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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Der Lange, der Dicke und der Scharfsichtige

Es war einmal ein alter König, der hatte einen einzigen Sohn. Eines Tages rief er ihn zu sich und sprach:



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»Mein lieber Sohn! Du weißt, daß die reife Frucht vom Baume fällt, um für neue Früchte Platz zu machen. So ist es auch mit meinem Haupte. Es ist überreif, und die Sonne wird nicht mehr lange drauf scheinen. Doch bevor du mich ins Grab legst, würde ich noch gerne meine künftige Tochter, deine Braut, mit meinen Augen sehen. Heirate also, mein Sohn!«

Der Prinz antwortete:

»Ich würde gerne deinen Wunsch erfüllen, lieber Vater, doch habe ich bisher keine Braut gefunden.«

Da griff der alte König in seine Tasche, entnahm ihr einen goldenen Schlüssel und gab ihn seinem Sohne mit den Worten:

»Steige auf den Turm, gehe in das Gemach, das sich unter dem Dache befindet, blicke um dich und lasse mich hierauf deine Wahl wissen.«

Ohne Zögern gehorchte der Prinz den Worten seines Vaters. Niemals zuvor hatte er den Turm betreten und wußte daher auch nicht, was sich oben befand.

Als er die oberste Treppe erreicht hatte, erkannte er in der Decke eine Falltüre, die versperrt war. Er öffnete das Schloß mit dem goldenen Schlüssel, hob die Türe auf und schwang sich durch die Öffnung.

Er befand sich in einem großen, kreisrunden Raum, dessen dunkelblaue Decke mit silbernen Sternen übersät war. Sie glich völlig dem Himmel in einer klaren Winternacht. Der Boden war mit einem grünseidenen Teppich belegt, und zwölf hohe, schmale und goldumrahmte Fenster schmückten die Wände. Jedes dieser Fenster zierte das Bild eines jungen Mädchens, die sämtlich Königskronen im Haar trugen und von denen eines schöner war als das andere. Und als er die Bilder voller Bewunderung anblickte und überlegte, welches der Mädchen er zu seiner Braut erwählen solle, begannen sie sich zu bewegen, als ob sie lebten, neigten ihm ihre Köpfe zu, lächelten ihn an und schienen gar sprechen zu wollen.

Da bemerkte der Prinz, daß eines der Fenster mit einem weißen Vorhang verdeckt war. Neugierig zog er diesen zur Seite, um zu se



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hen, was er verbarg. Er sah das Bild eines Mädchens in weißem Kleide, mit silbernem Gürtel und einer Perlenkrone auf dem Haupte. Sie erschien ihm lieblicher als alle anderen, aber sie war bleich und traurig, als wäre sie eben aus dem Grabe auferstanden.

Der Prinz stand lange, in Gedanken versunken, vor diesem Bilde, und das Herz in seiner Brust tat ihm wehe.

»Diese und keine andere soll meine Braut werden!« rief er.

Kaum hatte er so gesprochen, als das Mädchen wie eine Rose errötete, ihren lieblichen Kopf senkte, und im selben Augenblick waren alle anderen Bilder von den Fenstern verschwunden.

Als der Prinz zu seinem Vater zurückkam und ihm erzählte, was er gesehen und welches Mädchen er sich gewählt hatte, schien der alte König bedrückt.

»Unklug hast du gehandelt, mein Sohn«, sprach er. »Du hast enthüllt, was verborgen bleiben sollte, und deine Worte haben dich in große Gefahr gebracht. Diese Prinzessin ist in der Macht eines bösen Zauberers, der sie in einem eisernen Schlosse gefangenhält. Wer immer es bisher gewagt hat, sie befreien zu wollen, ist nicht mehr zurückgekehrt. Doch was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden, und du hast dein Wort verpfändet. Gehe nun also, versuche dein Glück und kehre mir wohlbehalten wieder!«

Der Prinz verabschiedete sich von seinem Vater, sattelte sein Pferd und ritt in die Welt hinaus, um das eiserne Schloß zu suchen. Sein Weg führte ihn durch einen weiten und tiefen Wald, und als er zwischen Felsen und dichtem Gestrüpp den Pfad verlor und erschöpft und müde umherirrte, hörte er mit einem Male jemanden rufen: »Halt ein und warte auf mich!«

Als der Prinz sich umwandte, erblickte er einen riesenlangen Burschen, der auf ihn zueilte.

