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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Vom Königssohn, der unsterblich sein wollte

Es war einmal irgendwo, siebenmal sieben Länder weit und noch weiter, jenseits des großen Meeres, hinter einem alten Herd in der Mauerspalte, in der siebenundsiebzigsten Falte vom Rock der Muhme -ein weißer Floh und in dessen Mitte eine prächtige Königsstadt. In der Stadt aber lebte ein alter König; der hatte einen recht wackeren Sohn, von dem er sich für die Zukunft viel erhoffte. Deshalb ließ er ihn auf allen Schulen studieren und schickte ihn nachher noch in fremde Länder, daß er die Welt kennenlerne. So blieb der Prinz gar manches Jahr in der Fremde, bis er schließlich dem Vater zuliebe zurückkehrte und sich in der Heimat niederließ. Die vielen Reisen hatten aber den Königssohn völlig verändert - er war nachdenklich und traurig geworden. Das verwunderte den alten König sehr, und er dachte nach, was für einen Grund diese große Veränderung wohl haben mochte. Er sagte aber niemandem etwas davon, sondern trug es mit sich selber aus, bis er schließlich auf den Gedanken kam, daß der Königssohn einfach verliebt und darum so versonnen sei. Als nun der König und sein Sohn einmal allein im Speisesaal der königlichen Residenz waren, faßte der König seinen Sohn am Arm und führte ihn in ein Nebenzimmer, dessen Wände mit einer Menge von Bildern allerschönster Mädchen geschmückt waren. Hier sprach der König zu seinem Sohn:

»Warum bist du so unlustig, mein lieber Sohn? Es erschiene mir gut, wenn du heiratetest. Sieh dich doch mal in diesem Zimmer um. Auf



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den Bildern siehst du die Töchter sämtlicher Kaiser, Könige und Fürsten. Sage mir, welche dir am besten gefällt! Ich will dich mit ihr vermählen, denn ich wünsche, daß du fröhlich und glücklich wirst.«

»Ach, mein lieber Vater und König«, antwortete darauf der Königssohn, »über Liebe und Ehe mache ich mir keine Sorgen. Mich bedrückt der Gedanke, daß jeder Mensch, auch jeder König, einmal sterben muß. Ich möchte ein Reich entdecken, in dem der Tod keine Macht hat. Und ich habe mir fest vorgenommen, so weit zu gehen — und wenn ich mir dabei die Beine bis zu den Knien abwetzen müßte -, bis ich ein solches Land gefunden habe.«

Der alte König versuchte, seinen Sohn von diesem Vorhaben abzubringen; er sagte ihm, daß es das nicht gebe, daß er nun schon seit fünfzig Jahren König in seinem Lande sei und immer zufrieden und glücklich gelebt habe. Nun biete er ihm an, statt seiner König zu sein, nur damit er fröhlich werde und in der Heimat bleibe. Der Königssohn aber hielt an seinem Vorhaben fest, umgürtete sich am nächsten Morgen mit seinem Schwert und machte sich auf den Weg.

Als er nach mehreren Tagereisen das Reich seines Vaters hinter sich gelassen hatte und auf der Straße dahinging, sah er von weitem einen riesengroßen Baum, in dessen Krone ein Adler schwebte. Beim Näherkommen sah er, daß der große Adler in die obersten Zweige des Baumes niederstieß, so daß sie auseinanderwirbelten. Während er noch erstaunt zusah, besann sich der Adler mit einemmal, flog zu ihm herunter, schlug einen Purzelbaum, verwandelte sich in einen König und fragte den staunenden Königssohn:

»Was gaffst du da, Jüngling?«

»Ich überlege mir gerade, warum du wohl die Baumkrone derart zerfledderst.

Darauf antwortete der Adlerkönig:

»Siehe, ich bin verflucht: weder ich noch irgendeiner von meiner Sippe kann sterben, solange ich diesen Baum nicht mit Stumpf und Stiel zerfleddert habe. Nun aber ist es schon wieder Abend -heute arbeite ich nicht mehr. Ich gehe heim und sehe dich, den Reisenden, gerne als Gast in meinem bescheidenen Haus.« Der Königssohn



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sagte zu, und sie spazierten in die Residenz des Adlerkönigs. Dieser aber hatte eine wunderschöne Tochter, die ihren Vater und den Gast begrüßte, den Tisch decken und ihnen das Abendessen auftragen ließ. Während des Essens plauderte der Adlerkönig mit seinem Gast. Schließlich fragte er ihn, wohin er eigentlich reise, und der Königssohn gab kund, daß er so lange reisen wolle, bis er ein Reich gefunden habe, in dem der Tod keine Macht hat.

