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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Das Schicksal

Auf einem Bauernhof lebten einmal zwei Brüder. Der eine arbeitete von Sonnenaufgang bis in die späten Abendstunden, der andere aber rührte keinen Finger, um seinem unermüdlichen Bruder zu helfen — er saß am Küchentische und aß und trank den ganzen lieben Tag. Das Schicksal war ihnen wohlgesinnt, Pferde, Kühe, Ochsen, Schweine und Schafe gediehen aufs beste, und auf ihren Feldern und Gärten blühte und reifte das schönste Obst und Korn.

Eines Morgens hielt der fleißige Bruder in seiner Arbeit inne und sprach zu sich:

>Warum arbeite ich nur immerzu für meinen faulen Bruder, der bloß an sein Essen und Trinken denkt! Ich täte sicherlich besser daran, mich von ihm zu trennen -soll er doch mal für sich allein sorgen!<

Er führte diesen Entschluß auch aus, und noch am gleichen Abend sagte er zu seinem Bruder:

»Bruder, ich mag nicht mehr allein die ganze Arbeit verrichten, und weil du dich weigerst, mir zu helfen, und nur an dein Essen und Trinken denkst, will ich mich von dir trennen.«

Sein Bruder versuchte ihn von diesem Vorhaben abzubringen und bat:

»Tue es nicht, lieber Bruder! Es geht uns doch auf diese Weise beiden recht gut. Du schaltest und waltest mit dem Deinen geradeso wie mit dem Meinen, und ich bin mit allem was du tust, zufrieden!«



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Doch der fleißige Bruder wollte davon nichts hören und blieb hartnäckig bei seinem Entschlusse. Da mußte sich denn der andere fügen und sagte:

»Wenn du es denn nicht anders haben willst, so teile unser gemeinsames Hab und Gut nach deinem Gutdünken!«

Sein Bruder ließ sich nicht zweimal bitten und teilte ehrlich Vieh und Felder auf.

Der faule Bruder machte sich aber auch weiterhin keine Sorgen. Er fand bald einen guten Stallknecht, einen verläßlichen Schweinehirten und einen Schäfer, die er in seine Dienste nahm, und sagte zu ihnen:

»Ich lege meinen Besitz, alles was ich auf dieser Erde habe, in eure Hände - verwaltet es so gut ihr es vermögt!«

Er selber aber nahm seinen gewohnten Lebenswandel wieder auf - er saß am Küchentische und aß und trank nach Herzenslust.

Der zweite Bruder aber arbeitete und plagte sich wie zuvor. Er versah alle Arbeiten im Haus, Hof und Feld mit eigener Hand, doch trotz seiner großen Bemühungen war nirgends ein Fortschritt zu sehen -Schaden folgte auf Schaden, und er wurde von Tag zu Tag ärmer und ärmer, bis er eines Morgens so arm war, daß er keine Schuhe mehr an den Füßen hatte. Da sagte er zu sich:

>Ich will zu meinem Bruder gehen und nachsehen, wie es ihm ergangen ist!<

Sein Weg führte ihn über eine grüne Wiese, auf der eine Schafherde friedlich weidete. Am Wiesenrande saß eine wunderschöne Maid, die einen goldenen Faden spann.

»Schön guten Morgen, schönes Mädchen!« rief er, »wem gehören denn diese prächtigen Schafe?«

»Die Herde gehört demjenigen, dem auch ich gehöre!« antwortete sie.

»Und wem gehörst denn du?«fragte der arme Mann verwundert.

»Ich bin deines Bruders Glück!« antwortete das Mädchen.

»Wo ist mein Glück geblieben?«fragte er weiter.

»Dein Glück ist weit von dir!« kam die Antwort.

»Werde ich es jemals finden?«fragte er zaghaft.