»Warte und nimm mich mit, du wirst es nicht bereuen!«

»Wer bist du und was kannst du?«fragte ihn der Prinz.

»Der >Lange<werde ich genannt«, kam die Antwort, »und ich kann mich strecken. Siehst du das Vogelnest dort oben auf dem Tannenzweige?« und er deutete zum Gipfel des höchsten Tannenbaumes



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im Walde. »Ich werde es herunterholen, ohne deswegen klettern zu müssen!«

Und der Lange begann sich zu strecken, sein Körper wuchs, bis er so groß wie der Tannenbaum war, ergriff das Vogelnest, reichte es dem erstaunten Prinzen und schrumpfte dann zu seiner früheren Gestalt wieder ein.

»Du scheinst ein Meister deiner Kunst zu sein! Doch was nützt mir ein Vogelnest, wenn du mich nicht aus diesem Walde herausführen kannst!«

»Oho, das ist nur eine Kleinigkeit!« rief der Lange, und er begann sich zu strecken, bis er dreimal so hoch wie der höchste Baum im Walde war. Er sah um sich, deutete nach rechts und sagte:

»In dieser Richtung müssen wir gehen, dies ist der kürzeste Weg aus dem Walde.«

Dann nahm er wieder seine rechte Größe ein, griff das Pferd beim Zügel, und bald waren sie aus dem Walde.

Eine weite Ebene dehnte sich vor ihnen. Sie war von hohen grauen Felsen eingeschlossen, die den Mauern einer Stadt glichen. Hinter diesen Felsen ragten waldbedeckte Berge zum Himmel empor.

»Dort drüben, Herr, wandert mein Freund«, rief der Lange und wies auf eine Gestalt, die weit draußen in den Feldern zu sehen war. »Auch den, rate ich dir, in deine Dienste zu nehmen, er wird dir sicher sehr von Nutzen sein.«

»Rufe ihn herbei, damit ich ihn sehen und prüfen kann!«

»Er ist zu weit entfernt, Herr, und würde meinen Ruf nicht hören«, antwortete der Lange. »Auch würde es zu lange dauern, bis er uns erreichen würde, denn er hat viel zu tragen. Ich will ihn lieber holen.«

Der Lange streckte sich wieder, und diesmal so hoch, daß sein Kopf in den Wolken verschwand. Er machte zwei, drei Riesenschritte, nahm den Freund auf die Schultern und stellte ihn im Handumdrehen vor den Prinzen hin. Es war ein kleiner, dicker Bursche, der mehr einem Fasse als einem Menschen glich.

»Wer bist du«, fragte ihn der Prinz, »und was ist deine Kunst?«



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»Man nennt mich den >Dicken<, und ich kann mich in die Breite dehnen«, antwortete dieser.

»Zeige es mir!« sagte der Prinz.

»Schnell, schnell, rette dich, Herr, reite in den Wald zurück!« rief der Dicke und fing an, sich aufzublasen.

Der Prinz verstand diesen Befehl zu Anfang nicht, doch als er sah, daß auch der Lange mit raschen Schritten dem Walde zulief, spornte er sein Pferd und galoppierte davon. Es war auch schon allerhöchste Zeit -denn der Dicke wuchs nach allen Seiten in einer solchen Masse, daß er ihn gewiß mitsamt seinem Pferde erdrückt hätte. Es schien, als ob da plötzlich ein Riesenberg aus dem Boden gewachsen sei. Endlich hielt der Dicke inne, er blies nur noch die restliche Luft aus seinen Lungen heraus, derart, daß sich die Bäume wie im Sturme bogen, und nahm seine frühere Gestalt wieder an.

