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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Der arme Bauer und der König

Es war einmal ein armer Bauer, dessen einziger Reichtum eine Kuh war. Diese Kuh war so mager, daß man ihre beiden Seiten glatt zu einer einzigen hätte zusammenklappen können, und ihre Zähne waren vor Alter derart abgenutzt, daß sie das harte Gras, das am Wegrand wuchs und ihr einziges Futter war, nicht mehr kauen konnte. Eines Tages nun, als sie beim Weiden den Klee und das süße Gras jenseits der Hecke schnupperte, riß sie sich vom Strick los, lief durch eine Lücke in der Hecke und gelangte so auf das Gebiet des Edelmanns, der auch der Gutsherr des Bauern war.

Der Verwalter des Edelmanns zückte voller Wut sein großes Messer, das er sonst nur auf der Bärenjagd benutzte, und schnitt der armen Kreatur den Hals durch. Der Bauer und dessen Frau waren über den Verlust der Kuh völlig verzweifelt. Schließlich aber nach langem Wehklagen schlug die Bäuerin ihrem Mann vor, sich Hände und Gesicht zu waschen, seinen langen Friesrock anzuziehen, zum Gutsherrn zu gehen und von ihm Ersatz für den erlittenen Verlust zu erbitten. Aber das Unternehmen ging schlecht aus. Der Verwalter stand bei seinem Herrn in sehr gutem Ansehen, und deshalb wurde dieser zornig und befahl seinen Dienern, den dreisten Bauern über eine Bank im Hofe zu legen und ihm wegen dieser aufdringlichen Beschwerde zehn kräftige Peitschenhiebe zu verabreichen.

Der Bauer humpelte heim und erzählte seiner Frau völlig verbittert, wie alles ausgegangen war.

»Wenn unser Herr selber uns nicht Gerechtigkeit geben will«, sagte die Bauersfrau, die ein mutiges Herz und einen klugen Kopf besaß, »dann laß uns gleich die Sache dem König vortragen. Unser König ist ein guter Regent, ihm wird es sicher leid tun, was unserer Kuh angetan wurde, und er wird rasch ein gerechtes Urteil sprechen.«

Nun bereiteten sie ein Stück Birkenrinde vor, indem sie es mit einem Messer so lange schabten, bis es glatt war, und gruben dann mit demselben Messer Linien und Figuren hinein. Die eine Zeichnung sollte ihre Hütte darstellen, eine andere die Hecke und das Land des



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Gutsherrn, eine andere wieder den Weg, den die Kuh gelaufen war, oder die undichte Stelle in der Hecke, durch die sie auf das Kleefeld kam, dazu auch die Stelle, an der sie von dem bösen Verwalter erstochen wurde. Daneben machte der Bauer eine Zeichnung, auf der die Bank dargestellt war, auf der er selbst lag und die zehn Peitschenhiebe erhielt, die ihm die Diener des Gutsherrn verabfolgten.

Nachdem alles fertig war, befestigte die Frau das Brett auf dem Rücken ihres Mannes und bat ihn, nun bloß keine Zeit mehr zu verlieren, sondern zum König zu gehen und diesem alles zu zeigen, was sie aufgeschrieben hatten. Dann packte sie ein Roggenbrot und ein Stück geräuchertes Schweinefleisch in ein Tuch, hängte ihm das Bündel über die Schulter, gab ihm seinen Stock in die Hand, und er ging nun los, um den König aufzusuchen.

Als er so dahinschritt, kam er auch in einen großen Wald, und als er tief darinnen war, traf er auf einen Jäger in grünem Kleid, der einen Hut mit einer Adlerfeder trug und an den Füßen rindslederne Schuhe. Der Bauer begrüßte ihn auf fromme Weise: »Gelobt sei Jesus Christus!« —»In Ewigkeit, Amen!«erwiderte der Jäger. »Woher kommt ihr, braver Mann, und wohin soll's denn gehen?«

»Ach, ich suche den König«, erwiderte der Bauer. »Ich will ihm das Brett zeigen, das ich, wie Ihr seht, auf dem Rücken trage. Darauf habe ich mit meiner Frau zusammen unsere Bittschrift gezeichnet.« »Was ist das denn für eine Bittschrift?« wollte der Mann im grünen Anzug wissen.

»Bei Gott«, sagte der Bauer, »das ist eine traurige Bittschrift, denn sie handelt vom Tode unserer armen Kuh. Aber ich bin schon so lange unterwegs und habe einen mächtigen Hunger. Wenn es Euch recht ist, möchte ich hier etwas ausruhen und Euch die Geschichte erzählen, und wenn Ihr wollt, will ich gern mein Brot mit Euch teilen.«

Der Jäger, der den ganzen Tag hindurch auch noch nichts gegessen hatte, nahm das Angebot des Bauern gern an. Nachdem sie gegessen und aus dem Bach getrunken hatten, fragte der Jäger: »Und was wollt Ihr nun beim König?«



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Drauf zog der Bauer das Brett, das er noch immer auf dem Rücken trug, herunter und zeigte dem Grüngekleideten alles, was sie darauf eingezeichnet hatten.