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»Sicherlich«, antwortete das schöne Mädchen, »geh und suche es!« Der arme Mann eilte nun schnurstracks zu seinem Bruder, und als ihn dieser ohne Schuhe und in zerrissenen Kleidern auf sich zukommen sah, rief er weinend: »Wie schlecht muß es dir ergangen sein, du Armer! Komm und bleibe bei mir!«

Und er eilte in die Kammer, um Schuhe, Kleider und auch Geld für seinen Bruder zu holen. Doch nach einiger Zeit kehrte der arme Bruder auf seinen verlassenen Hof zurück, nahm den Wanderstab zur Hand und machte sich auf, um sein Glück zu suchen. Als er in einen dunklen Wald kam, sah er eine alte Frau unter einem Baume liegen, die tief und fest schlief. Er erhob seinen Stab und schlug der Alten über den krummen Rücken. Sie erwachte, erhob sich langsam, sah den armen Mann vom Scheitel bis zur Sohle prüfend an und sagte schließlich mit heiserer, schriller Stimme:

»Danke Gott, daß ich mich verschlafen habe! Wenn ich wach gewesen wäre, hättest du keine Schuhe an deinen Füßen!«

»Wer bist du, daß du in dieser Weise zu mir sprichst?«fragte der Mann verwundert.

»Ich bin dein Glück!« antwortete die Alte.

Als er das hörte, sank der arme Mann in die Knie und rief:

»Wenn du mein Glück bist, dann will ich Gott bitten, er möge dich töten! Wer hat dich zu mir gesandt?«

»Wer anderer hätte mich zu dir senden sollen als das Schicksal?« antwortete die Alte und lachte höhnisch.

»Wo ist das Schicksal, wo kann ich es denn finden?«

»Gehe nur und suche es!« kicherte die Alte und verschwand.

So beschloß nun der arme Mann, das Schicksal zu suchen. Er wanderte lange und gelangte eines Tages in ein kleines Dorf, in welchem ein großer und reicher Bauernhof stand. Als er näher kam und zum Fenster hineinblickte, sah er ein gewaltiges Feuer im Herde prasseln.

»Hier wird wohl eine Hochzeit gefeiert«, sprach der arme Mann. Er trat in die Stube und sah einen großen Kessel am Herde stehen, in dem ein wohlriechendes Mahl einladend brodelte. Beim Feuer saß



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der Bauer, und als er den eintretenden Fremden, der ihm einen guten Abend wünschte, erblickte, rief er:

»Komm näher und sei das Glück mit dir!« Als der arme Mann an seiner Seite beim Feuer Platz genommen hatte, wollte der Bauer wissen, woher er komme und wohin er gehe. Der Arme erzählte dem Bauern wahrheitsgetreu, wie er selbst einst ein reicher Bauer gewesen war, wie er nun verarmt und auf dem Wege zum Schicksal wäre, um dieses zu fragen, warum es ihm so übel auf dieser Erde ergehen müsse.

Dann fragte auch er seinen Gastgeber, für wen er denn ein so reichliches Mahl am Herde bereite.

»Ach, Bruder!« antwortete der Bauer, »auch ich habe meinen Kummer! Obwohl ich reich bin und alles in Hülle und Fülle besitze, kann ich doch nicht mein Gesinde sättigen. Alles, was ich ihnen vorsetze, reicht nicht aus - sie essen und trinken so viel, als ob sie Drachen und nicht Menschen wären! Doch warte und siehe selbst, was sich ereignet, wenn sie sich zum Abendbrot versammeln werden!«

Und wie es der Bauer gesagt hatte, so geschah es auch. Die Leute fielen über die Speisen her, rauften sich um jeden Bissen, aßen und tranken so gierig, daß im Nu der riesige Kessel und alle Fässer leer standen. Nach der Mahlzeit kam eine Magd in die Stube, die alle übriggebliebenen Knochen und Knöchlein sammelte und sie auf einen Haufen hinter den Ofen warf. Der arme Mann sah verwundert ihrem Treiben zu und hätte gern gewußt, warum sie denn mit den Knochen so verfahre. Da öffnete sich die Türe, und in die Stube traten zwei dürre, alte Gestalten. Mühsam schleppten sie sich bis zum Herde, holten die hingeworfenen abgenagten Knochenreste wieder hervor, und begannen an ihnen zu nagen.

