fließt beim Öffnen der Hausfrau der Tagesbedarf zu. Es sei gleich betont, daß auch heute noch die Kabylen nicht ihre gesamten Vorräte in diesem Akufin aufbewahren. Sie haben vielmehr draußen in den Farmen und in versteckten Gegenden noch Silos. Das sind trichterförmig nach unten sich erweiternde Speichergruben (=thitheraphin; Sing.: thetheräft), auf die ich später noch zurückkommen werde.

Am Fuße der Akufin-Urnenbank (= tedequant) sind drei Öffnungen, neben ihr eine große, nach unten führende, über ihr eine kleine, nach oben leitende, fensterartige Tür. Die kleine letztgenannte, fast lukenartige Öffnung führt in das Tarischt, das ist das über dem Viehstall errichtete Pfahlbett, die große Tür aber in den vertieft angelegten Viehstall, in dem das Rindvieh und die Esel stehen und ihre Köpfe durch die Fensterchen am Fuße der Urnenbank stecken.

Das so entworfene Bild wiederholt sich im wesentlichen in allen echten Kabylenhäusern alten Stils. Zuweilen sind Urnen und Wände bemalt, zuweilen nicht. Zuweilen ist an der Wand gegenüber der Eingangstür (also zwischen der Urnen- und der Krugbank) noch ein Bortbrett (= tethkthars) angebracht. Die drei Fensterlöcher in der Urnenbank (=methaueth; Sing.: methueth) liegen zuweilen etwas höher, zuweilen etwas tiefer. Das alles sind unwesentliche Spielformen, ebenso wie es auch vorkommt, daß das Hausgestell statt zwei, drei oder gar vier Längsbalken hat und demnach statt mit vier, mit sechs und acht Säulen ausgerüstet ist.

Ein großer Teil der äußerlich so einfach und übersichtlich erscheinenden Häuser birgt aber noch ein Geheimnis, die Baerka. In der Krugbank befindet sich in solchen Fällen eine Öffnung, die



Atlantis Bd_01-021 Flip arpa

für gewöhnlich mit einem der wunderschön bemalten Krüge zugestellt ist, so daß ihr Vorhandensein dem flüchtigen Beschauer entgeht, was ganz der Absicht der Bewohner entspricht, denn diese Öffnung führt in die sich gleich den Silo, trichterförmig erweiternde Baerkagrube, d. i. aber das geheime Versteck, in dem nicht nur die wichtigsten Kleinodien der Bewohner aufbewahrt, sondern auch wohl liebe Menschen vor den der Blutrache folgenden Nachbarn, in neuerer Zeit auch vor den Franzosen flüchtende Deserteure und sonstige Schützlinge tagsüber vor den Augen der Welt versteckt gehalten werden.

Damit ist das Geheimnisvolle aber nicht erschöpft. Als ich bei der Märchenforschung bestimmte Vorgänge des Kabylenlebens mit diesem Architekturbilde in Einklang zu bringen suchte, wollte mir das nicht gelingen, und einem spontanen Einfall folgend, nahm ich mir eines Tages den vertrauenswürdigsten meiner alten Berater beiseite und sagte ihm auf den Kopf zu: es müsse in alten Kabylenhäusern noch einen größeren unterirdischen Raum als nur diese Baerkagrube geben. Der Mann wurde verlegen. Meiner Beweisführung war nicht gut zu widersprechen und am andern Tage schon waren wir wieder nach Ait Bou Mahdi unterwegs, wo ich allerdings nicht ganz ohne Gefahr - die Kabylen sind leicht erregt und zeigen in der Erregung unberechenbare Zornausbrüche - dann die Baerkaanlage aufnehmen, konnte, die ich in dem zweiten Architekturbilde zur Darstellung brachte und die sein Inhaber als das wertvollste Geheimnis seines Hauses bezeichnete (siehe Tafel 3).

