Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Der Schafhirt und der Drache

Hoch in den Bergen, auf einer einsamen Alm, lebte einst ein Schafhirt. An schönen, warmen Sommertagen liebte er es, auf einem Baumstumpf zu sitzen und, von seinen friedlich weidenden Schafen umgeben, auf einer Flöte lustige Weisen zu spielen. Wenn er dann des Spielens müde geworden war, legte er sich aufs weiche grüne Moos, sah zum blauen Himmel empor und verglich die weißen kleinen Wölkchen, die in den Höhen schwebten, mit seinen Schafen, die zu hüten ihm ein kleiner Schäferhund half.

Eines Tages, als die warmen Tage ihrem Ende zugingen und die Zeit kam, um welche herum die Schlangen sich unter der Erde zur Ruhe begeben, lag der Schäfer wie gewöhnlich auf dem Boden, hatte die Arme hinter dem Kopfe verschränkt und sah verträumt um sich. Da plötzlich erblickte er eine große Menge von Schlangen, die alle langsam in einer Richtung demselben Ziele zustrebten. Das Ziel war ein Felsblock. Dort angelangt, riß jede ein Blättchen von einer Pflanze, die unter dem Felsen wuchs, ab. Mit ihren gespaltenen Zünglein hielten sie das Blättchen, berührten damit den Felsen, der sich öffnete und die Schlangen, eine nach der anderen, einließ.

Voll Staunen sah der Hirte diesem Treiben zu. Als auch die letzte Schlange in dem Felsen verschwunden war, erhob er sich vom Boden,



Bd-04-261_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

rief seinen treuen Hund herbei und befahl ihm, die Schafe in den Stall zu treiben.

>Ich will einmal nachsehen, welch merkwürdiges Kräutchen die Schlangen denn eigentlich pflückten und wohin sie dann verschwunden sind<, dachte der Schafhirt und ging zu dem geheimnisvollen Felsen.

Bald fand er die kleine Pflanze, die bisher seiner Aufmerksamkeit entgangen war, riß eine vom Boden ab und berührte mit ihr, dem Beispiel der Schlangen folgend, den Felsblock. Der Felsen öffnete sich und ließ ihn ein. Er befand sich nun in einer weiten Grotte, deren Wände von Gold, Silber und Edelsteinen funkelten. Inmitten der Grotte stand ein goldener Tisch, und auf ihm lag, in tiefem Schlafe zu einem Knäuel zusammengerollt, eine riesige Schlange, die eine Krone auf dem Kopfe trug. Auch um den Tisch herum lagen schlafende Schlangen.

Dem Hirten gefiel die prächtige Grotte, er schritt einigemal im Kreise herum, doch dann gedachte er seiner Herde und wäre gern zu ihr ans Tageslicht zurückgekehrt.

»Ich habe gesehen, was ich sehen wollte«, sprach er zu sich, »nun kann ich befriedigt nach Hause gehen!«

Dieser Entschluß war leicht gefaßt -doch war er schwer auszuführen! Wie sollte er denn den Eingang wiederfinden? Der Felsen hatte sich hinter ihm, als er eintrat, geschlossen, und es war ihm nicht in den Sinn gekommen nachzudenken, wie er wohl wiederum ans Tageslicht zurückgelangen könne! Was sollte er denn nun beginnen - wen fragen? Es war ja niemand da, der ihm seine Fragen hätte beantworten können, und so mußte sich denn der Schafhirt fügen und im Felsen eingeschlossen bleiben!

>Da ich ohnehin nicht heraus kann, will auch ich schlafen gehen!< dachte er, hüllte sich in seinen warmen Mantel ein, legte sich auf den Boden und war bald sanft eingeschlummert. Durch ein merkwürdiges Summen und Zischen im Schlafe gestört, öffnete er die Augen und sah die helleuchtenden Wände, er sah den goldenen Tisch, auf dessen Platte noch immer die große Schlange lag, um die herum es



Bd-04-262_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

nun von großen und kleinen Schlangen wimmelte. Sie alle krochen um den Tisch herum, den sie mit ihren spitzen Zünglein von allen Seiten leckten, und von Zeit zu Zeit riefen sie: »Ist unsere Zeit schon gekommen, Königin?«

Die riesige Schlange, die auf dem Tisch lag, blieb stumm. Geraume Zeit verstrich, und sie hob den Kopf und zischte: »Die Stunde ist da!«

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als sie wie ein Pfeil in die Höhe schnellte, vom Tische herunterglitt und sich, gefolgt von allen anderen Schlangen, zum Eingang der Grotte schlängelte.