»Welch schaurige Gestalten hast du denn in deinem Hause, Bauer?« sagte der arme Mann.

»Dies sind meine Eltern!« antwortete der Bauer. »Sie weigern sich zu sterben und wollen nicht von dieser Welt Abschied nehmen! Sie wollen und wollen nicht sterben!«

Am frühen Morgen, beim Abschied, sagte der reiche Bauer:



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»Bruder, solltest du dem Schicksal begegnen, dann gedenke auch meiner und frage, warum ich denn mein Gesinde nicht sättigen kann und warum meine alten Eltern nicht sterben können.«

Der arme Mann versprach's und ging seines Weges weiter.

Eines Abends, als er von der hereinbrechenden Nacht überrascht wurde, kehrte er in einem Bauernhause ein und bat um ein Nachtlager. Die Eigentümer wollten wissen, woher er komme und wohin er gehe, und er erzählte ihnen willig und sagte auch, daß er auf dem Wege sei, das Schicksal zu suchen. Da begannen sie ihn zu bitten und riefen:

»Lieber Bruder, erinnere dich unser und frage das Schicksal, warum denn unsere Ochsen und Kühe im Stalle nicht gedeihen wollen!« Er versprach auch ihnen, das Schicksal zu fragen, und ging am nächsten Morgen weiter.

Er gelangte zu einem Flusse, und als er keine Brücke sah, über die er das andere Ufer erreichen konnte, rief er:

»Ach Wasser! Ach Wasser! Trage mich hinüber!«

Da fragte das Wasser:

»Wohin gehst du denn?«

Und als er ihm alles erzählt hatte, trug es ihn zum anderen Ufer und sagte dort:

»Ich bitte dich, Bruder, frage das Schicksal, warum ich denn keine Früchte trage!«

Er versprach, das Schicksal fragen zu wollen, und eilte weiter. Er wanderte lange und kam eines Tages in einen Wald, in dem ein Einsiedler hauste. Diesen fragte er, ob er ihm den Weg zum Schicksal zeigen könne.

»Gehe nur weiter in dieser Richtung«, antwortete der Einsiedler, mit seiner Hand vorwärts weisend. »Hinter jenem Berge befindet sich das Haus des Schicksals. Doch folge meinem Rate, und wenn du vor dem Schicksale stehen wirst, bleib stumm und tue genau all das, was auch das Schicksal tun wird. Antworte erst, wenn das Schicksal eine Frage an dich stellen wird!«

Der arme Mann dankte dem Einsiedler für seinen Rat und ging weiter.



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Als er Haus und Hof des Schicksals erreicht hatte, wollte er seinen Augen nicht trauen und stand wie geblendet vor der Pracht, die sich vor ihm ausbreitete. Es war ihm, als ob er im Schlosse des mächtigen Zaren stünde -prächtig gekleidete Diener und Dienerinnen schienen aus allen Ecken und Enden zu kommen. Das Schicksal saß in einer herrlichen, goldenen Halle beim festlich gedeckten Tisch und aß. Ohne zu zögern, dem Rate des Einsiedlers folgend, nahm der arme Mann an seiner Seite stillschweigend Platz, und auch er begann zu essen. Nach dem Mahle begab sich das Schicksal zur Ruhe, und auch er legte sich aufs Ohr und schlief bald ein. Um die Mitternachtsstunde erhob sich ein furchtbares Getöse. Lautes Klirren und Poltern war zu hören, durch welches eine Stimme zu rufen schien: »O Schicksal, o Schicksal! Es wurden heute viele Seelen geboren - beschere ihnen, was dir beliebt!«