»Du hast mich aber erschreckt!«rief der Prinz. »Aber ich muß gestehen, daß man so jemanden wie dich nicht alle Tage findet! Komme mit uns!«

Und sie machten sich auf den Weg. Als sie die Ebene durchschritten hatten, gelangten sie zu den grauen Felsen. Hier begegneten sie einem Manne, der seine Augen mit einem schwarzen Tuch verhüllt hatte.

»Sieh, Herr, das ist unser dritter Genosse«, sagte der Lange. »Auch ihn solltest du in deine Dienste nehmen, denn auch er wird dein Brot sicher nicht unnütz essen!«

»Wer bist du?«fragte der Prinz. »Und warum sind deine Augen verhüllt? Du kannst doch deinen Weg nicht sehen!«

»Oh, Herr, seid ohne Sorge! Ich sehe mit meinen verhüllten Augen weit mehr als andere Menschen mit offenen. Wenn ich meine Augen aber offen trage, dann bleibt vor mir nichts verborgen, und wenn ich ein Ding nur anstarre, geht es in Flammen auf, und was nicht brennbar ist, zerspringt glatt in Stücke. Deshalb nennen mich die Leute den >Scharfsichtigen<.«

Und er wandte sich zu dem nächsten Felsen hin, nahm das Tuch von seinen Augen und starrte unverwandt auf den Stein. Da begann der



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Felsblock zu bersten, und Stücke von ihm flogen nach allen Windrichtungen. Es blieb nur ein Häufchen Sand übrig, in dessen Mitte etwas Glitzerndes lag. Der Scharfsichtige griff nach dem schimmernden Ding und reichte es dem Prinzen. Es war ein Stück von purem Golde.

»Hoho, du bist aber ein Bursche, der nicht mit Geld zu bezahlen ist«, rief der Prinz. »Nur ein Narr würde deine Dienste verschmähen. Da deine Augen so scharf sind und du alles sehen kannst, so sage mir, wie weit wir noch vom eisernen Schlosse entfernt sind.«

»Wärest du allein, Prinz, würdest du noch gut ein volles Jahr reiten müssen, um das Schloß zu erreichen. Mit unserer Hilfe aber sollst du noch heute dort eintreffen. Auch sehe ich, daß man dort gerade das Abendessen für uns bereitet.«

»Und was macht meine Braut, die liebliche Prinzessin?«fragte der Prinz.

»Sitzt zitternd bei Tag und Nacht
Vom bösen Zauberer bewacht
Die holde Prinzessin voll Bangen
Im eisernen Schlosse gefangen«,


***
antwortete der Scharfsichtige.

»Ihr guten Freunde«, rief da der Prinz, »wollt ihr mir helfen, sie zu befreien?«

Und die drei Freunde antworteten wie aus einem Munde: »Wir werden dir helfen!«

Mit seinen Blicken bohrte der Scharfsichtige alsbald einen Pfad durch die grauen Felsen, und sie wanderten über hohe Berge und durch tiefe Wälder weiter und immer weiter. Wo sich im Wege Hindernisse fanden, wurden diese leicht von den drei Freunden überwunden. Als es Abend wurde und die Sonne am westlichen Himmel stand, wurden die Berge immer kleiner, die Wälder lichteten sich, und die Felsen verloren sich im Gestrüpp. Vor sich erblickte der Prinz das eiserne Schloß.

Als die Sonne hinter den Abendwolken verschwand, ritt er über die



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eiserne Zugbrücke dem Tore zu. Wie von unsichtbaren Händen gezogen, hob sich die Brücke auf, die Tore schlossen sich hinter ihm, und der Prinz und seine Gefährten waren im eisernen Schlosse gefangen.

Der Prinz führte sein Pferd in den Stall und betrat mit seinen Gefährten das Schloß.

Wohin sie auch kamen, im Stalle, in den Höfen, auf den Gängen und in den Gemächern, überall sahen sie im Zwielicht reichgekleidete Höflinge, Edelleute und Diener reglos umherstehen. Sie alle waren versteinert.

Die Freunde gelangten schließlich in einen großen hellerleuchteten Speisesaal. Ein Tisch stand einladend in der Mitte. Er war mit den köstlichsten Speisen und Getränken beladen. Vier Gedecke waren bereit, und vier Stühle erwarteten die Gäste. Unentschlossen warteten sie einige Zeit, doch als niemand kam, um sie zu bewirten, setzten sie sich um den Tisch und aßen und tranken nach Herzenslust.

