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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Die Kabylenkultur, zusammengedrängtes Berbertum 1. Felsbilder und Götter

D De Frage nach dem Alter und den ursprünglichen Außenbeziehungen der Berber Nordafrikas als Träger einer Kulturform und Vertreter mehrerer heute ausgestorbenen Kulturformen hat schon viele gelehrte Männer beschäftigt und untereinander bedeutend abweichende Antwort erfahren. Das ist ganz selbstverständlich. Denn jeder Wanderer, der die heute zum größten Teil unwirtlich gewordenen Länder Nordafrikas durchstreift, trifft hier auf ganze Lager alter Steinwerkzeuge, dort auf große Zeichnungen, die in den Felsen gegraben sind, überall aber in verhältnismäßig geringen Abständen auf Gräber, ja auf regelrechte, teilweise tausende von Monumenten umfassende Kirchhöfe prähistorischer Zeit. Dazu kommt die ungeheure Ausdehnung der Berbersprachen, die nicht nur in Nordafrika einen gewaltigen Bezirk ausfüllt, sondern auch einen merkwürdigen, dort allerdings ganz isoliert auftretenden in dem auch durch Felszeichnungen ausgezeichneten Südafrika hat.



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Feiszeichnung am Djebel Bes-Seba Nach Originalzeichnung von Carl Arriens
Feiszeichnung von Ksar-Amar Nach Originalzeichnung von Carl Arriens



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Bedenkt man hierzu noch, daß viele dazu neigen, die in Südfrankreich und Spanien (in den Pyrenäen) wohnenden Basken als Reste einer alten europäischen Berberbevölkerung aufzufassen, so ergibt sich, daß dieses Problem der Berber in der Tat sowohl in Anbetracht seiner räumlichen Ausgedehntheit wie in seiner zeitlichen Tiefe eine ansehnliche Stellung im Gesamtgebiete kulturgeschichtlicher Fragen einnimmt.

Wie es vielleicht möglich ist, dem Verständnis für diese Dinge näherzukommen, soll an einem Beispiel gezeigt werden.

Unter den teils gewaltigen Felszeichnungen der Atlasländer fallen zwei mehrfach wiederkehrende Motive besonders auf: die Darstellung gewaltiger Büffel und die, bedeutungsvoll durch Haarzierde und Halsschmuck gekennzeichneter Widder. An beiden Bildern läßt sich nämlich auch heute noch fast immer erkennen, daß vor diese Tiere eine menschliche Gestalt gesetzt ist, die die Hände wie zum Gebete erhoben hat. Widder und Büffel treten anscheinend niemals gemeinsam auf. Entweder ein Büffel oder ein Widder, jedesmal mit dem betenden Menschen, stellt gewissermaßen den Mittelpunkt einer Reihe von Schilderungen dar, die ohne irgendwelche besondere Anordnung um diese Hauptgestalten gruppiert waren, wahllos und gewissermaßen "ornamental" die nackten Felsen belebend.

Unter den Felszeichnungen sind mit Leichtigkeit drei Altersschichten zu unterscheiden. Die Darstellungsart (d. h. die Technik sowohl wie ihr Stil), die Verschiedenartigkeit der Gegenstände und endlich die sie überziehende Alterspatina sind so charakteristisch, daß in jedem Falle die Zugehörigkeit sichergestellt ist. Aber nur die älteren Zeichnungen sind wirklich monumental, im Gesamtbilde der Natur, d. h. großzügig und gewissermaßen aus ihrem Wesen, aus ihrem Bau herausgewachsen. Die Schilderungen und Kritzeleien jüngerer Zeit sind dagegen wie kleinliche Zutaten zur Wesenheit der Umgebung. Die Menschen, die die älteren monumentalen Bilder schufen, waren eins mit dieser Natur, waren in ihren Empfindungen, in ihrem Erleben so groß wie jene selbst. Die Darsteller der jüngeren Bildersprachen waren diesen Ländern und ihrer Art "zugefügt".