Das Schicksal erhob sich von seinem Lager, öffnete einen Schrank, der voll Golddukaten war, und begann die Golddukaten im Saale herumzustreuen. Dabei rief es:

»Wie mir heute nacht - so euch bis zu eurem Tode!«

Als das Morgengrauen anbrach, war aus dem herrlichen Haus und Hof des Schicksals ein kleines, aber reiches Bauerngut geworden. Am Abend setzte sich das Schicksal zum Nachtmahl nieder, und der arme Mann nahm wiederum stillschweigend an seine Seite Platz. Keiner von beiden sprach auch nur ein Sterbenswörtchen. Nach dem Mahle legten sie sich zur Ruhe, und alles wiederholte sich wie des Nachts zuvor. Ein furchtbarer Lärm hub an, und eine Stimme war zu hören, die rief:

»O Schicksal, o Schicksal! Es wurden heute viele Seelen geboren - beschere ihnen, was dir beliebt!«

Das Schicksal erhob sich von seinem Lager, öffnete den Geldschrank, in dem sich heute jedoch nur Silbermünzen und nur wenige Golddukaten befanden. Wiederum, wie in der vorhergehenden Nacht, streute das Schicksal die Münzen im Raume umher und rief:

»Wie mir heute nacht - so euch bis zu eurem Tode!«

Am nächsten Morgen war der schöne Bauernhof zu einem kleinen



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Gehöft zusammengeschrumpft. Und so geschah es jede Nacht, und jeden Morgen war das Haus kleiner und kleiner, bis eines Tages eine ganz kleine, halbverfallene Hütte dastand. An diesem Morgen ergriff das Schicksal eine Hacke und fing zu graben an, und auch der arme Mann folgte seinem Beispiele und grub den ganzen Tag. Als es Abend wurde, nahm das Schicksal ein Stück Brot aus der Tasche, brach es entzwei und reichte eine Hälfte dem armen Manne. Nach diesem spärlichen Mahle begaben sie sich zur Ruhe. Und abermals um die Mitternachtsstunde hub das furchtbare Getöse an, aus welchem eine Stimme zu hören war, die rief:

»O Schicksal, o Schicksal! Es wurden heute viele Seelen geboren - beschere ihnen, was dir beliebt!«

Das Schicksal erhob sich von seinem Lager, ging zum Schranke, dem es aber diesmal nur Sägespäne entnahm und diese, mit einigen Kupfermünzen vermischt, im Raume verstreute.

»Wie mir heute nacht - so euch bis zu eurem Tode!« rief es dabei. Als die Sonne früh am morgendlichen Himmel aufging, stand aber wiederum das herrliche Haus und Gut wie am ersten Tage an Stelle der kleinen, halbverfallenen Hütte.

An diesem Tage fragte das Schicksal den armen Mann: »Was begehrst du denn von mir?«

Und der arme Mann klagte ihm sein Leid und erzählte dem Schicksal, wie es ihm ergangen war und daß er gekommen sei, um das Schicksal zu fragen, warum es ihm so viel Mißgeschick hatte zuteil werden lassen.

Das Schicksal antwortete:

»Du hast mit deinen eigenen Augen gesehen, wie ich in der ersten Nacht mit vollen Händen Golddukaten verstreut habe und warst ebenfalls Zeuge der weiteren Ereignisse. Du bist in einer der armen Nächte zur Welt gekommen und mußt daher arm bis an dein Lebensende bleiben. Dein Bruder jedoch wurde in einer glücklichen Nacht geboren, in der Nacht, in der ich Golddukaten verstreute, und wird bis zu seinem Tode reich und glücklich sein. Da du jedoch soviel Schweres ertragen mußtest und doch Mut fandest, mich