»Na, lieber Sohn«, sagte der Adlerkönig, »da bist du ja gerade am rechten Ort. Hast du denn nicht gehört, daß der Tod weder über mich noch über meine Sippe Macht besitzt, solange ich den großen Baum nicht mit Stumpf und Stiel zerfleddert habe? Bis dahin aber werden noch gut sechshundert Jahre vergehen. Heirate also meine Tochter, und ihr könnt lange genug hier bei mir leben.«

»Ja, mein lieber Herr und König, das wäre alles gut und schön, wenn wir nicht nach sechshundert Jahren schließlich doch sterben müßten; ich aber suche einen Ort, wo der Tod niemals Macht hat.«

Auch die Königstochter bat ihn, doch bei ihnen zu bleiben, denn die beiden hatten sich bereits angefreundet; aber sie konnte ihn auf keine Weise überreden. Weil sie ihn nicht ohne Andenken ziehen lassen wollte, gab sie ihm schließlich eine Schachtel, die innen auf dem Boden ihr Bildnis trug, und sagte:

»Also, du Königssohn - da du nun einmal nicht bei mir bleiben willst, nimm wenigstens dieses Andenken. Es hat eine wunderbare Eigenschaft. Wenn du müde bist vom Umherziehen auf dieser Erde, dann nimm die Schachtel, sieh dir mein Bild an und wünsche dir dabei, wie du reisen möchtest. Gefällt es dir in der Luft, dann wird dort, wo du stehst, ein starker Luftzug entstehen, der dich in die Höhe trägt, rascher als der Gedanke oder der Wirbelwind.«

Der Königssohn bedankte sich schön für die Schachtel und steckte sie in die Tasche. Am andern Tag nahm er Abschied vom Adlerkönig und machte sich auf den Weg. Eine Weile ging er zu Fuß auf der Landstraße. Nach einiger Zeit begann er müde zu werden, und er besann sich auf die Schachtel. Er nahm sie heraus, öffnete sie, besah sich das Bild der Königstochter und dachte dabei: >Ich möchte eilen



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wie der rasche Wind!< Im selben Augenblick wurde er in die Luft gehoben, und vorwärts ging's wie der rasche Wind.

Als er eine gute Weile so durch die Lüfte geflogen war, kam er an einem sehr hohen Berg vorbei. Da sah er, wie ein kahlköpfiger Mann mit Hacke und Spaten Erde vom Gipfel des Berges in einen Korb schaufelte und zu Tale trug. Der Königssohn wunderte sich und hielt an. Auch der Kahlköpfige blieb stehen und fragte den Königssohn:

»Was gaffst du, Jüngling?«

»Ich möchte wohl wissen, wohin Ihr den Korb voll Erde tragt.«

»Ja, lieber Sohn«, sagte der Alte, »ich bin verflucht: weder ich noch irgendeiner von meiner Sippe kann sterben, solange ich diesen großen Berg nicht mit diesem Korb abgetragen und die Stelle völlig eingeebnet habe. Aber es geht bereits auf den Abend zu, heute arbeite ich nicht mehr.«Damit schlug er einen Purzelbaum und verwandelte sich in einen kahlköpfigen König, trat vor den fahrenden Königssohn und lud ihn ein, bei ihm zu nächtigen.

Sie gingen in die Residenz des Königs Kahlkopf, der eine noch hundertmal schönere Tochter hatte als der vorige. Sie empfing ihn herzlich und ließ ihm ebenfalls ein Abendessen vorsetzen. Während des Essens fragte der kahlköpfige König den fahrenden Königssohn, wie weit er denn noch zu reisen gedenke, worauf der Königssohn, ähnlich wie zuvor, antwortete, er suche ein Land, in dem der Tod keinerlei Macht hat.