Wie aus dem Plane zu ersehen ist, stellt diese Baerkagrube einen vollkommenen Kellerraum dar, der genau unter dem Wohnraum liegt, dessen Dach wie der Oberraum von einem Säulensystem getragen wird und in den man auf zwei Wegen gelangen kann. Einmal kann man ihn nämlich auf einem rampenartig vom Viehstall herabführenden Weg erreichen; dann aber kann man auch wie in die gewöhnliche Baerkagrube durch das Loch in der Krugbank, und zwar mittels eines Kerbbaumes, zu ihm herabsteigen. In solchen Baerkagruben, die sich übrigens durch eine geradezu fürchterliche Luft auszeichnen (nicht nur die Ausscheidungen des Viehes sickern hier herab, sondern auch die Abflüsse der außerhalb des Hauses angebrachten Aborte schischura fanden in dem mir bekanntgewordenen Falle in den baerka oder der'b genannten Raum statt), können natürlich eine ganze Reihe von Menschen und ganze Viehgruppen für einige Zeit verborgen gehalten werden. — Diese Der'b



Atlantis Bd_01-022 Flip arpa

sind eine uralte Einrichtung der Kabylen. Früher war wohl auch die primitive Ölmühle, die thetheraft, dort unten gelegen, und dann führte der Raum den Namen tibaerkischt.

Die Entdeckung des Der'b regte meine Überlegungen an. Die ersten Stücke der Schöpfungslegende führte mein Axiom fast zur Sicherheit und zur Überzeugung der Tatsächlichkeit. Die Unterhaltung floß, und die Worte l'harar authirilt und ighranione (Plur.: aagromonth) fielen. Es war kein Zweifel mehr: Auch die heutigen Kabylen haben noch unter der Erde gelegene künstliche Wohnstätten.

Ich muß mich aus verschiedenen Gründen heute noch damit bescheiden, nur einige erste Mitteilungen über diese Bauten zu machen, von denen mir zwei persönlich bekanntgeworden sind.— Es gibt außer den ursprünglich vorhandenen und lediglich künstlich erweiterten Höhlen = rhera (Sing.: rha) unterirdische Wohnungen, die in die Böschung flacher Hügel hineingegraben wurden. Eine solche l'harar-dauthiilrt hat zwei Eingänge, nämlich eine Tür, die vom Tal aus zu ebener Erde in die Wohnung leitet, und ein Einsteigeloch, das durch einen schrägen Kamin vom oberen Teil des Hügels über eine Korbleiter hinabführt. Die Anlage ist also genau die gleiche wie bei einem Winterhaus der Eskimos oder bei jenen Stämmen des Innern Kleinasiens, die Xenophon und seine Begleiter der Anabasis in reges Erstaunen versetzten. Die eine der unterirdischen Wohnungen der Kabylie, die ich kennenlernte, war nichts weniger als ein "finsterer Höhlenschlupfwinkel". Die Wände waren wundervoll geglättet und gefärbt. Die Nebenkammern waren zierlich geschmückt, die Durchgänge sorgfältig behandelt. Die Kabylen lernte ich als Troglodyten achten. Vom Begriffe unserer Räuberhöhlen war hier nichts, aber auch gar nichts. Dagegen war für etwaige Sorgenzeiten mit einem fast überreichen Komfort vorgebeugt. Die Luft hatte nichts von dem üblen Zustande in dem Der'b Ait Bou Mahdis.

Diese unterirdische Bauweise, die in der Kabylie so sorgfältig geheimgehalten wird, ist in der Berberei eine weitverbreitete gewesen. Die Höhlenbauten in den Bergen von Gurian in Tripolis sind bekannt. Im Medjordatale Tunesiens, sowie bei Silla lernte ich Reste kennen, in Marokko sind sie vorhanden, und ein anderes Mal werde ich den Beweis führen, daß dieser Höhlenbaustil vielen Oasenarchitekturen das Leben gegeben hat. — Nirgends aber ist der Stil so gut, so edel und die Ausführung bis ins Detail so glänzend



Atlantis Bd_01-023 Flip arpa

erhalten wie bei den Kabylen. Nirgends hat außerdem eine so merkwürdige Verschmelzung dieses Tiefbaustils mit einem Hochbaustil stattgefunden wie z. B. in dem wiedergegebenen Hause Ait Bou Mahdis.