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aufzusuchen, will ich dir meinen Rat nicht verweigern. Deines Bruders Tochter Milica ist ebenfalls, wie ihr Vater, in einer glücklichen Nacht geboren. Kehre nach Hause zurück und bitte sie, mit dir zu kommen und in deinem Hause zu bleiben. Was immer du im Laufe der Zeit erwerben wirst, lasse ihr Eigen sein und sage so jedem, der dich danach fragen wird!«

Der arme Mann dankte dem Schicksal und sagte:

»In einem Dorfe lebt ein reicher Bauer, der mit allen Gaben dieser Erde wohl gesegnet ist. Nur eines bereitet ihm Kummer - er kann sein Gesinde nicht sättigen, obzwar er riesige Kessel voll der besten Speisen für sie bereitet. Sie stürzen sich gierig über das Mahl, leeren die Kessel bis zum Grund und haben weiter Hunger. Vater und Mutter dieses Bauern, die beide ein gar hohes Alter erreicht haben und mehr wandelnden Vogelscheuchen als menschlichen Wesen ähneln, können nicht sterben und die wohlverdiente Ruhe finden. Als ich auf meiner Suche nach dir bei diesem Bauern ein Nachtlager fand, bat er mich, dich um Rat zu fragen!«

»Der Bauer weigert sich, seinen Vater und seine Mutter zu ehren!« antwortete das Schicksal. »Daher erleidet er diese Strafen. Wenn er seinen Eltern den besten Platz an seinem Tische anweisen würde, wenn er ihnen stets die besten Bissen und das erste Gläschen Wein reichen würde, dann würde sein Gesinde nicht mehr unersättlich sein und die Seelen der beiden Alten würden sich friedlich zur ewigen Ruhe begeben!«

Und abermals fragte der Bauer:

»In einem anderen Gehöfte, in welchem ich ebenfalls für eine Nacht Aufnahme fand, beklagte sich der Landwirt, daß sein Vieh im Stalle nicht gedeihen wolle, dahinsieche und er bald arm wie eine Kirchenmaus sein werde. Kannst du auch hier Abhilfe schaffen?«

»Sage dem Bauern, daß sein Vieh deshalb nicht gedeiht und dahinsiecht, weil er geizig ist und zu seinem Geburtstage nur das schlechteste Stück, das er im Stalle finden kann, für die Festtafel opfert. Wenn er sich aber das beste Stück, das in seinem Stalle steht, gönnen wird, dann wird der ganze Stall gedeihen wie nie zuvor!«



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Nun wollte noch der arme Mann wissen, warum denn das Wasser keine Früchte in sich trüge, und das Schicksal antwortete:

»Das Wasser ist deshalb ohne Frucht, weil es noch niemals einen Menschen verschlungen hat. Doch scherze nicht mit dem Wasser und sage ihn nicht, was ich dir soeben anvertraut habe, ehe es dich nicht ans andere Ufer gebracht hat - denn sagst du es ihm früher, würde es dich verschlingen!«

Der arme Mann dankte dem Schicksal und machte sich auf den Heimweg. Als er zum Wasser kam, fragte es ihn:

»Was hat das Schicksal gesagt?«

»Trage mich ans andere Ufer«, erwiderte er, »und dann will ich es dir sagen!«

Das Wasser willigte ein, und als es ihn herübergebracht hatte, fing er, so schnell ihn seine Beine nur tragen konnten, zu laufen an, und als er weit genug entfernt war, rief er zurück:

»O Wasser, o Wasser! Du hast noch keinen Menschen verschlungen — deshalb trägst du keine Früchte!«

Als das Wasser dies hörte, trat es aus seinen Ufern, ergoß sich über die Felder und versuchte, den Davoneilenden zu fangen, dem es nur mit Mühe gelang, zu entkommen.