»Hier«, sagte er, »ist meine Hütte, hier ist das Gut unseres Herrn und hier das Kleefeld. Hier ist das Loch, durch das meine Kuh durch die Hecke kam, und hier der Platz, an dem der Verwalter ihr sein Jagdmesser in den Hals stieß. Hier, das ist die Bank, auf die sie mich warfen, und das hier sind die zehn Stockschläge, die mir die Diener auf Befehl unseres Herrn verabreicht haben.«

Und auf diese Weise beschrieb er die ganze Geschichte und erzählte, wie dann seine Frau ihm geraten habe, loszuziehen und ihre Sache dem König vorzutragen.

»Nun, dann geh nur hübsch weiter«, sagte der Jäger, »suche den König auf und zeige ihm, was du da aufgeschrieben hast, genauso, wie du es mir hier gezeigt hast, und du wirst sehen, daß er ein gerechtes Urteil sprechen wird, wie dein Weib es vorausgesagt hat.«

So verabschiedeten sie sich voneinander. Der Bauer ging seines Weges und kam ganz und gar nicht auf den Gedanken, daß der Mann in der grünen Jägerkleidung mit den rindsledernen Stiefeln an den Füßen und einer Adlerfeder am Hut niemand anderes als der König selber gewesen war und der Wald, durch den er wanderte, dem König selber gehörte.

Am folgenden Tag kam der Bauer zum königlichen Schloß und bat, den König sprechen zu dürfen. Er wurde in eine große Halle geführt und von da in einen prächtigen Empfangsraum, in dem der König auf goldenem Thron saß, umgeben von zwölf Ministern. Der Bauer erkannte den König nicht, als er ihn wiedersah, denn dieser war jetzt sehr kostbar gekleidet. Statt des Huts mit der Feder trug er nun eine juwelenbesetzte Krone. Auf seiner Schulter lag ein Mantel aus Purpur und Hermelin, und an den Schuhen hatte er goldene Sporen. Der Bauer reichte seine Tafel dem nächststehenden Minister hin und erklärte:

»Lest dies genau, und Ihr werdet über die Geschichte mit meiner



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Kuh und über alles Übel, das ich durch den Verwalter und meinen Gutsherrn erleiden mußte, Bescheid wissen.«

Der Minister wurde jedoch aus dem allen nicht klug und begriff durchaus nicht, was auf der Tafel dargestellt war, und auch die anderen Minister verstanden es ebensowenig. Ungeduldig geworden, wollten sie den Bauern wegschicken, da aber griff plötzlich der König ein und gebot, ihm selber die Tafel hinaufzureichen. Also gab sie der erste Minister dem zweiten, der zweite dem dritten, und so weiter bis zum zwölften, und zuletzt erhielt sie also der König Jan. Der König ließ den Bauern vortreten und begann laut vorzulesen:

»Das ist deine Hütte?«

»Jawohl, Herr König.«

»Und das ist das Gut?«

»Gewiß, das ist das Gut«, antwortete der Bauer.

»Und das hier ist das Loch in der Hecke, durch das deine Kuh auf das Kleefeld kam?«

»Das ist sie«, stimmte der Bauer befriedigt nickend zu.

»Und hier hat sie der Verwalter erstochen?«

»Ja, ganz gewiß«, antwortete der Bauer, ganz traurig in der Erinnerung an das erlittene Leid. »Genau an dieser Stelle, Herr König.« »Und dann gingst du zu deinem Herrn, sagtest ihm deinen Kummer, und dafür wurdest du anschließend auf die Bank geworfen und bekamst zehnmal eins mit der Peitsche übergezogen?«

Der Bauer klopfte dem König begeistert auf die Schulter. »Das ist der einzige wirkliche Kopf unter all euch Hohlköpfen hier!« rief er ganz glücklich aus. »Ihr andern hier seid nicht mehr wert als eine Reihe hölzerner Pflöcke.« Und er zeigte dabei auf die zwölf Minister.

Nachdem die Lacher sich beruhigt hatten, sagte der König Jan zu dem Bauern: »Geh nur nach Hause und sage deiner Frau, daß der König jetzt über alles Bescheid weiß und daß ihr bald ein gerechtes Urteil bekommen werdet!«

So ging denn das Bäuerlein wieder heim, und kaum war er da, als ihm auch schon ein Pergament des Königs gebracht wurde. Darin



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stand, daß dem Edelmann und seinem Verwalter verziehen werden solle, doch müßten dem Bauern und seiner Frau als Entschädigung für das Unrecht ein wohnliches Haus, ein Kuhstall, ein Schafstall, dreißig Morgen Gutsland und sieben Milchkühe gegeben werden. Der Bauer und seine Frau lebten von da an sehr glücklich. Nur jedesmal, wenn der Bauer von den überstandenen Abenteuern zu seiner Frau sprach, meinte er kopfschüttelnd: »Der König Jan ist wahrhaftig ein sehr kluger König. Von allen seinen zwölf Ministern aber konnte kein einziger schreiben oder lesen, obwohl doch der König es ihnen gezeigt hat. Ich kann und kann mich immer wieder nicht genug darüber wundern, daß ein so kluger König dafür Geld ausgibt, sich solche einfältigen Burschen zu halten, die nicht einmal lesen können.«


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