Wenn so die eine Urform der zwei Stilarten klargelegt ist, so soll nun auch der anderen, der Hochbauform ein Wort gewidmet werden. —Nachdem ich die verschiedenen Architekturen von Tirual und Ait Bou Mahdi aufgenommen hatte, kam ich im Jahre 1914 in eine eifrige Unterredung mit meinen kabylischen Beratern. Das Problem, das bis zum ernsten Disput erörtert wurde, gipfelte darin, ob ursprünglich mehrere und zwei, eine ungerade und eine gerade, Zahl von wagerechten Balken dem Gerüst des Daches als Gerüst gedient hatte. Damals schon notierte ich die technische Bezeichnung akebole; Plur.: i(e)kueber, ohne erraten zu können, was damit gemeint sei. Erst im Jahre 1917 wurde mir seitens meiner damaligen Schützlinge vollkommene Aufklärung.

Ich habe von jeher die Beobachtung gemacht, daß fast alle Völker zwei verschiedene Hüttenformen haben, eine, die für ständigen Gebrauch und eine andere, die auf der Wanderschaft eilig und nur für kurze, oft nur einnächtige Hausung errichtet wird. Oft, wie z. B. bei den Fulbe, sind beide Hüttenformen nach dem gleichen Prinzip gebaut und unterscheiden sich nur durch angewandte Sorgfalt und Maßgebung. Viel häufiger aber ist der Fall, daß beide Hüttenformen verschiedenen Stilprinzipien ihr Dasein verdanken. Bei den Berbern nun konnte ich überall zwei Stile erkennen, den für die feste Siedlung (in kubischem Holzgestell und Stein- bzw. Luftziegelbau) und den für die Wanderschaft. Heute haben sich auch die Berber für die Wanderschaft mehr und mehr das arabische Wollstoffzelt angeeignet, und nur verhältnismäßig selten noch errichten sie ihre "alten Gurbis", wie die Strohwanderhütten von den Franzosen genannt werden.

Die alten Berbergurbis waren durchaus eigenartig; sie bestanden dem Innenbau nach aus zwei etwa 1 1/2-3 Meter voneinander entfernt aufgerichteten, oben gabelförmig auslaufenden Holzsäulen, in deren Gabelung oben ein Querbalken wagerecht gelegt wurde. Dieses einfache Gerüst bietet der ganzen Hütte Halt, ist das A und das Z der Tektonik. Hierüber werden, nach den Seiten im rechten Winkel zur Richtung des Mittelbalkens, nach vorn und hinten aber bogenförmig abschließend, gebogene Ruten gebunden, deren Enden in den Boden gesteckt werden. Auf diese Weise entsteht eine ovale



Atlantis Bd_01-024 Flip arpa

Hütte; die ovale, dann und wann durch eine schneckenförmig die Tür aussparende, etwa 1/2 -I Meter hoch aufgerichtete Wand aus Steinschichtung modifizierte Form ist das Grundprinzip der alten Berberhütte, von der ich mit Bestimmtheit sagen kann, daß sie in vorgeschichtlichen Zeiten nicht nur als Wanderhütte mit Holzgebälk, sondern auch als ständige Hausung mit Steinsäulen Verwendung fand. Denn ich fand mehrfach Ruinen entsprechender Art.

Das tektonische Gerüst, bestehend aus den zwei Gabelsäulen und dem Querbalken, das ich in wörtlicher Übersetzung aus dem Arabischen als "Galgen" bezeichnen will, hatte nun früher bei den Berbern (nicht aber anscheinend bei den Arabern) eine gewisse mythische Bedeutung. Im Aures hörte ich einmal das Sprichwort: "Wer mit dem Blutsfeind gemeinsam nur einmal unter einem Galgen hinging, darf ihm nichts mehr antun." Dabei ist es gleichgültig, ob es nur der "Galgen" eines Gurbi oder der eines Kartenhauses ist. Es genügt sogar, daß es der "Galgen" ist, der hier und da bei Steinhäusern als Türrahmen dient. Anderweitig bringt man Amulette am "Galgen" an, die dem unter ihnen weg Schreitenden Gutes oder Böses zufügen, die ihn schützen oder ihm Leid antun. Besonders wichtig war es früher, daß einige Ährenbündel von dem Saatkorn an einem "Galgen"aufgehängt wurden, das brachte allen darunter Weilenden Segen.