Als sie satt waren, schauten sie sich nach einer Ruhestätte um. Plötzlich sprang die Türe auf, und den Saal betrat der Zauberer, ein gebückter Greis in langem, schwarzem Gewande, mit kahlem Kopf und grauem, langem Barte, der ihm bis zu den Knien reichte. Drei eiserne Ringe umschlossen seine hagere Gestalt. An der Hand führte er eine wunderschöne Jungfrau. Ihr weißes Kleid zierte ein silberner Gürtel, und auf ihrem Haupte strahlte eine Perlenkrone. Sie war bleich und traurig, als sei sie soeben aus dem Grabe erstanden. Der Prinz erkannte sie sogleich, sprang auf und eilte ihr entgegen. Doch bevor noch ein Wort über seine Lippen gekommen war, drohte der Zauberer:

»Ich weiß, warum du gekommen bist, Jüngling! Du willst die Prinzessin entführen! Versuche es -doch mußt du erst drei Nächte lang bei ihr wachen, und sie darf dir nicht entschlüpfen. Nun höre meine Warnung! Entwischt sie dir, dann trifft dich und deine Gefährten das Los deiner Vorgänger, die sich erdreistet haben, die Prinzessin befreien zu wollen. Sie alle wurden zu Stein!«



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Er führte die Prinzessin zu einem Stuhl, gebot ihr niederzusitzen und verließ den Saal.

Sie war derart lieblich anzusehen, daß der Prinz seine Augen nicht von ihr wenden konnte. Er sprach zu ihr, fragte sie nach vielen Dingen, aber sie antwortete nicht und blieb stumm. Sie lächelte nicht und sah ihn auch nicht an - sie schien leblos und wie aus Marmor zu sein. Er ließ sich an ihrer Seite nieder, um Wache zu halten. Und um ganz sicher zu sein, daß die Prinzessin nicht entwischen könne, streckte sich der Lange, bis er wie ein Riemen den ganzen Raum umspannte. Der Dicke setzte sich vor die Türe, blies sich auf, bis er mit seinem Körper die Türöffnung ausfüllte -nicht einmal einem Mäuschen wäre es geglückt, durchzuschlüpfen. Auch der Scharfsichtige war auf dem Posten, er nahm seinen Platz bei der Säule ein, die inmitten des Raumes stand.

Doch sosehr sie sich auch bemühten, wach zu bleiben, keinem gelang es. Ihre Augenlider wurden wie durch einen Zauber immer schwerer, fielen schließlich zu, und sie schliefen ein.

Als es zu dämmern begann, erwachte der Prinz, und es war ihm, als ob jemand ein scharfes Messer in sein Herz gestoßen habe, als er sah, daß die Prinzessin verschwunden war. Rasch weckte er seine Gefährten, und sie berieten, was nun zu tun sei.

»Sorge dich nicht, Herr«, rief der Scharfsichtige und schaute aus dem Fenster. »Ich sehe die Prinzessin schon! Hundert Meilen von hier entfernt ist ein tiefer Wald, in dessen Mitte eine alte Eiche steht. In ihrer Krone hängt eine Eichel - und diese Eichel ist unsere Prinzessin. Gebiete dem Langen, mich auf seine Schultern zu nehmen, und wir werden dir gemeinsam die Eichel bringen.«

Und der Lange hob ihn auf seine Schultern, streckte sich und eilte mit Meilenschritten dem Walde zu.

Bald waren sie zurück, und der Lange reichte dem Prinzen die Eichel:

»Laß sie zur Erde fallen, Herr!«sprach er.

Der Prinz tat, wie ihm geheißen, und im selben Augenblick schon stand die Prinzessin an seiner Seite.



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Als die Morgenröte den Himmel zu färben begann, sprang die Türe krachend auf, und der Zauberer stand auf der Schwelle. Ein boshaftes Lächeln umspielte seine Lippen. Doch als er die Prinzessin vor sich stehen sah, verfinsterte sich seine Miene, er murmelte unverständliche Worte in seinen Bart, und, siehe da, einer der eisernen Ringe, die seinen Leib umspannten, zersprang und fiel klirrend zu Boden. Er faßte die Prinzessin bei der Hand und verließ mit ihr das Gemach.