Die Büffel- wie die Widdergruppen gehören lediglich der ältesten Zeichnungs- und Darstellungsperiode an. Sie sind unmittelbare Äußerungen eines gewaltigen Schöpfungs- und Naturempfindens, wie es unserer Zeit fremd geworden ist. Die heutigen Berber und



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noch weniger Araber verstehen diese Schilderungen nicht, letztere sind ja - was nicht genügend betont werden kann - überhaupt kaum fähig, Bilder zu erkennen, d. h. Flächendarstellungen bildmäßig zu sehen, sind also hier vor unlösbare Rätsel gestellt. Die Felsen mit Zeichnungen sind ihnen einfach hedschera magtuba — beschriebene Felsen. Also sind alle Stämme des Sahara-Atlas und auch die der südlichen Länder nicht imstande, über die Bilder etwas auszusagen. Ihnen allen ist diese Welt längst untergegangen und so fern und undurchsichtig wie uns selbst.

Das gilt für alle heutigen Nordafrikaner - bis auf die Kabylen. Sie - diese Kabylen wissen heute noch von dem Wesen dieses Bildbüffels und dieses Bildwidders der Urzeit!

Die große Schöpfungsmythe (vgl. das Stück Nr. 3) schildert, wie der Urbüffel in der wilden Felsenlandschaft umherirrt. Sie schildert, wie aus dem Samen des Büffels die jagdbaren Tiere erwuchsen. Sie erzählten dann aber auch, daß dieser Itherther, im Felsen dargestellt, als Bild heute noch bei Haithar mit Menschengestalten zusammen erhalten ist, und sie schließt diesen Abschnitt mit der Angabe, daß früher, will sagen bis zum Zeitpunkt der endgültigen Siege des Islam, die Kabylen vor Antritt der Jagd in der Samenschale Itherthers opferten.

Das Stück Nr. 5 der kabylischen Schöpfungsmythe handelt von dem Widder, so daß wir hier auch für die Bildwidder, eine fast erschöpfende Erklärung finden.

Schon einmal (im Jahre 1912 in dem Werke "Und Afrika sprach" wissenschaftliche Ausgabe Bd. 1, S. 249ff. und S. 382ff.) habe ich mich mit dem Problem der prähistorischen Widderbilder und den Resten afrikanischer Widdermythen beschäftigt. Schon damals wurde eine Beziehung klar zwischen dem am Mahlstein naschenden Sonnenwidder und den Elementen alter Weltvorstellung. Nun aber fand ich seitdem bei den Kabylen dieses Stück 5 der Schöpfungsmythe, demzufolge bei ihnen der erste Widder direkt am Mahlsteine entsteht. Hier nun ist der vollkommene Zusammenhang geboten: Der Widder bringt die Gliederung des Jahres mit sich; mit seinem Auftreten werden die Feste eingeführt. Dieser Widder stirbt aber nicht. Er stößt umherirrend und den Djurdjura erklimmend mit dem Kopf gegen die Sonne und läuft seitdem mit der Sonne zusammen umher. Auch von ihm ist ein Felsbild oberhalb Haithars vorhanden, das im Laufe der Zeit anscheinend verwitterte. Vor dem Widder war ein Mensch abgebildet, "der wie



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die andern Menschen nach der rechten Zeit für Saat und Ernte fragte".

Was diese Kabylen, die nichts von den Felsbildern des Sahara-Atlas ahnen, hier schildern, ist nichts anderes wie das lebendige Leben jener uralten Werke, ein lebendiger Wesenszug jener sonst untergegangenen oder zerflossenen Welt. Damit ist der Beweis dafür erbracht, daß der Schmuck auf dem Haupte der Widderbilder in der Tat, wie früher schon geahnt, die Sonne darstellt. Denn der aufsteigende Widder stieß ja mit dem Kopfe gegen die Sonne und läuft seitdem mit ihm umher. Fernerhin ist damit aber auch noch Wichtigeres klar geworden: Wie der wilde Büffel Itherther Urherr der Jagdtiere und damit der Gott der Jäger wurde, so ist dieser Widdersonnengott der Regler des Feldbaues und der Gott der Ackerbauern. Denn er geht nicht nur aus dem gemahlenen Korn empor, er ordnet nicht nur die Jahresfeste, er wird auch in Opfer und Gebet angegangen, wenn es sich um die Bestimmung des Zeitpunktes der Saat und Ernte handelt.

So ist denn in diesem kleinen Kabylentum, in dieser lebendigen und in der Zusammengedrängtheit um so geschlossener erhaltenen Art des Berberwesens das erhalten, was auf den Riesenflächen der einstigen Verbreitung ausstarb. Hier lebt noch eine uralte Weltanschauung, lebt vor unseren Augen! und wenn wir es verstehen, dieses Lebendige mitzuerleben, dann kann es in diesen wie in anderen Fragen gelingen, die Blutwärme längst verstorbener Pulsschläge zu fühlen.