Der Schafhirte rieb sich die Augen, streckte sich und gähnte. Dann erhob er sich und wollte den Schlangen ins Freie folgen.

>Wohin sie gehen, dorthin will auch ich gehen!<dachte er. Doch dies war leichter gesagt als getan! Die große Schlange berührte mit ihrer Krone den Felsen, der sich sogleich öffnete und die Schlangen herausließ. Als auch die letzte Schlange die Grotte verlassen hatte, gedachte der Schafhirt denselben Weg zu nehmen. Aber der Felsen schloß sich, ohne ihn durchschlüpfen zu lassen. Die Schlangenkönigin aber, die in der Grotte zurückgeblieben war, zischte mit pfeifender, wütender Stimme: »Oh, du neugieriger Menschenwurm! Du mußt hier eingeschlossen bleiben!«

»Was soll ich denn hier beginnen?« rief der Schafhirt. »Eine Herde Schafe, die ich für Euch hüten könnte, habt Ihr nicht, und schlafen kann ich auch nicht länger! Laßt mich ins Freie -ich muß nach meinen Schafen sehen, und ein böses Weib habe ich auch zu Hause, das mich sicherlich für mein langes Ausbleiben schelten wird!«

»Du darfst diese Grotte nicht früher verlassen, bevor du nicht einen Schwur geleistet hast, daß du niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen wirst, was du gesehen hast und wie du Einlaß gefunden!« zischte die Schlange.

Was sollte der Schafhirt nun tun? Um seine Freiheit wiederzuerlangen, schwor er, dem Befehle der Schlange zu folgen und versprach ihr, niemals auch nur ein Sterbenswörtchen von seinem Abenteuer verlauten zu lassen.



Bd-04-263_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

»Wenn du deinen Schwur nicht einhältst, wird es dir schlecht ergehen!« warnte ihn die Schlange, als sie ihn ins Freie ließ.

Welch eine Veränderung hatte sich draußen vollzogen! Dem armen Mann zitterten die Beine vor Schrecken, als er sah, daß rings alles in Blüte stand, und er wollte seinen Augen nicht trauen. Es war ja Herbst, als er die Grotte der Schlangen betreten hatte!

»Wehe mir!«jammerte er, »welch ein Dummkopf bin ich doch - was habe ich getan? Ich habe mit den Schlangen den Winter durchgeschlafen! Oh, meine Schafe! Wo soll ich euch nur wiederfinden! Und meine Frau! Wie wird sie mit mir schelten!«

Als er sich seiner Hütte näherte, sah er seine Frau beim Waschtroge stehen. Er schlüpfte unbemerkt in den Stall, um ein wenig Zeit zu gewinnen und um nachzudenken, wie er sein langes Ausbleiben erklären könnte. Da sah er, wie zu seiner Frau ein stattlicher junger Mann trat, und er hörte, wie der Fremde sie ausfragte und wissen wollte, wo denn ihr Mann wäre.

Die Frau fing an zu weinen und erzählte ihm, wie eines Tages im Herbste ihr Mann die Schafe in die Berge getrieben hätte und nicht mehr zurückgekehrt sei. Der Hund brachte zwar die Herde heim, doch vom Schafhirten hatte sie nie wieder gehört.

»Vielleicht haben ihn die Wölfe überfallen, oder die Waldelfen verschleppt!« fügte sie traurig hinzu.