Als er zudem Gehöft kam, in dessen Ställen das Vieh nicht gedeihen wollte, wurde er vom Bauern sogleich mit der Frage begrüßt:

»Um Himmels willen, Bruder, hast du das Schicksal gefragt?«

»Sicherlich!« antwortete er, »und das Schicksal sagte, daß du an deinem Geburtstage statt des schlechtesten Stückes aus deinem Stalle das beste schlachten und bei deiner Festtafel verzehren solltest - dann wird dein Vieh gesunden und gedeihen wie nie zuvor.«

Als der Bauer dies hörte, bat er: »Bleibe bei mir zu Gaste, Bruder —bis zu meinem Geburtstage sind es nur noch drei Tage! Wenn sich erfüllt, was du sagst, will ich dich reich beschenken!«

Der arme Mann willigte ein und blieb. An seinem Geburtstage schlachtete der Bauer die schönste Kuh, die im Staue stand, und sogleich gesundeten die anderen Tiere. Als Belohnung aber führte der arme Mann fünf Kühe und Ochsen mit sich nach Hause.



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Dann kam er zu jenem Bauern, dessen gieriges Gesinde nicht satt werden konnte. Ungeduldig rief dieser ihm entgegen:

»O Bruder! Ich kann ja deine Rückkehr kaum erwarten! Was hat denn das Schicksal gesagt?«

»Das Schicksal sagte, daß du deinen Vater und deine Mutter nicht ehrst!« antwortete der arme Mann. »Du wirfst ihnen ihr spärliches Essen vor, als ob sie Hunde wären! Wenn du deine Eltern an den besten Platz an deinem Tische setzen, ihnen stets die besten Bissen und das erste Gläschen Wein anbieten würdest, dann würde dein Gesinde nicht mehr unersättlich sein, und dein Vater und deine Mutter würden bald ewige Ruhe finden!«

Als der Bauer dies vernahm, befahl er seiner Frau, die alten Eltern herbeizuholen und sie fein säuberlich auszustatten. Und als der Abend heranbrach, setzte er sie auf die besten Plätze an seinem Tische, gab ihnen die besten Bissen und reichte ihnen das erste Gläschen Wein. Von dieser Zeit an hörte das Gesinde auf, unersättlich zu sein, und schon am nächsten Tage legten sich die alten Eltern nieder und schlossen für immer die müden Augen.

Zum Danke gab der Bauer dem armen Manne zehn schöne Kühe und Ochsen mit. Als sich dieser seinem Hause näherte, fragten ihn seine Freunde, die ihm unterwegs begegneten:

»Wem gehört denn das schöne Vieh?«

Und er erwiderte, wie ihm das Schicksal geraten hatte: »Es ist Milicas, meines Bruders Tochter!«

Als er nach Hause kam und das Vieh im Stalle heimisch geworden war, eilte er zu seinem Bruder und bat:

»Bruder, gib mir Milica, ich will sie zu meiner Tochter machen, du siehst, daß ich einsam und verlassen bin!«

Der Bruder war's zufrieden, und Milica ging mit dem armen Manne. In kurzer Zeit gelang es ihm, großes Hab und Gut zu erwerben, doch stets beharrte er darauf, daß alles Milica gehöre.

Eines Tages ging er aufs Feld, um sein reifes Getreide, welches so schön wie kein zweites war, zu bewundern.

Da trat ein Wanderer an seine Seite und fragte:



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»Wem gehört denn dieses prächtige Feld?«

Der Mann antwortete, ohne auf seine eigenen Worte zu achten:

»Dies ist mein Feld und mein Getreide!«

Kaum aber hatte er diese Worte ausgesprochen, als das Getreide Feuer fing und lichterloh zu brennen begann. Als er das Unheil sah, lief er schnell dem Fremden nach und rief:

»Warte, Bruder, warte! Ich habe dir was zu sagen! Das Getreide und das Feld gehört nicht mir - es ist Milicas Eigen!«

Im Nu erstickte das Feuer, das Getreide war gerettet, und er lebte mit Milica glücklich bis an ihr Lebensende.


Copyright: arpa, 2015.

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