Denn macht euch einmal klar, was es heißt, daß unter diesem lebendigen Atem der kabylischen Weltanschauung die vielen Jahrtausende alten, seit Jahrtausenden dem Menschen unverständlich, fremd und tot gewordenen einsamen Felsbilder der Öden des Sahara-Atlas wieder zu sprechen beginnen! Bedenkt, was es heißt, daß auch dem grauen Altertum das, was sich heute uns enthüllt, ein Rätsel war: Denn:

Westlich des altehrwürdigen Ägypten liegt und lag auch schon den Alten als eine Stätte besonderer Andachtspflege die Oase des Jupiter Ammon, des widderköpfigen Sonnengottes. Aus der Ammonsoase empfingen die Ägypter diesen Dienst, diesen Glauben, diese Idee. Die Bewohner der Ammonsoase waren auch damals schon Berber. Diese Berber waren vor den Ägyptern Träger der Ammonsidee. Die Ägypter haben sie dann "veredelt". So zeigt sich, daß die Berber hierin als die Älteren das Ursprüngliche des hier verkörperten



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Schöpfungsgedankens gaben und von den Ägyptern her dann die Veredlung empfingen. Den Gehalt gab hier der Westen, die Form der Osten.

Und solche "ursprünglichen", schon dem alten Ägypten altehrwürdigen Ideen des heute sonst so gut wie zerflossenen Berbertumes sind bei diesen Kabylen in aller Gedrängtheit und in voller Lebenskraft noch vorhanden! Ist das nicht gewaltig? Hebt das nicht dieses Kabylentum weit über die Bedeutung eines kleinen Volkes bis zu einer eminenten Größe in Zeit und Raum empor?

Dabei ist die Lösung der Felsbilderfragen nur ein einziges Beispiel. Vieles und das Meiste zeigt gleiche Deutsamkeit. Sogleich soll noch ein anderes vorgeführt werden.

Die Kabylenkultur, zusammengedrängtes Berbertum
II. Gräberformen und Berufe

U Unter den Tausenden und aber Tausenden von Gräbern und Grabdenkmälern, die die einst sicherlich grüne und reich bewachsene, heute aber nur noch graubraune steinige Wüste der öden Atlasländer bedecken *, sind zwei Formen zu unterscheiden: einerseits Packbauten, die nur aus zusammengeworfenen, in entwickelterer Form aus zusammengelegten Steinmassen bestehen, andererseits Standbauten, die aus kistenförmig aufgestellten und aufgelegten Steinplatten errichtet sind (vgl. L. Frobenius: "Der kleinafrikanische Grabbau" 1916). Packbauten wie Steinkisten zeigen verschiedene Spielformen, repräsentieren aber zwei verschiedene Stile, die dann und wann wohl einmal ein Ineinander-übergehen zeigen, im allgemeinen aber doch getrennt auftreten, nebeneinander leben und eigene Entwicklungslinien bilden. Von den Packbauten wissen wir mit Sicherheit, daß sie stets oberirdisch waren, d. h. daß sie um die auf die Oberfläche der Felsen in Hockerform gebetteten Leiche errichtet wurden. Von den Kistenbauten oder Dolmen wissen wir das nicht so genau. Vielfach steht heute die Kiste auf dem nackten Felsboden und ragt als Dolmen frei in die Luft. Das innere zeigt aber eine in Erde gebettete Leiche, so daß es sehr wohl möglich ist, daß diese Steinkisten vordem in eine Erdschicht, die über der Felsdecke lagerte, gesenkt wurde, daß die Erde zwischen den Dol*



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men dann aber mit zunehmendem Aussterben der Vegetation weggeschwemmt wurde und nur im Innern der Kisten durch die Dolmenwände erhalten blieb. Fernerhin sind beide Grabstile noch dadurch unterschieden, daß da, wo es sich um primitivere Entwicklungsformen handelt, die Packbauten einsamer, nur in Nekrokomeen, die Dolmen resp. Steinkisten gleich in Massen, in Nekropolen auftreten. Zum Schluß endlich hat jede der beiden Bauweisen noch eine Eigentümlichkeit. Die Packbauten zeigen häufig, wenn auch nicht immer, im Innern oder Äußern eine stehende rohe Steinsäule das Steloid. Die Kistengräber aber haben hier und da für sich die Eigenart eines Opferloches oder einer Opfernische. Ungemein selten, ja so gut wie nie wechseln die beiden Stilformen diese Eigenarten miteinander aus. Nur dann, wenn Mischungen eintreten, geht mit diesen Beziehungen auch das Einzelsymptom der Steloide oder der Opfergrube mit in den andern Formkreis über.

Schweigend und verödet lagern die verschiedenen Entwicklungstypen in den weiten Berberländern. Kein einziger Berber vermochte das in ihnen verkörperte Rätsel durch irgendeine wesentliche Angabe zu lösen. Die Kabylen allein bilden eine Ausnahme.

Ich muß sagen, daß mir die Kurzsichtigkeit der europäischen Beobachter stets ein größeres Problem war als die Wirklichkeit verblüffender völkerkundlicher Erlebnisse. So auch hier. Der Literatur nach bestatten die Kabylen genau nach islamischem Ritus und sind also ihre Gräber von denen anderer islamischer Völker nicht verschieden. Demgegenüber die Tatsachen.

Wer in Beni Yenni, also im westlichen Teile der Kabylie oder bei Bougie im östlichen die alten Kirchhöfe besucht, findet vor allem alte Steinplattendecken. Sie liegen nicht sehr fest, und werden sie nur ein wenig von der sie verklebenden Erde befreit, so zeigt sich dem Blick oftmals eine Höhlung, die durch Wegsacken der Erde entstanden ist, und jenseits des also leeren Raumes eine zweite Steinpiattenlagerung, eine zweite Steinkiste.

Es zeigt sich nun also, daß der eigentliche Kabyle in einem doppelten Steinkistengrab beigesetzt wird. Die eine Kiste ruht auf dem felsigen Grund. Zwischen ihr und einer zweiten über sie gedeckten oder vielmehr sie umfassenden ist Erde geschüttet, die aber allerdings häufig im Laufe der Jahre vom Regen weggespült wird, um so eher, je weniger eng die Deckplatten sich mit den Kanten aneinanderfügten. Die Länge der äußeren Kiste beträgt zwischen 190 und 230 Zentimeter, ihre Breite zwischen 55 und 100 Zentimeter. Die



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Platten waren in Beni Yenni 4-6 Zentimeter stark, weiter östlich aber, der dortigen natürlichen Steinschichtung entsprechend, dicker. Die Kanten der äußeren Kiste, d. h. die Stand- und Seitenfelsplatten, ragten ca. 15-30 Zentimeter, je nachdem das Terrain stärkere oder geringere Neigung zeigt, d. h. also das Erdreich leicht oder gehindert abgeschwemmt wurde.

Das Interessanteste aber ist, daß alle alten Gräber ein von der oberen in die untere Kiste führendes Loch aufwiesen. Dieses Loch heißt leghar-raby (sprich l'erar rabi), d. h. "Loch Gottes". Bei den Männergräbern war das Gottesloch rechts, bei den Frauengräbern links vom Kopfe angebracht. Dies Loch, oder besser dieser kleine Kanal, wurde offen gehalten. Für gewöhnlich wurde er gegen den Regen mit einem flachen Stein bedeckt, bei bestimmten Gelegenheiten, d. h. zumal bei Saat und Ernte, aber durch Wegnahme des Steindeckels enthüllt. Wenn auch sonst wohl Geld und gelegentlich sogar Schmuckstücke diesen Weg hinab den Toten zugeführt wurden, so war das mehr einem persönlichen Wunsche oder Bedürfnis entsprechend. Eine große Rolle spielte das l'erar rabi vor allem bei allen dem Fruchtbau gewidmeten Zeremonien. Von der ersten Ernte wurde ein Anteil den Toten hinabgegeben, und zur Saat wurden von dem Fell des geopferten Widders kleine Säckchen gemacht, die, mit Teilen des Saatkorns gefüllt, den Toten hinabgesandt wurden. Sehr sorgfältig achtete der opfernde Sippengreis aber darauf, daß keinerlei Spur von Blut an dem Widderfellstück war. Denn das Blut wäre für die Erde eine Kränkung und Verunreinigung gewesen, die eine absolute Mißernte zur Folge gehabt haben würde.

Blut und Feldbau waren etwas, was sich für die alten Kabylen gegenseitig gewissermaßen ausschloß. Deshalb wurden die Männer, die als Jäger große Erfolge hatten, also einem blutigen Handwerk obgelegen hatten, ebenso wie Schlächter gern etwas abseits der andern, in "einem stillen Winkel" des Kirchhofs beigesetzt.

