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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Das Glück und der Verstand

Vor einem schmalen Steg, der über einen kleinen, reißenden Fluß führte, trafen sich an einem schönen Sommermorgen der Verstand und das Glück.



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»Weiche mir aus!« rief das Glück.

Der Verstand, der zu jener Zeit noch recht unerfahren war, wußte nicht, wem der Vortritt gebührte, und sagte drum:

»Warum sollte denn ich dir aus dem Wege gehen? Du bist ja sicher nicht besser als ich!«

»Von uns beiden ist jener der bessere«, antwortete ihm das Glück, »der mehr zu erreichen vermag. Siehst du den jungen Bauernsohn da drüben auf dem Felde, der emsig hinter seinem Pfluge einherschreitet? Folge ihm, und wenn es ihm gelingen sollte, mit deiner Hilfe in der Welt besser vorwärtszukommen als mit der meinigen, will ich dir gerne den Weg freigeben, wann und wo immer noch unsere Wege sich kreuzen sollten.«

Dem Verstand leuchtete der Vorschlag ein. Er eilte dem jungen Bauern nach, der Vanek hieß, schlüpfte ihm ins Ohr und setzte sich in seinem Kopfe fest. Sogleich fing der junge Bauer zu sinnen und zu grübeln an und murmelte vor sich hin:

»Muß ich denn bis zu meinem Lebensende hinter dem Pfluge hertrotten? Vielleicht könnte ich doch auf andere Weise und leichter mein Glück erreichen!«

Er ließ Pflug Pflug sein und lief nach Hause.

»Vater«, sagte er, »die Bauernarbeit freut mich nicht mehr! Ich will lieber Gärtner werden!«

»Hast du denn den Verstand verloren, Vanek?« rief der Vater erschreckt. Aber er faßte sich schnell wieder und sprach: »Wenn du deinen Plan gefaßt hast, führe ihn auch aus! Doch wird dann dein Bruder an deiner Statt nach meinem Tode Haus und Hof erben!« So verlor der gute Vanek sein Erbteil! Er scherte sich jedoch nicht drum, und es war ihm einerlei. Er begab sich zum Gärtner des Königs und bat diesen, ihn in die Lehre zu nehmen. Er lernte schnell, und der Gärtner hatte keine Mühe mit seinem neuen Schüler. Bald wußte Vanek mehr, als sein Meister ihm zeigen konnte, und versah seine Arbeit, ohne groß um Rat und Beistand fragen zu müssen. Der Gärtner sah seinem Schüler mit Mißbilligung zu, doch als er an seinem Werke keinen Fehler finden konnte, sagte er:



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»Ich sehe, daß du mehr Verstand hast als ich, arbeite also, wie du es für richtig hältst!«

Nach kurzer Zeit schon gelang es Vanek, den Garten so zu verschönern und zu veredeln, daß der König Wohlgefallen an ihm fand. Oft konnte man ihn mit der Königin und der Prinzessin im Garten lustwandeln sehen. Die Königstochter war ein wunderschönes Mädchen, aber seit ihrem zwölften Lebensjahre hatte keiner sie auch nur ein Wort sprechen hören. Der König war tief bekümmert und ließ verkünden, daß derjenige, der die Prinzessin wieder zum Sprechen bringen würde, sie zur Gemahlin bekommen sollte.

Aus allen Ländern kamen Könige, Prinzen und andere hohe Herren herbei. Doch allein, wie sie gekommen, verließen sie wiederum das Schloß. Keinem war es gelungen, das Mädchen zum Sprechen zu bringen!

>Warum sollte denn ich nicht auch mein Glück versuchen?< dachte Vanek. >Wer weiß, ob es mir nicht gelingen wird, der Prinzessin eine Antwort auf meine Fragen zu entlocken!<

Gesagt-getan! Erließ sich beim König melden und wurde bald darauf von diesem und seinen Edelleuten ins Gemach der Prinzessin geleitet.

Die Prinzessin besaß ein niedliches, kleines Hündchen, das sie über alles liebte. Dieser Spielgefährte verstand sie und konnte jeden Wunsch von ihren Augen ablesen. Als Vanek mit dem Könige und seinem Gefolge das Gemach der Prinzessin betrat, wandte er sich nur dem kleinen Hunde zu, ohne auch nur einen Blick auf die schöne Prinzessin zu werfen. Er sprach zu dem Tierchen:

»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß du besonders klug und gelehrt bist, und ich komme daher, um deinen Rat einzuholen. Wir waren drei Handwerksburschen, und wir gingen in die Welt, um unser Glück zu suchen. Der älteste war ein Holzschnitzer, der zweite ein Schneider und ich ein Gärtner. Eines Abends kamen wir zu einem tiefen Walde, und als wir von der Dunkelheit überrascht wurden, beschlossen wir, unter den Bäumen zu übernachten. Um uns vor einem Überfall der Wölfe zu schützen, zündeten wir ein Feuer an, und



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einer nach dem anderen sollte Wache halten. Der Holzschnitzer kam als erster an die Reihe. Um nicht einzuschlafen, nahm er einen Holzklotz zur Hand und schnitzte ein schönes Mädchen daraus. Als er seine Arbeit beendet hatte, weckte er den Schneider und bat ihn, die Wache fortzusetzen. Der schlaftrunkene Schneider bemerkte die Holzpuppe in den Armen des Holzschnitzers und fragte neugierig, was dies wohl zu bedeuten habe.