Alle diese Formen des Galgenglaubens sind sogut wie ausgestorben genau wie der Galgen selbst. Das ist ganz natürlich. Denn in den Berberländern verschwindet ja mit der ganzen Pflanzendecke auch mehr und mehr das für Galgenherstellung geeignete Holz. Das Dach wird demnach immer häufiger von den Mauern als von Gabelstützen getragen. — Dieses alles muß ich voraussenden, um das Nachfolgende verständlich zu machen.

Im Jahre 1917 ließ ich mir nun von meinen kabylischen Schützlingen allerhand Zeichnungen anfertigen, so auch von Häusern und Hütten. Schreibkundige Jünglinge setzten dazu Listen der zugehörigen kabylischen Worte auf. Wie erstaunte ich nun, als ich das mir schon seit längerem bekannte Wort akebole; Plur.: i(e)kueber vorfand, und zwar diesmal als Bezeichnung für das mir bekannte ovale Berbergurbi mit Galgenkonstruktion. Der Galgen wird hier meist von zwei, zuweilen aber auch von drei oder fünf Gabelsäulen gebildet, und in solchem Falle ist dann die mittelste höher als die andere. Der von den Gabelbalken getragene Firstbalken, der Atheleth; Plur.: ithuleth galt nun den alten Kabylen



Atlantis Bd_01-025 Flip arpa

als Hauptstück des Hauses, und ich konnte eine kurze mythologische Notiz einsammeln, der zufolge der Galgen und im speziellen "der Atheleth der Vater des Hauses ist, der früher tatheleth (also weiblich!) hieß und sich mit den ishgua (den Gabelstützen) geschlechtlich vereinigte".

Damit ist ganz klar erwiesen, daß sogar nach der mythischen Auffassung das übliche Acham-Haus, der kabylische Hochbau, sich aus der Ovalhütte entwickelte, daß also der Galgen als Grundprinzip durch mehrmals nebeneinander gesetzte Wiederholung zu dem kubischen Kabylenhaus führte. Aber nicht nur diese. Auch der Schneckengang der Berbergurbi hat sich im Grundplan erhalten. Wenn im Gurbi mit Vieh gelagert wurde, trieb man letzteres nach rechts hinein und lagerte links. Genau ebenso liegen heute im Kabylenhaus Viehraum und Wohnraum zueinander und die nach rechts in den Viehstall mündende Tür entspricht dem alten Schneckeneingang.

Kehren wir nun zurück zu dem Plan des Hauses von Ait Bou Mahdi.

Hier haben sich die beiden Bauprinzipien der Berberländer, das des Tiefbaues und das des Hochbaues, miteinander vereinigt. Der in seiner Art ungemein sachlich und zweckmäßig ausgebildete Hochbau enthält noch alle Anzeichen der Entwicklung aus der ursprünglichen Wanderhütte. Es ist nicht, wie bei den anderen Berbern, ein kümmerliches, charakterloses Kartenhauswesen daraus entstanden, sondern ein durchaus eigenartiges, stilvolles Gebilde. Im Tiefbau aber sind sowohl der seitliche Flachgang wie der kaminartige Einstieg erhalten.

Was bei den anderen Berbern verkümmert oder untergegangen ist und in gleichgültigen, abgeflachten Formen ausfließt, hat bei den Kabylen stilreine Weiterbildung erfahren. Das Aussterben auf der großen Fläche des Berbertums einerseits und das enge, kraftvolle Sich-Zusammendrängen in der Kabylie tritt hier noch deutlicher zutage. Es ist, als ob eine große, weitverzweigte Pflanze ausgeblüht hat und hinstirbt, vor dem Untergang aber alle ihre Lebenskraft noch in einem Samenkorn zusammenfaßt, das "die Art" erhält.

Und dann: Wie klar lebt in der Schöpfungslegende die Erinnerung an die Entwicklung des Bauwesens weiter! Unter der Erde, im Erdhöhlenhaus, lebten die Ureltern; erst eine jüngere Generation baute oberirdisch. Wie tief wurzelt hier geschichtliches Wesen und Wissen!


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt