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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


Das aufsaugende Berbertum in der Gebirgskabylie

Der Djurdjura, ein gewaltiges Massiv, steigt östlich der Stadt Alger mit einer von ewigem Schnee und Eis bedeckten Spitze über 3200 Meter hoch empor. Tiefe Schluchten gliedern die Masse in Ketten und Reihen von Bergen. Die in 200-2000 Meter tiefen Schluchten abfließenden Wässer vereinigen sich im Sebau, der bei Dellis das Meer erreicht. Das Ganze ist ein Gebirgsland im wahrsten Sinne des Wortes. Die Berge der Kabylie sind aber auch ihrem Wesen nach und nicht nur ihren Dimensionen entsprechend gewaltig. Ihr Wesen aber ist so vollkommen unafrikanisch wie nur denkbar; das soll heißen: wer sich hiervon Palmen und Baumfarren, von Lianen und sonstigen tropischen Charakterpflanzen umgeben denkt, ist im Irrtum. Eichen, Eschen, Eukalyptus, in den Gärten: Wein, Feigen, Ölbäume über Weizen und Gerste sind hier das Bezeichnende. Oftmals, wenn ich die kabylische Landschaft durchwanderte, hat sich mir der Gedanke aufgedrängt, ob nicht etwa diese pflanzliche Welt der großen Kabylie ebenso der letzte Rest einer ganz Kleinafrika einstmals eigenen Lebensform ist, der in diesen Bergen seine letzte Zuflucht fand, wie die Berber, die einst ganz Nordafrika bevölkerten und nun in völliger geistiger Reinheit nur hier noch erhalten sind.

Die Kabylen, die diese Gebirge bewohnen, haben ihren jetzigen Namen nicht immer geführt. Das Wort Kabyle stammt aus dem Arabischen und bezeichnet die Menschen, die ihre Sippen dorfmäßig zusammenfügen. Der Legende nach hießen die Kabylen früher "Amathir" (Flur.: imathiren). Sie haben selbst aber den Namen so gut wie vergessen, und ich fand ihn nur so nebenbei in einem Bruchstück ihrer uralten Schöpfungsmythe. Der Name Amathir ist aber der gleiche, den alle alten Berbervölker führen und der auch noch in dem Ausdruck "Temaschirt"-Schrift der Berber



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erhalten ist. Dem Geist der Sprache und auch wohl der Rasse nach sind die Kabylen Berber wie alle anderen Festsässigen der Länder nördlich der Sahara. Aber sie haben in ihrem Wesen einen Zug, der sie von den andern ihrer Art trennt. Im vorigen Abschnitt zeigte ich das Hinschmelzen der Berber unter der arabischen Welle. Hier nun das Bedeutsame: Die Kabylen sind diesem Symptome nicht unterworfen; im Gegenteil: die Kabylen sind aufsaugende Berber!

Wir kennen verschiedene Araberstämme, die in die Kabylie verschlagen wurden; sie sind zu Kabylen geworden. Neger, Byzantiner (unter dem Namen suhaba), Römer (unter dem Namen aruma, Plur.: irumin), ja Franzosen sind in die Kabylie gekommen und zu Kabylen geworden. Ich betone: es handelt sich nicht um eine Hypothese, um einen oder mehrere Vorgänge der Vergangenheit und ganz und gar nicht um etwas Einmaliges oder Zufälliges. Hier stehen wir vielmehr vor einem eminent wichtigen Phänomen! Denn wie bedeutungsvoll ist dies: alle anderen Berber werden von einer jungen Welle resorbiert, so daß sie vor unseren Augen ihrer Art nach zerfließen; diese Kabylen aber sind die einzigen Berber, die ihre Art, ihr Wesen wahren und alles Fremde resorbieren!

Das Wichtige dieser Erscheinung wird sogleich verständlich, wenn wir nur das im Auge behalten, was ich im Anfange sagte: Das Berbertum ist eine Kulturform, eine Geistesart! Diese Geistesart ist innig verbunden mit pflanzenartiger Haftfähigkeit. Sie geht zugrunde, wo, wie in den meisten Länderstrichen Nordafrikas, die Kulturfläche schwindet und der Wüste Platz macht. Sie gedeiht ungestört und unzerstörbar weiter, wo durch die Natur der so weithin siegreichen Wüstenfortbildung eine Schranke gesetzt ist. — So bedeutet denn das Gebirgsland um den stolzen Djurdjura für mich gleichsam eine Insel, auf der sich der letzte Rest alten Berbertumes in seiner ganzen Art erhalten hat. Deshalb gilt das, was wir heute an den Kabylen noch feststellen können, nicht anders als: Wesenszüge jenes Berbertums, das zur Zeit einer noch nicht verdorrten und zerwüsteten Natur wohl ganz Nordafrika innehatte. Das Kabylentum bedeutet, von solchem Gesichtspunkte aus gesehen, also die Erhaltung einer uralten archaistischen Art. Es kann in seiner insularen Verbreitung in Parallele gesetzt werden zu jener kleinen Insel archaistischer Pflanzenformen, die nördlich der Kapstadt als Heimatsrest einer einst weit ausgedehnten Pflanzendecke erhalten ist. Dabei bedeutet mir diese Pflanzendecke, wie



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diese kabylische Kulturform nicht etwa nur (um es chemisch auszudrücken) eine Summe von Elementen, sondern hier wie da haben wir es mit einem "Körper" zu tun.

Und sicher: der kabylische Kulturkörper ist in seiner ehrwürdigen, uralten Art mit seinen archaistischen Ein- und Auswirkungen wohl erhalten, wenn im Laufe der Zeit auch noch so vielerlei junge Decken darüber geworfen wurden. Es spielt gar keine Rolle, ob den Trägern dieser Kultur ein paar hundert Vandalen zugefügt wurden, ob einige Tausend Römer, Byzantiner, Araber oder Türken und heute auch Franzosen dazukamen, ob das Altertum ägäische Kleiderformen, das Mittelalter den Islam und die Neuzeit moderne Bauteile zuführte. Unter dem neuen Gewande ist noch das alte Kleid erhalten; unter der Decke des Islam konnte ich noch die ganze alte berberische Schöpfungslehre, unter den aus Frankreich eingeführten Dachziegeln die alte Tektonik finden.

Unendlich Vieles und allerhand Fremdartiges ist dem Uralten zugefügt. Aber die kabylische Kulturform erweist sich bei jedem näheren Zuschauen als eine aufsaugende und stilbildende. Sie nimmt das Neue, baut es aber nach seinem seit uralten Zeiten eigenen Stil um.


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