>Wie du siehst, hatte ich vor, meine Wartezeit nützlich zu verbringen, und habe diese Puppe geschnitzt! Falls sie dir gefällt, kannst du für sie Kleider anfertigen!<

Der Schneider ließ sich nicht lange bitten, er nahm Nadel und Schere zur Hand und fing an zu schneidern. Als die Gewänder fertig waren, kleidete er die Puppe an und putzte sie fein heraus. Dann weckte er mich, damit ich die Wache antrete. Und auch ich stellte dieselbe Frage und wollte wissen, woher denn die prächtige Puppe komme. Der Schneider erzählte mir nun, was sich zugetragen hatte, und fügte hinzu:

>Sollte auch dir die Zeit zu lang werden, kannst du die Puppe sprechen lehren!<

Ich machte mich gleich ans Werk, und es gelang mir auch tatsächlich, bis zum Morgengrauen der Puppe das Sprechen beizubringen. Als meine beiden Gefährten früh erwachten, brach ein Streit zwischen uns dreien aus, denn jeder wollte die Puppe für sich behalten. Der Holzschnitzer sagte: >Ich habe sie aus rohem Holze geschnitzt, ich habe das meiste Anrecht an sie!<

Und der Schneider antwortete: >Ich habe sie bekleidet!< Und auch ich wollte meine Rechte wahren und die Puppe für mich behalten. Sage du mir, kluges Hündchen, wem soll die Puppe gehören?«

Das kleine Tier blieb stumm, doch an seiner Statt antwortete die Königstochter:

»Wem anders sollte sie denn gehören als dir? Was könnte denn der Holzschnitzer mit einer leblosen Puppe beginnen? Und was der Schneider? Du allein hast ihr das kostbarste Geschenk verliehen: die Sprache! Deshalb soll sie auch nur dir allein gehören!«



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»Du hast dein eigenes Schicksal entschieden!« rief Vanek. »Denn auch dir habe ich neues Leben gebracht, und deshalb sollst auch du nur mir allein gehören!«

Als des Königs Hofmarschall diese Worte vernahm, rief er voller Zorn aus:

»Unser gütiger König wird dich gewiß für deinen Verdienst reich entlohnen, doch seine Tochter kann niemals deine Gemahlin werden, denn du bist kein Königssohn!«

Auch der König selber schloß sich seinem Marschälle an und sagte:

»Ich will dir Gold und Edelsteine geben -doch meine Tochter kann nur einen Prinzen zum Manne nehmen!«

Vanek aber wollte von Gold und Edelsteinen nichts wissen und rief:

»Du hast dein Wort gegeben und deine Tochter demjenigen zur Gemahlin versprochen, der sie wieder zum Sprechen bringen würde. Dein königliches Wort kann nicht gebrochen werden! Wie könntest du von deinen Untertanen Gehorsam und Ehrfurcht erwarten, wenn du selber deine Versprechen nicht einhalten würdest!«

Da rief der erzürnte Marschall die Wachen herbei und gebot ihnen, den kühnen Jüngling, der es gewagt hatte, dem Könige zu widersprechen, in Ketten zu legen und ins Gefängnis zu werfen.

»Er soll seine Kühnheit mit seinem Kopfe bezahlen!«fügte der König hinzu.

So wurde denn der arme Junge gefesselt, und bald schon war er auf seinem letzten Gang, der ihn zum Schafott führte.

Bis dahin hatte sich das Glück vom Verstande ferngehalten, doch nun wartete es bei der Richtstätte und sprach leise zu ihm:

»Sieh an, wohin du den armen Jungen mit deiner Hilfe gebracht hast! Nun soll er gar enthauptet werden! Weiche und mache mir Platz, damit ich deine Stelle einnehmen kann!«

Sobald das Glück in Vanek eingedrungen war, nahmen die Dinge einen anderen, unerwarteten Verlauf! Das Schwert des Henkers brach entzwei, und bevor noch ein zweites herbeigeschafft werden



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konnte, kam auf einem feurigen Schimmel, lustig ins Horn blasend, ein Bote des Königs herbei. Er schwang eine weiße Fahne, die freudig im Winde flatterte. Ihm folgte der königliche Wagen, der von sechs feurigen Rappen gezogen wurde, um Vanek ins Schloß zu bringen.

Der Königstochter hatte der schmucke Bauernjunge gefallen, und sie wollte ihn gerne zum Gemahl nehmen. Sie überzeugte ihren Vater, daß Vanek im Recht sei und daß ein gegebenes Wort niemals gebrochen werden dürfe.

»Du hast recht, meine Tochter, und für seinen Mut soll Vanek zum Fürsten ernannt werden!«

Sie sandten eilends ihr königliches Gespann, um Vanek vom Schafott zu holen, doch an seiner Stelle wurde der Hofmarschall, der an allem die Schuld trug, hingerichtet.

Und als dann Vanek die Königstochter vom Altare führte, begab es sich, daß auch der Verstand des gleichen Weges kam. Er senkte den Kopf und lief beschämt davon.

Seit jener Zeit aber, wenn der Verstand dem Glücke begegnet, geht er ihm schon von weitem aus dem Wege.


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