War nun aber gar ein kühner Jäger - was in alten Zeiten, als noch Büffel, Mufflon und Gazellen die hohen Gebirge belebten, häufig eintrat -auf der Jagd verunglückt und zu Tode abgestürzt oder gar im Kampf mit einem Tier getötet, so wurde er um alles nicht auf dem allgemeinen Kirchhof beigesetzt. So lange ein Jäger lebte, wurde er geachtet, und war er ein tapferer und erfolgreicher Mann, dann wurde er sehr geehrt und spielte im Männerrate eine große Rolle. Denn es galt als ein kühnes Unterfangen, sich mit dem "Handwerke des Blutes" zu befassen. Es gehörte eine schwierige



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Zauberkunst dazu, Blut fließen zu lassen und doch nicht der Rache des Blutes anheimzufallen. Der Jäger füllte ein wenig Blut von jedem Tier, das er erlegte, in ein Gazellenhorn oder Muffionhorn. Dies Horn nahm er vor jedem Jagdzuge mit zu einer (oder der?) Opferstelle in den Felsen, schüttete es mit bestimmten Zutaten über die Opferschale aus und bat um Wiedererstehen des getöteten Tieres und um gütiges Vergeben lebendiger Blutschuld. Das war alles sehr umständlich und gefährlich. Es gehörte ein großes Wissen von Bannsprüchen und Namenszauber dazu. Denn die das Gebirge und alles Jagdgetier wie auch die Nacht beherrschende Gottheit leitete je nach der Anrede verschiedene Schicksalswege dem Menschen wie seinem Opfer.

So lange ein Mensch lebte, der solchem gefährlichen Berufe sich hingab, war es eine Ehre, ihn neben sich zu wissen, verlieh seine Gegenwart sogar ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Denn seine Bannsprüche mußten stark sein. Aber wenn er seinem Berufe erlag, so war es klar, daß er im Kampfe mit den Blutwesen unterlegen war. Mit seinem Tode war es erwiesen, daß die Rache des Blutes ihn verfolgte. Man konnte nicht wissen, wie weit. Die Lebendigkeit der Rache war offensichtlich, und die Macht des schützenden Zaubers war durch seinen Tod gebrochen.

Mit dem der Rache des Blutberufes verfallenen Leichnam wollten die feldbauenden Kabylen nichts zu tun haben. Deshalb wurde ein solcher Toter oben in den Felsen, im oberen Gebirge, im Jagdgebiet möglichst nahe der Stelle, wo der Tod ihn erreicht hatte, bestattet. Eine Bestattung in unserem Sinne war es allerdings nicht. Die Leiche ward mit Lederschnüren zu einem Bündel verschnürt anscheinend in Hockerform, aber das wußten meine Alten nicht so genau. Dann wurde eine rohe kantige Steinsäule aufgerichtet. An diese Steinsäule wurde er festgebunden*. Die Steinsäule hieß äther, Plur.: itheren. Aber das ist eine schwierige Sache, denn was äther ist, weiß wohl niemand genau. Man darf das Wort nicht laut aussprechen, und wenn man es flüstert, soll man wenigstens einige Getreidekörner in den Mund nehmen, die sowieso einen guten Schutz bieten für alle die Jäger, die ihrem toten Kameraden die letzte Ehre erweisen? — nein, das bedeutet die ganze eigenartige "Bestattungsart" nicht; sie bedeutet vielmehr, daß sie seine Seele



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da oben festbannen, daß sie nicht in die Weiler der feldbauenden Menschheit herabkommen kann und etwa die Rache des siegreichen Blutes mit dorthin bringe.

Diesem Gedankengang entsprach auch der fernere Verlauf der geheimnisvollen Bestattung. Zunächst ward das Zauberhorn des Jägers, in dem er seinerzeit vom Blut aller erlegten Tiere auffing und das anscheinend auch äther hieß —"aber wer von allen Heutigen weiß denn das noch so genau ?" — auf das Steinsteloid gelegt, und dann wurden um den an die Steinsäule gebundenen Toten Steine aufgehäuft, bis Säule und Leiche vollkommen bedeckt waren. Jeder einzelne, der an dieser still-schweigsam verlaufenen Zeremonie teilnahm, warf weggehend über die Schulter noch einen Stein auf den Haufen, um dann, ohne sich noch einmal umzusehen, schleunigst heimzueilen. Kam aber je ein Jäger oder sonst ein Mensch an solchem Ather-Grabe vorbei, so warf er schnell einen Stein dazu.