»Ach, weine nicht, meine liebe Frau!« rief der Schafhirt, der es vor Mitleid mit ihr nicht mehr in seinem Verstecke aushalten konnte. »Ich lebe ja! Mich haben die Wölfe nicht überfallen und auch haben mich die Waldelfen nicht verschleppt -ich habe den ganzen Winter hier im Stalle verschlafen!«

Doch da hatte er sich eine schöne Suppe eingebrockt! Im Nu hörte die Frau zu weinen auf, begann böse zu schelten und rief:

»Das habe ich mir denken können, du Faulpelz! Du bist aber ein schlechter Held und ein noch schlechterer Hirte! Läßt Schafe - Schafe sein und legst dich im Stalle wie eine Schlange zum Winterschlafe nieder!«

Der arme Hirte mußte seiner Frau im Geiste recht geben, doch da



Bd-04-264_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

er die Wahrheit nicht sagen konnte, mußte er alles über sich ergehen lassen und die Zunge im Zaume halten. Da fiel der stattliche Fremde, der bisher aufmerksam zugehört hatte, der Frau in die Rede und sprach:

»Glaubet doch seinen Worten nicht, gute Frau! Euer Mann hat sicherlich die Zeit woanders als hier im Stalle zugebracht! Ich will ihm gerne eine schöne Summe Geldes für sein Geheimnis geben! Gebietet ihm, alle meine Fragen, die ich an ihn richten werde, wahrheitsgetreu zu beantworten!«

Die Frau wurde noch viel böser, als sie sah, daß ihr Mann nicht die Wahrheit gesprochen hatte, und wollte nun wissen, wo er denn so lange gewesen wäre.

»Gehet ins Haus, liebe Frau«, beruhigte sie der Fremde, »ich werde Euren Mann zum Reden bringen!«

Die Frau war zufrieden und ließ die beiden allein. Jetzt gab sich der Fremde dem Schafhirten zu erkennen und nahm seine wahre Gestalt an. Es war der böse Zauberer, der in den Bergen hauste. Mit seinem dritten Auge, das mitten in seiner Stirne saß, sah er den Hirten drohend an und schrie:

»Wo warst du und was hast du erlebt?«

Dem Schafhirten war vor Angst und Bangen die Brust wie zugeschnürt, und er wußte keine Antwort. Er durfte ja doch den Schwur nicht brechen und die alte Schlangenkönigin verärgern! Doch auch der dreiäugige Zauberer flößte ihm Schrecken ein. Und als dieser zum zweiten, zum dritten Male mit wutverzerrter, furchtbarer Donnerstimme fragte, wo er denn gewesen und was er gesehen hätte, und als er auch noch wahrnehmen mußte, daß die Gestalt des Zauberers vor ihm wuchs und immer größer und größer wurde, da vergaß er seinen Schwur. Er erzählte mit zitternder Stimme von seinen Erlebnissen in der Grotte und beschrieb auch haargenau, auf welche Weise er Einlaß gefunden hatte.

»Gut denn«, sagte der Zauberer, als der Hirte mit seiner Erzählung zu Ende war, »komm mit mir und zeige mir den Felsen und auch das Zauberkraut!«



Bd-04-265_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

Kein Wehren und Widersprechen half -der Hirte mußte gehen. Als sie zu dem Felsblock kamen, riß er die kleine Pflanze vom Boden ab, berührte mit ihren Blättchen den Felsen, der sich im Nu vor ihnen öffnete. Der Zauberer jedoch ließ den Hirten nicht die Grotte betreten. Er zog ein großes dickes Buch hervor, das er unter seinem Mantel verborgen hatte, öffnete es und begann laut zu lesen. Der Schafhirte konnte sich vor Angst kaum auf den Beinen halten. Da, mit einem Male, verdunkelte sich der Himmel und die Erde begann zu beben. Immer näher und näher kam aus dem Felseninnern ein greuliches Schnauben und Zischen. Plötzlich brach der Felsen in Stücke, und hervor kroch ein riesiger, geflügelter Drache. Dies war die alte Schlange in neuer Gestalt. Aus den Nüstern des Untieres kam Feuer, mit dem Schweife schlug es nach allen Seiten, und wo ein Baum im Wege stand und getroffen wurde, sank er entwurzelt zu Boden.

»Schnell! Wirf dieses Band dem Ungeheuer um den Hals!« rief der Zauberer und reichte dem Hirten eine Schlinge, ohne jedoch seinen Blick von dem Buch, das er in der Hand hielt, abzuwenden.