»Da bist du ja gerade am rechten Ort«, sagte König Kahlkopf, »denn wie ich dir schon sagte, bin ich verflucht: weder ich noch irgendeiner von meiner Sippe kann sterben, solange ich den großen Berg nicht abgetragen habe, und darüber werden gut noch achthundert Jahre vergehen. Heirate meine Tochter - ich sehe ja, ihr seid euch nicht zuwider -, und achthundert Jahre sind Zeit genug zum Leben.«

»Das wohl«, sagte der Königssohn, »ich will aber dorthin, wo der Tod niemals Macht hat.«Und er schickte sich an, aufzustehen, sagte gute Nacht und ging schlafen. Am nächsten Morgen standen alle früh beizeiten auf, und die Königstochter bat den Königssohn noch



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einmal, bei ihnen zu bleiben. Der aber wollte das nun und nimmer, und damit er nicht ohne jedes Andenken fortgehe, gab ihm die Königstochter einen goldenen Ring, der seinen Träger sofort an den Ort versetzte, an dem er zu sein wünschte, wenn er nur an ihm drehte. Der Königssohn bedankte sich für den Ring, nahm Abschied und machte sich auf den Weg.

Eine Weile zog er auf der Landstraße dahin, da fiel ihm der Ring ein. Er drehte ihn am Finger und wünschte sich, am Ende der Welt zu sein. Er machte nur kurz die Augen zu, und als er sie wieder öffnete, fand er sich in der Mitte einer prächtigen Königsstadt. Da ging er in den Straßen auf und ab, sah viele wundervoll gekleidete und wohlgestalte Menschen und versuchte sich in siebenundzwanzig Sprachen - so viele Sprachen konnte der Königssohn -mit ihnen zu verständigen, aber niemand antwortete ihm. Da wurde er traurig. Was sollte er auch hier anfangen, wo er mit keinem sprechen konnte! Niedergeschlagen ging er hin und her, bis er plötzlich einen Mann bemerkte, der die in seinem eigenen Lande üblichen Kleider trug. Er redete ihn in seiner Muttersprache an. Der andere konnte ihn verstehen, und so fragte ihn denn der Königssohn, was das für eine Stadt sei. Der Mann erklärte, es sei die Hauptstadt vom Lande des blauen Königs, der zwar schon gestorben sei, aber eine schöne und liebreiche Königstochter zurückgelassen habe, die über sieben Länder herrsche, weil sonst niemand mehr von der königlichen Sippe lebe. Der Königssohn war mit der Auskunft zufrieden und fragte den Mann, ob er ihm diese königliche Residenz zeigen könne. »Recht gern«, sagte der Mann und führte den Königssohn zur Residenz, wo er Abschied von ihm nahm.

Der Königssohn ging ins Schloß. Da saß die Königstochter auf der Treppe und stickte. Er ging geradewegs auf sie zu. Die Königstochter erhob sich von ihrem Sitz, und als sie erkannte, daß er kein alltäglicher Mensch war, führte sie ihn in den Palast und bewirtete ihn königlich. Nachdem sie von verschiedenen Dingen gesprochen und die Königstochter die Absicht des Königssohns erfahren hatte, bat sie ihn, bei ihr zu bleiben und ihr beim Regieren zu helfen. Er aber erklärte,



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er wolle sich nur in einem Lande niederlassen, in dem der Tod keine Macht habe. Da nahm die Königstochter seinen Arm und führte ihn bis an die Tür eines Nebenzimmers, in dem der Fußboden mit Nähnadeln derart über und über gespickt war, daß man auch nicht eine einzige mehr hätte hineinstechen können.

»Ach, du Königssohn«, sagte nun die Königstochter, »siehst du diese Unzahl von Nähnadeln? Ich bin verflucht, denn weder ich noch jemand von meiner Familie kann sterben, solange ich diese vielen Nadeln nicht verwetzt habe. Bis dahin aber werden wohl gut tausend Jahre vergehen. Wenn du also bei mir bleibst, dann können wir lange genug leben und herrschen.«

»Das wohl«, sagte der Königssohn, »aber nach tausend Jahren müssen wir doch sterben. Ich aber suche ein Land, in dem der Tod niemals Macht hat.«

Wie sehr sich die Königstochter, die da sticken mußte, auch bemühte, dem Königssohn seine Absicht auszureden, so erklärte dieser schließlich doch, daß er nicht bleiben, sondern den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen wolle. Da trat sie zu ihm und sagte:

»Wenn ich dich auf keine Weise zurückhalten kann, so nimm wenigstens diese goldene Rute als Andenken. Sie hat die Eigenschaft, sich im Fall der Not genau in das zu verwandeln, was du gerade willst.« Er bedankte sich für die Gabe, steckte sie in die Tasche, verabschiedete sich und machte sich wieder auf den Weg. Kaum hatte er die Stadt hinter sich gelassen, als er an einen großen Fluß kam und sah, daß am andern Ufer bereits die Vorhänge des Himmels herabgelassen waren und man nicht weitergehen konnte, weil die Welt dort zu Ende war. So ging er nun stromaufwärts am Fluß entlang. Nachdem er schon eine gute Weile gegangen war, bemerkte er mit einemmal ein prächtiges Königsschloß, das über dem Fluß in der Luft hing und weder durch einen Weg noch durch eine Brücke mit der Erde verbunden war; so aufmerksam er auch ausschaute, er konnte nichts dergleichen entdecken. Und doch hätte er gar zu gern einen Blick in das großartige Schloß getan. Da fiel ihm die goldene Rute ein, die Gabe der Königstochter, die da sticken mußte. Er nahm sie heraus



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und warf sie auf den Boden mit dem Wunsch, sie möge sich in einen Steg verwandeln, der in das wunderschöne Königsschloß führt. Sogleich wurde aus der Rute ein goldener Steg, der zu dem herrlichen Schloß hinaufführte. Er überlegte nicht lange, sprang auf den goldenen Steg und ging auf das Schloß zu.

Als er aber durchs Tor ging, sah er allerlei Wundertiere, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, die das Schloß hüteten und sicherten. Er erschrak und gab seinem Säbel den Befehl: »Säbel aus der Scheide!« Der Säbel flog aus der Scheide und schlug einigen den Kopf ab, aber sogleich wuchsen ihnen neue Köpfe. Da erschrak er noch mehr, befahl seinem Säbel: »Zurück in die Scheide!«und blieb völlig verdutzt stehen. Die Königin des Schlosses hatte vom Fenster aus alles gesehen. Sie schickte einen Diener, damit dem Fremden kein Leid angetan werde; auch befahl sie dem Diener, den Reisenden zu ihr zu führen. So geschah es. Der Diener lief rasch auf den Hof und führte den Königssohn durch die Wachen vor die Königin des Schlosses.

Als der Königssohn vor der Königin stand, fing diese an zu sprechen:

»Ich sehe, daß du kein gewöhnlicher Mensch bist. Aber ich will wissen, wer du bist und was dein Begehr ist.« Er sagte ihr, wessen Königs Sohn er sei und daß er aufgebrochen sei, ein Land zu entdecken, in dem der Tod keine Macht hat.

»Nun, da bist du am rechten Ort«, sagte die Königin, »denn ich bin die Königin des Lebens und der Unsterblichkeit. Hier bist du vor dem Tode in Sicherheit.«Sogleich ließ sie ihn niedersitzen, versorgte ihn auf freundlichste und lud ihn bald zu Tisch.

Volle tausend Jahre blieb der Königssohn in diesem großartigen Schloß. Diese lange Zeit verging aber so rasch wie sonst ein halbes Jahr.

Als die tausend Jahre um waren, schien es dem Königssohn eines Nachts im Traum, als wäre er zu Hause und ergötzte sich mit Vater und Mutter. Da packte ihn das Heimweh so heftig, daß er am Morgen, als er aufstand, der Königin der Unsterblichkeit sogleich kundtat, er wolle heim, um Vater und Mutter noch einmal zu sehen. Die



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Königin der Unsterblichkeit wunderte sich über diese Rede und sagte:

»Ach, du Königssohn, was läßt du dir einfallen? Dein Vater und deine Mutter sind ja seit mehr als achthundert Jahren tot! Kein Staubkorn ist von ihnen übriggeblieben, nichts da unten erinnert mehr an sie.«

Aber der Königssohn ließ sich von seiner Absicht nicht abbringen. »Nun, wenn du wirklich gehen willst«, sagte die Königin darauf, »dann komm zuerst mit mir, damit ich dich für den Weg ausrüsten lasse.«

Sogleich hängte sie ihm eine goldene und eine silberne Flasche um den Hals, führte ihn dann in ein kleines Nebenzimmer und wies auf eine Klappe in der Ecke; diese öffnete sie und sprach:

»Fülle deine silberne Flasche mit der Flüssigkeit, die du hier unter dem Deckel siehst. Sie hat die Eigenschaft, daß jeder, den du damit besprengst, sofort des Todes ist, und hätte er auch tausend Leben.«

Dann führte sie ihn in ein anderes Gemach. In der Ecke war eine ähnliche kleine Klappe zu sehen. Auch diese öffnete sie und füllte die goldene Flasche mit der Flüssigkeit, die sich darunter befand. Dann sprach sie: »Höre, du Königssohn, die Flüssigkeit, die dem Fels der Ewigkeit entspringt, hat die Eigenschaft, daß jeder Tote, den du damit besprengst - und wenn er auch vor viertausend oder fünftausend Jahren gestorben wäre und du nur ein kleines Knöchlein von ihm hättest-, sofort gesund zum Leben erwacht.«

Der Königssohn bedankte sich für die Gaben der Königin der Unsterblichkeit, verabschiedete sich von ihr und dem ganzen Hof und machte sich auf den Weg.

Bald kam er in die Stadt der Königstochter, die da sticken mußte; aber er erkannte die Stadt kaum wieder, so hatte sie sich verändert. Er eilte in die königliche Residenz; doch darin war es so still, als wohne niemand mehr darin. Er ging hinauf in das Schloß, und als er das Wohnzimmer betrat, sah er dort die Königstochter über ihre Handarbeit geneigt. Sie war wohl eingeschlafen. Leise schlich er sich zu ihr und rief sie an, aber sie antwortete nicht; er zupfte sie an ihrem



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Kleid, aber sie bewegte sich nicht. Er lief in das Zimmer, das mit Nadeln gefüllt gewesen war, aber da war keine einzige Nadel mehr: die allerletzte stak zerbrochen in der Handarbeit der Königstochter - und so war sie also gestorben. Da nahm er die goldene Flasche und besprengte die Königstochter mit dem Lebenselixier. Sie regte sich sogleich, hob den Kopf und begann zu sprechen. Das erste, was sie sagte, war:

»Oh, lieber Freund, es ist gut, daß du mich geweckt hast -ich muß lange geschlafen haben!«

»Du hättest wohl geschlafen, solange die Welt besteht«, sagte der Königssohn, »wenn ich dich nicht zum Leben erweckt hätte.« Da wußte die Königstochter, daß sie gestorben war und daß der Königssohn sie zum Leben erweckt hatte, und sie bedankte sich schön und versprach, ihm seine Wohltat mit Gutem zu vergelten.

Nachdem der Königssohn sich verabschiedet hatte, ging er geradenwegs zu König Kahlkopf, und schon von weitem sah er, daß er sich den Korb unter den Kopf geschoben, Hacke und Spaten neben sich gelegt hatte und gestorben war. Auch hier nahm er die goldene Flasche, besprengte König Kahlkopf mit der Flüssigkeit und erweckte ihn so zum Leben. Auch dieser versprach ihm Gutes für die Wohltat, und der Königssohn verabschiedete sich von ihm und machte sich auf zum Adlerkönig.

Da sah er, daß der Adlerkönig den großen Lebensbaum mit Stumpf und Stiel zerfleddert hatte, daß auch vom kleinsten Ast kein Stäubchen mehr übriggeblieben war. Der Adlerkönig selbst aber lag mit ausgebreiteten Flügeln da, die Nase in die Erde gedrückt, und war tot. Schon fraßen ihn die Fliegen. Der Königssohn nahm die goldene Flasche, goß einen Tropfen auf den Adlerkönig, und auch dieser begann sogleich, sich zu regen; dann rappelte er sich auf und sagte: »Huuu, wie lange ich geschlafen habe -Dank, daß du mich geweckt hast, lieber, guter Freund.«

»Du hättest wohl geschlafen, solange die Welt besteht«, sagte der Königssohn, »wenn ich dich nicht zum Leben erweckt hätte.« Da wußte der Adlerkönig, daß er tot gewesen war. Er erinnerte sich



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des Königssohns und dankte ihm, daß er ihn hatte auferstehen lassen. Und er versprach, die Wohltat mit Gutem zu vergelten.