In alten Zeiten gab es in den hohen Bergen noch viele solcher Packgräber. Aber Regen und Gewitter, Eis und Schnee haben die meisten weggeräumt, ja, keiner meiner Freunde konnte mir mit Bestimmtheit sagen, wo noch eines erhalten sei. Sie meinten, mit dem Islam wäre auch ein großer Zorn gegen solche alten und schauerlich heiligen Stätten in das Land gekommen, und sicherlich seien viele Ather-Gräber von den fanatischen Priestern weggeräumt worden. Neue Gräber solcher Art seien aber seit Menschengedenken nur noch zweimal errichtet worden, als nämlich einige Kabylen einige Kolonisten wie Jagdwild getötet, dann an den Folgen des Kampfes aber zuletzt doch selbst gestorben seien. Jäger zu bestatten hatte man schon lange keine Gelegenheit; denn zum ersten wären die Feldbauern mit ihren Äckern immer weiter die Berge hinaufgezogen; hierdurch sei zweitens das Wild immer seltener geworden, und so seien denn drittens wegen der geringen Aussicht auf Erfolg die Jäger ihrem Berufe abtrünnig geworden und in das Tal gezogen, wo sie sich auch dem Ackerbau widmeten. Allerdings klebe noch die Rache des Blutgeistes an ihren Nachkommen. Diese früheren Jäger und heutigen Bauern brächten es heute so wenig zu etwas, 'daß es erstaunlich sei und in einem gewissen Grade direkt entgegengesetzt dem reichen Erfolge stehe, den ihre Altvordern als Jäger gehabt hätten.

Natürlich fragte ich meine Kabylen mehrmals, ob sie denn solche Familien namhaft machen könnten, deren Altvordern große Jäger



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kleines Kabylenhaus in Girual



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gewesen seien. Stets umgingen sie die Antwort, wie sie ja alles verheimlichen möchten, was mit dem furchtbaren Blutberufe zusammenhängt. Nur einmal bekam ich durch Zufall eine exakte Antwort, die der Sprecher denn auch sogleich bereute. Die Antwort lautete: "In jenem Ort sind viele Ithermaken; die sind alle dem Elend geweiht. Die haben nie eine Zukunft vor sich. Die werden nie Erfolg haben. Ihr Lebensweg führt stets abwärts. Denn alle Ithermaken sind Nachkommen der großen Jäger der Zeit vor den Irumen (der Römer)." Der Singular des Wortes Ithermaken ist Athermak, worin man leicht eine Beziehung zum Namen des alten Grabsteloids und Jägeramuletts erkennt. Das Verblüffende aber ist, daß mit Ithermaken alle jene Leute bezeichnet werden, die blauäugig sind und blonde Haare haben, die aber einen außerordentlich starken Prozentsatz bei den Kabylen und auch bei westlichen Berbern repräsentieren.

Mit diesen letzten Nachrichten - die ich als ganz besonderen Leckerbissen den Rassentheoretikern der anthropologischen Richtung vorlege -will ich den direkten Bericht über die alten Bestattungsweisen abschließen und zurückkehren zu meiner, zu unserer Fragestellung, die der Geistes- und Kulturbildung des in den Kabylen konzentrierten Berbertumes gewidmet ist.

Und da frage ich: Reißt hier nicht lebendige Sitte, lebendige Erinnerung, ein in die Überlieferung weiterlebendes Wissen mit einem scharfen Ruck all die Nebel beiseite, die sich seit dem Aussterben des Pflanzenlebens und der alten Lebensformen, ausgedrückt durch eine finster schweigsame Öde, über die Berberländer gelegt hat? Ist das, was weit verbreitet und in der weiten Verbreitung dann infolge allzu gestreckter Lebensmöglichkeiten erstarrt ist, hier nicht in erstaunlicher Zusammengedrängtheit so lebensstark, so lebensvoll, daß man das geistige Kabylentum als den Extrakt allen Berbertums bezeichnen kann?

Denn wie will je ein Forscher aus allerletzten und allerkunstvollsten Beobachtungen so feingegliederte Schlüsse ziehen, wie sie hier die lebendige Tradition bietet: die zwei Arten des Grabbaues, zwei Berufe, zwei Götter, zwei Weltanschauungen!


Copyright: arpa, 2015.

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