Der Prinz und seine Gefährten konnten tagsüber tun, was ihnen beliebte. Sie durchwanderten die Höfe und Hallen des eisernen Schlosses, und überall bot sich ihnen dasselbe eigenartige Bild. Es schien, als wäre plötzlich alles Leben aus den Räumen gewichen. In einem der Säle fanden sie einen jungen Ritter, der mit einem unsichtbaren Feinde kämpfte. Er schwang sein Schwert mit beiden Händen über seinem Kopfe, doch ehe er dem Feinde den tödlichen Schlag versetzen konnte, war er zu Stein geworden. In der Halle erblickten sie einen Edelmann, der vor etwas Grauenhaftem zu fliehen schien und dabei über die Schwelle stolperte. Doch bevor er noch zu Falle kam, war er versteinert. In der Küche neben dem Herde fanden sie den Koch, der eben dabei war, ein Stück Braten zum Munde zu führen. Doch auch er konnte sein Vorhaben nicht beenden, denn ihm war das gleiche Schicksal zuteil geworden, und er wurde mit offenem Munde zu Stein. Und viele andere merkwürdige Gestalten sahen sie, die alle in der gleichen Stellung verblieben waren, in der sie sich befanden, als sie der Fluch des Zauberers traf. Sogar versteinerte Pferde sahen sie im Stalle stehen, und in den Höfen und Gärten erschien alles wie stumm und tot. Die Bäume standen ohne Blätter da, auf den Wiesen wuchs kein Gras, das Wasser im Flusse war erstarrt, kein Vogel sang in den Ästen, keine Blume blühte, und kein Fischlein spielte in den Wellen.

Am Mittag und zum Abendessen fanden der Prinz und seine Begleiter den reich gedeckten Tisch bereit. Von unsichtbaren Händen wurden die Speisen aufgetragen und der Wein eingeschenkt.

Am Abend öffnete sich wiederum die Türe, und der Zauberer führte



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die Prinzessin in den Saal. Die Freunde taten ihr Bestes, um dem Schlafe zu widerstehen, doch ihre Mühe war auch diesmal vergeblich. Wie sehr sie dagegen ankämpften, sie schliefen dennoch ein. Und als es zu dämmern begann und der Prinz aufwachte, sah er zu seinem Schrecken, daß die Prinzessin abermals verschwunden war. Er sprang auf, schüttelte den Scharfsichtigen bei den Schultern und rief:

»Wache auf und hilf mir, die Prinzessin wiederzufinden! Wo ist sie denn heute?«

Der Scharfsichtige rieb seine Augen vom Schlafe frei und blickte aus dem Fenster:

»Ich sehe sie!«rief der. »Zweihundert Meilen von hier entfernt steht ein Berg, in diesem Berge ist ein Felsen eingebettet, und in diesem liegt ein Edelstein. Dieser Edelstein ist unsere Prinzessin! Wenn der Lange mich wieder tragen will, werden wir die Prinzessin rasch zu dir zurückbringen!«

Der Lange hob ihn auf seine Schultern, streckte sich und schritt aus — jeder Schritt zwanzig Meilen. Der Scharfsichtige starrte unverwandt mit seinen feurigen Augen den Berg an, der unter diesen Blicken plötzlich mit lautem Getöse entzweibrach. Die Felsen zerstoben in tausend Stücke, und inmitten des Gerölls glitzerte der Edelstein. Sie hoben ihn auf und brachten ihn dem Prinzen. Als dieser ihn zur Erde fallen ließ, stand wiederum die Prinzessin in ihrer lieblichen Gestalt vor ihnen da.

Als der Zauberer den Saal betrat und die Prinzessin sah, erglühten seine Augen vor Zorn. Klirrend zersprang der zweite eiserne Ring, der seinen Leib umspannte. Er murmelte unverständliche Worte in seinen Bart und führte die Prinzessin aus dem Raume.