Der Königssohn verabschiedete sich vom Adlerkönig, machte sich auf den Weg und kam bald in der königlichen Stadt seines Vaters an. Schon von weitem sah er, daß die königliche Residenz versunken und kein Staubkorn mehr davon übriggeblieben war. Er ging näher heran und fand einen Schwefelsee an ihrer Stelle, der mit blauer Flamme brannte wie ein guter Zwetschgenbranntwein. Da verlor der Königssohn alle Hoffnung, Vater und Mutter je wiederzusehen, und in seinem Kummer wandte er sich ab, um fortzugehen. Als er aber gerade die Stadt verlassen wollte, rief ihm jemand nach: »Halt, junger König, du bist am rechten Ort! Seit tausend Jahren suche ich dich ohne Unterlaß!«

Der Königssohn sah sich um und erkannte, daß es der alte Tod war, der ihn angerufen hatte. Da griff er schnell nach dem Ring an seinem Finger, drehte ihn und war so rasch wie der Gedanke beim Adlerkönig, von dort ebenso rasch beim König Kahlkopf und dann bei der Königstochter, die nun nicht mehr sticken mußte, und alle bat er, ihr ganzes Heer aufzubieten, um den Tod zurückzuhalten, bis er selber zur Königin der Unsterblichkeit gelangt sei. Aber der Tod war ihm so dicht auf den Fersen, daß er den Königssohn, der bereits mit einem Fuß im Schloß der Königin der Unsterblichkeit stand, noch am andern Fuß packen konnte. Er sagte zu ihm:

»Halt! Du bist mein!«

Die Königin der Unsterblichkeit bemerkte den Vorgang vom Fenster aus, rief hinunter und schimpfte mit dem Tod, was er denn in ihrem Lande suche, in dem er doch keine Macht habe.

Der Tod aber sagte:

»Das eine Bein ist in meinem Land und gehört mir.«

»Ja, aber das andere gehört unbedingt mir«, rief die Königin der Unsterblichkeit, »und was hast du davon, wenn wir ihn halbieren? Eine Hälfte hat weder für dich noch für mich Wert. Darum schlage ich dir vor, komm herein zu mir -dieses eine Mal will ich es dir gestatten -, und laß uns die Sache durch eine Wette entscheiden.« Der



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Tod willigte ein, ging in das Schloß der Königin der Unsterblichkeit, und sie schlug ihm vor, sie wolle den Königssohn mit einem Fußtritt in den siebenten Himmel hinter dem Morgenstern befördern. Wenn sie ihn so gerade hinaufstoßen könne, daß er in die Burg zurückfalle, dann sollte er ihr gehören; falle er aber außerhalb der Burgmauer nieder, dann solle er des Todes sein. Der Tod war mit dieser Wette einverstanden.

Nun stellte die Königin den Königssohn in die Mitte der Burg, schob ihren Fuß unter seine Füße und stieß ihn hinauf in die Sterne, daß er nicht mehr zu sehen war. Aber bei der großen Anstrengung kam die Königin ein wenig ins Schwanken. Sie erschrak darüber sehr, denn sie fürchtete, der Königssohn könne dadurch vielleicht außerhalb der Burgmauer herunterfallen. Sie wartete deshalb gespannt auf den Augenblick, in dem er wieder zum Vorschein kommen würde. Bald sah sie ihn auch - so groß wie eine Wespe - und maß mit den Augen, wo er wohl hinfallen werde. Er aber fiel haargenau auf die Burgmauer. Wieder erschrak die Königin, aber ein schwacher Südwind half gerade noch so viel nach, daß der Königssohn nach innen, knapp neben die Mauer gefallen wäre, wenn der Tod nicht nach ihm gegriffen hätte. Die Königin aber sprang hinzu, hob ihn wie einen leichten Ball auf und trug ihn auf den Armen ins Schloß. Als sie sah, daß ihm ein bißchen schwindlig war, küßte sie ihn, damit er zu sich komme.

Dann befahl sie dem Volk des königlichen Hofes, Besen zu greifen, diese anzuzünden und mit diesen feurigen Besen den Tod aus ihrer Burg hinauszufegen. Dem Tod aber verbot die Königin der Unsterblichkeit, sich je wieder bei ihr blicken zu lassen.

Der Königssohn und die Königin leben noch heute in Glück und Ruhm, und wer es nicht glauben will, suche am Ende der Welt die in der Luft schwebende Burg der Königin der Unsterblichkeit, und wenn er sie gefunden hat, kann er sich auf der Stelle davon überzeugen, daß dieses Märchen die Wahrheit spricht.


Copyright: arpa, 2015.

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