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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Die alte Frau und der Tod

Es war einmal irgendwo, jenseits des großen Meeres, ja noch weit hinter dem gläsernen Berg und hinter jenem ganz verfallenen Backofen, der kein Stückchen Mauer mehr hatte und, wo er noch gut war, nicht schlecht war, und, wo er schlecht war, nicht gut war, dort also war einmal neben dem kahlen Hügel bei »Such nicht wo und frag nicht wo« ein Fluß. An dessen Ufer stand eine alte, morsche Weide, auf jedem Zweig dieser Weide hauste eine Herde Flöhe, und der Hirt dieser Flohherde soll derjenige sein, der meinem Märchen nicht aufmerksam zuhört. Und wenn er nur einen einzigen Floh wegspringen läßt, dann soll er auf ein grausiges Blutsaugen gefaßt sein und von den Flöhen zu Tode gebissen werden.

Es war einmal eine sehr, sehr alte Frau. Sie war älter als die Landstraße, älter sogar als die Gärten des lieben Herrgotts. Diese alte Frau dachte nie daran, daß sie einmal werde sterben müssen; auch als sie nur noch mümmeln konnte, dachte sie nicht daran, sie arbeitete nur immer, sie war wie besessen hinter dem Reichtum her. Sie holperte und stolperte herum, scharrte und raffte alles zusammen; am liebsten hätte sie die ganze Welt verschlungen, dabei war sie mutterseelenallein, hatte niemanden bei sich, kein einziges, noch so winziges Lebewesen. Aber ihr Eifer war nicht umsonst; man sah ihr an, was dabei herauskam: sie wurde dick und fett. Und sie hatte in ihrem Haus vom kleinsten Beil bis zum größten Beil alles, was man brauchte.

Einmal aber kreidete der Tod auch ihren Namen an, und er ging zu ihr, um sie zu holen. Die alte Frau aber wollte sich durchaus nicht von ihrem Reichtum trennen und bat den Tod flehentlich, ihr noch ein bißchen Zeit zulassen, nur zehn Jahre noch oder fünf, oder auch nur ein Jahr. Der Tod wollte aber nicht drauf eingehen, sondern sagte: »Mach dich schnell bereit und dann komm! Wenn du nicht kommst, schleppe ich dich einfach weg!«

Doch die alte Frau flehte und bettelte weiter, er möge ihr noch etwas Zeit lassen, wenn auch nicht viel, so doch ein ganz klein wenig. Mit



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dem Tod ist nicht leicht zu reden; am Ende aber setzte die alte Frau es dennoch durch, daß er sagte:

»Nun gut, ich lasse dir noch drei Stunden Zeit.«

»Das ist zu wenig«, sagte die Mümmelgreisin, »hol mich nicht heute, sondern schiebe es bis morgen auf.«

»Das geht nicht.«

»Doch, bitte, doch. Es wird schon gehen.«

»Nein, es geht nicht.«

»Sei doch nicht so!«

»Also, wenn du so sehr darauf bestehst«, sagte der Tod, »meinetwegen.«

»Und ich möchte dich noch um etwas bitten... schreibe draußen an die Tür, daß du morgen kommst. . Ich bin dann sicherer, wenn ich's auf der Tür geschrieben sehe.«

Der Tod wollte nicht noch mehr Zeit bei der Alten verbringen, stritt also nicht lange, sondern nahm die Kreide aus der Tasche, schrieb draußen auf den oberen Teil der Tür »Morgen« und ging seiner Wege.

Am nächsten Tag gleich nach Sonnenaufgang kam der Tod zu der alten Frau. Sie lag noch unterm Federbett, und der Tod sprach:

»So, jetzt komm mit!«

»Du irrst dich«, sagte die Alte, »sieh doch nach, was auf der Tür geschrieben steht.«

Der Tod blickte hin und sah, daß dort stand: »Morgen.« »Richtig!« sagte er. »Morgen hole ich dich aber bestimmt!« Damit zog er ab.

Der Tod hielt Wort: am folgenden Tag kam er wieder, als die alte Frau sich noch im Bett reckte und streckte. Doch wieder erreichte er nichts, denn sie zeigte nach der Tür, auf der geschrieben stand: »Morgen.«

So ging das eine Woche lang. Schließlich bekam der Tod den Spaß satt. Am siebenten Tage sagte er zu der Alten: »Noch einmal wirst du mich nicht überlisten! Ich brauche die Kreide und nehme sie mit.« Und erwischte die Schrift von der Tür ab. »Morgen«, sagte er, »versteh



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mich recht, morgen komme ich und nehme dich mit!«Der Tod ging fort. Der alten Frau blieb vor Angst und Schrecken der Mund offen; es war ihr klar, daß sie morgen sterben müßte, ob sie wollte oder nicht. Sie zitterte wie ein Pudding, so sehr fürchtete sie sich. Als der Morgen graute, wußte sie sich vor Angst nicht mehr zu lassen; am liebsten hätte sie sich vor dem Tod in eine leere Flasche verkrochen, wenn das bloß möglich gewesen wäre. Sie überlegte hin und her, wo sie sich verstecken könnte. In der Vorratskammer hatte sie ein Faß Honig; dahinein setzte sie sich, nur Nase, Augen und Mund sahen noch aus dem Honig hervor. >Wenn er mich aber auch hier findet?<überlegte sie. >Ich krieche wohl besser ins Federbett hinein!<

Sie kletterte also aus dem Honig heraus und kroch ins Federbett zwischen die Federn. Dann aber hielt sie auch das für kein gutes Versteck, darum wollte sie wieder heraus, um einen besseren Platz zu suchen. Und als sie gerade beim Herauskriechen war, kam der Tod. Der aber konnte sich nicht ausdenken, was für ein Wunderding da kroch. Er erschrak dermaßen, daß er das Gruseln bekam und davonlief. Er rannte, was er konnte, und macht vielleicht noch bis zum heutigen Tage einen großen Bogen um die alte Frau.


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