Der Tag verging genau wie der vorangegangene, und der Prinz und seine Genossen durchwanderten das eiserne Schloß und dessen Umgebung. Als die Freunde ihr Abendessen beendet hatten, erschien der Zauberer mit der Prinzessin zum dritten Male auf der Schwelle. Voller Haß bohrte sich sein Blick in die Augen des Prinzen, und ein verächtliches Lächeln verzerrte seine Züge.



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»Heute wird die Entscheidung fallen, und wir werden sehen, wer von uns beiden Sieger bleibt!«sprach der Greis und entfernte sich. »Diesmal dürfen wir nicht wieder einschlafen«, riefen die Freunde und wollten keinerlei Mühe scheuen, um wach zu bleiben. Unermüdlich gingen sie im Saale auf und nieder, vermieden es sogar, sich niederzusetzen, doch alle ihre Bemühungen blieben wiederum ohne Erfolg. Einem nach dem anderen fielen langsam im Gehen die Augen zu, sie schliefen ein, und die Prinzessin entschwand wie zuvor.

Als der Prinz als erster am Morgen erwachte und die Prinzessin nicht vorfand, weckte er den Scharfsichtigen. »He, Freund, wache auf und sage mir, wo sich die Prinzessin heute befindet!«

Lange starrte der Scharfsichtige aus dem Fenster.

»Oh, Herr«, sagte er endlich, »sie ist weit , weit weg von hier! Dreihundert Meilen entfernt rauscht das Schwarze Meer. Auf seinem Grunde liegt eine weiße Muschel. In dieser Muschel ist ein goldener Ring eingeschlossen - dieser Ring ist unsere Prinzessin. Sei ohne Sorge, wir werden sie auch diesmal wiederbringen! Doch es ist ein schwieriges Unterfangen, und heute muß der Lange auch noch den Dicken auf seine Schultern nehmen, denn wir werden seine Dienste brauchen.«

Der Lange schulterte die beiden, streckte sich und schritt aus -jeder Schritt dreißig Meilen. Als sie das Schwarze Meer erreicht hatten, deutete der Scharfsichtige auf eine Stelle im Wasser und sagte:

»Hier am Grunde liegt unsere Muschel. Strecke deine Hand aus, Langer, und bringe sie ans Tageslicht!«

Doch wie sich der Lange streckte und bemühte, den Grund zu erreichen, es wollte ihm nicht glücken.

»Haltet ein, Freunde, und wartet ein wenig, ich werde euch behilflich sein!«rief der Dicke und blies sich auf, so stark er es vermochte. Dann legte er sich am Ufer nieder und begann das Wasser in langen Zügen zu schlürfen. Rasch senkte sich die Wasseroberfläche, und der Lange konnte nun den Grund mit seinem ausgestreckten Arm erreichen und die Muschel ans Licht bringen. Er brach sie entzwei, entnahm



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ihr den Ring, hob wiederum seine beiden Gefährten auf die Schultern und eilte mit Riesenschritten zurück, dem eisernen Schlosse zu.

Doch das Gewicht des Dicken, der noch alles Seewasser im Leibe hatte, ermüdete ihn. In einem weiten Tale hielt er im Laufen inne und ließ den Dicken zur Erde gleiten. Kaum hatte dieser den Boden berührt, öffnete er seinen Mund, und das Wasser ergoß sich in Strömen ins Tal, das bald einem großen See glich. Nur mit Mühe konnten sich der Lange und der Scharfsichtige vor den Fluten retten, und selbst dem Dicken fiel es schwer, dem Tode des Ertrinkens zu entrinnen.

Mit Bangen wartete der Prinz im eisernen Schlosse auf die Rückkehr seiner Gefährten. Der Tag begann schon hinter den Bergen zu dämmern, doch von den dreien war noch keine Spur zu sehen. Als sich die ersten Strahlen der Sonne zeigten, wurde sein Herz immer schwerer, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirne.

Bald zeigte sich im Osten die aufgehende Sonne, die gleich einer goldenen Kugel am klaren Himmel hing. Die Türe flog weit auf, und der alte Zauberer erschien wieder auf der Schwelle. Er blickte suchend um sich, und als er den Prinzen allein im Saale stehen sah, stieß er ein höhnisches Gelächter aus und trat ein. Doch seine Freude währte nicht lange, denn mit einem Male zerbrach das Fensterglas, und der goldene Ring flog in den Saal. Als er den Boden berührte, stand die Prinzessin vor ihnen.

Der Scharfsichtige hatte von weitem die Gefahr erkannt, in der sich der Prinz befand. Und als er sah, daß sie nicht mehr vor Sonnenaufgang das eiserne Schloß erreichen konnten, hatte er dem Langen geraten, seinen Arm auszustrecken und den Ring durchs Fenster zu schleudern.

Voll ohnmächtiger Wut kreischte der Zauberer auf, und sein zorniges Gebrüll ließ das eiserne Schloß in den Fugen erzittern. Klirrend fiel nun der letzte eiserne Ring, der seinen Leib umspannte, zu Boden. Im selben Augenblicke hatte er sich in einen schwarzen Raben verwandelt, der krächzend durchs zerschlagene Fenster flog.



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Und allsogleich kam Leben in das bleiche Antlitz der lieblichen Prinzessin. Sie errötete wie eine erblühende Rose und dankte mit süßer Stimme dem Prinzen für ihre Befreiung.

Überall im ganzen Schlosse, in den Sälen, den Gängen, Höfen und im Garten erwachte nun alles zu neuem Leben. Die Bäume begannen zu sprießen, die Blumen zu blühen, die Vögel in den Ästen sangen wieder, und die Fische im Wasser schwammen lustig um die Wette.

Der Ritter, der den Schlag mit seinem Schwerte führen wollte, schwang es nun fröhlich mit beiden Händen über seinem Haupte und stieß es dann in die Scheide zurück. Der Edelmann, der über die Schwelle gestolpert war, fiel auf seine Nase, erhob sich, rieb sie und war hoch erfreut, sie unversehrt zu finden. Der Koch, der neben dem Herde saß und das gebratene Stück Fleisch zum Munde führte, verschlang es nun gierig und voller Lust. Jedermann vollendete die Tätigkeit, die er begonnen hatte, ehe er vom Fluche des bösen Zauberers getroffen worden war.

Von allen Seiten strömten Ritter und Edelleute herbei, um dem Prinzen für ihre Befreiung zu danken. Doch dieser sagte:

»Danket nicht mir, sondern meinen drei treuen Freunden, dem Langen, dem Dicken und dem Scharfsichtigen! Denn wären sie nicht gewesen und hätten mir nicht geholfen, so hätte auch mich das gleiche Los wie euch getroffen, und wir wären alle versteinert.« Bald darauf trat er mit seiner Braut, der lieblichen Prinzessin, dem Langen und dem Scharfsichtigen den Heimweg an. Unterwegs begegneten sie dem Dicken und nahmen auch ihn mit.

Der alte König vergoß Freudentränen, als er seinen schon totgeglaubten Sohn wohlbehalten zurückkommen sah. Es wurde ein prunkvolles Hochzeitsfest gefeiert. Es dauerte volle zwanzig Tage. Alle die Ritter und Edelleute, die der Prinz in dem eisernen Schlosse befreit hatte, waren als Ehrengäste eingeladen.

Als die Festlichkeiten zum Ende kamen, traten die drei treuen Gefährten vor den jungen König, um von ihm und seiner Gemahlin Abschied zu nehmen.



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»Verlasset uns nicht«, bat er sie, »und bleibt für immer hier in meinem Königreiche. Ich will für euch bis an mein Lebensende gut sorgen, und nie mehr sollt ihr eine Arbeit verrichten müssen.«

Doch all seine Versprechungen halfen nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ein tatenloses Leben würde sie nicht freuen, versicherten sie dem jungen König, und so blieb diesem nichts anderes übrig, als sie ziehen zu lassen. Sie nahmen Abschied und gingen in die weite Welt hinaus, wo sie sich ganz sicherlich auch noch am heutigen Tage herumtreiben.


Copyright: arpa, 2015.

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