Der Hirte ergriff das Band, doch wagte er es nicht, dem furchtbaren Drachen näher zu treten; erst als der Zauberer den Befehl wiederholte, gehorchte er zitternd. Doch wehe, wehe! Das Ungeheuer warf seinen mächtigen Körper zur Seite, und ehe sich's der Schafhirte versah, saß er auf seinem Rücken. Der Drache breitete seine Schwingen aus und flog mit dem unglücklichen Manne hoch in die Lüfte. Es wurde dunkel ringsumher, und nur das grelle Feuer, das dem Drachen aus den Nüstern sprühte, beleuchtete den Weg.

Die Erde zitterte und bebte, ein furchtbarer Wind erhob sich, der Steine und Geröll ins Tal schleuderte und durch dessen Wucht ganze Wälder entwurzelt wurden. Wütend schnaubte das Untier und hieb mit seinem Schweife um sich, alles vernichtend, was in seinem Wege stand. Aus seinem Rachen kamen Ströme siedenden Wassers, die sich tosend ins Tal ergossen.

Nach und nach verebbte die furchtbare Wut des Untiers, sein Schweif hörte zu peitschen auf, der Wasserstrom versiegte, und aus



Bd-04-266_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

seinen Nüstern sprühte kein Feuer mehr. Der Hirte, der mehr tot als lebendig war, sah diese Veränderung und hoffte, daß sich nun der Drache mit ihm wiederum zur Erde senken werde. Doch nichts dergleichen geschah! Es schien, als ob das Ungeheuer den armen Mann noch weiter strafen wollte - es flog höher und immer höher, bis es hoch über dem höchsten Gipfel der Berge schwebte, die nur noch wie kleine Ameisenhaufen aussahen. Und noch immer flog der Drache höher, bis der Hirte nichts mehr von der Erde sah, und Sonne, Mond und Sterne immer näher rückten.

»Ach, du lieber Himmel, was soll ich nur beginnen!« seufzte der arme Schafhirt. »Ich kann ja doch nicht hinunterspringen, denn ich würde mich beim Auffallen erschlagen, und hinauf in den Himmel kann ich auch nicht fliegen!« So klagte und jammerte er und weinte bitterlich. »Gnädiger Drache! Höret mich!« flehte er. »Erbarmet Euch meiner und bringet mich wiederum zur Erde nieder! Ich will Euch sicherlich bis an mein Lebensende nicht wieder verärgern!«

Doch der Drache fauchte nur und schnaufte und scherte sich nicht um die Bitten und Klagen des Mannes, die sicherlich ein steinernes Herz erweicht hätten. Da plötzlich schien es dem Hirten, als ob er von weitem den Gesang einer Nachtigall hören würde. Und näher und immer näher schien der kleine Vogel zu kommen, bis er sich über dem fliegenden Drachen in den Lüften wiegte.

»Kleine, süße Nachtigall!« rief der Hirte verzweifelt, »fliege zu unserem Herrgott und erzähle ihm von meiner Not. Sage ihm, daß ich ihn grüße und um seine Hilfe flehe!«

Die kleine Nachtigall folgte seiner Bitte, sie flog zum lieben Gott in den Himmel hinauf und erzählte ihm, was sie gesehen hatte. Der liebe Gott erbarmte sich des armen Hirten, er nahm ein grünes Birkenblättchen, schrieb einige goldene Buchstaben darauf und gebot der Nachtigall, das Blättchen auf des Drachen Kopf zu legen. Vorsichtig nahm der kleine Vogel das Blättchen in seinen Schnabel, und als er über dem Untiere schwebte, ließ er es auf dessen Kopf hinunterflattern. Im gleichen Augenblick stürzte der Drache tot zur Erde nieder.



Bd-04-267_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa



Bd-04-268_Maerchen aus der Slowakei Flip arpa

Als der Hirte aus seiner Ohnmacht, in die er nach dem furchtbaren Sturze gefallen war, erwachte, sah er, daß er vor seiner eigenen Hütte lag, er sah seinen kleinen Hund die Schafe in den Stall treiben - er sah seine Frau beim Waschtroge stehen -, und er sah auch eine kleine Glocke, die in einem Eichenbaume hing und die zu läuten begann, als ob sie das Ende dieses Märchens ankündigen wollte.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt