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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Simon, der Taugenichts

Es war einmal ein Gastwirt, der hatte einen einzigen Sohn mit Namen Simon. Dieser Simon wurde ein rechter Tunichtgut, ein richtiger Prahlhans, der viel Lärm verursachte. Obwohl er seine Nase noch nie aus dem Dorf herausgestreckt hatte, träumte er von wunder was und wünschte nichts sehnlicher, als über den Fluß und die Berge zu kommen und sich die weite Welt zu erobern. Überall erzählte er, daß er sicher eines Tages, nachdem er vielerlei Abenteuer bestanden habe, ein reicher Grundbesitzer oder auch, wer könne das wissen, ein Edelmann oder gar der Schwiegersohn eines Königs werden wolle. Inzwischen aber brachte er alles Geld durch, das er von seinem Vater bekam oder das er sich einfach selbst aus der Ladenkasse nahm und bei Trunk und Spiel mit Landstreichern und Vagabunden und mitunter auch mit Offizieren, die von Zeit zu Zeit in das Gasthaus kamen, durchbrachte.

Der Gastwirt gab sich die redlichste Mühe, seinen Sohn zu ändern. Alles war vergeblich. Er bat die Offiziere um Rat, und diese meinten, das beste wäre wohl, den jungen Mann zum Militär zu stecken, und das tat der Vater auch. Simon ging von Hause fort, mit einer Uniform angetan, einen Helm auf dem Kopf, mit Mantel und Flinte. Doch obwohl er lange Zeit diente, wurde er niemals befördert. Schließlich gelang es ihm, den Posten eines Trommlers zu bekommen. Aber, um die Wahrheit zu sagen, er war selbst zum Trommeln



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zu faul und zog schlechten Umgang allem anderen vor. Die ausgelassene und sehr lockere Gesellschaft, in die er geraten war, fing Streit mit dem Nachtwächter an, reizte die königliche Wache, beleidigte die Leute auf der Straße und verbrauchte und vertrank jeden Pfennig, den sie in die Hand bekam. Nachdem sie sich überall Geld geliehen und nun auch den letzten Kredit aufgebraucht hatten, kamen sie jäh zur Besinnung und wußten nicht mehr, was sie tun sollten.

Ein alter Invalide, der mit Simon zusammen hauste, wurde dessen ewigen Klagens schließlich müde.

»In meines Vaters Gasthof«, jammerte Simon, »habe ich wenigstens genug zu essen und zu trinken gehabt. Wenn ich weiterleben muß wie jetzt, werde ich gewiß noch so schwach, daß ich nicht einmal mehr die Kraft aufbringen werde, meinen Trommelwirbel zu schlagen.«

Der Invalide sagte: »Wenn dein Vater so reich ist, dann schreibe ihm doch und berichte, du wärest Korporal geworden. Bitte ihn um Geld, damit du dir die neue Uniform kaufen kannst. Bei solchem Anlaß darfst du gewiß von ihm erbitten, was du nur willst.«

Der Gastwirt las seiner Frau den Brief vor. »Siehst du, Frau«, sagte er, »aus einem solchen Taugenichts, wie dein Herr Sohn einer gewesen ist, kann doch noch ein tüchtiger Bursche werden!« Und er schickte Simon einen ganzen Beutel voller Taler. Aber nach zwei Monaten war davon nicht ein einziger mehr zu sehen. Also schrieb Simon wieder nach Hause und berichtete, er wäre erneut befördert worden und müsse aus diesem Anlaß Vorgesetzte und Kameraden bewirten. Derartige Briefe trafen nun regelmäßig in der väterlichen Wirtschaft ein, und der Wirt sandte Taler und Dukaten in rauhen Mengen vor lauter Freude darüber, daß sein ungeratener Sohn sich derart zum Guten gewandelt hatte.

Trinken, feiern, wild dahinleben, das ging indessen bei Simon dauernd weiter, während er sich in den Briefen an seinen Vater zuletzt schon zum General machte. In Wirklichkeit jedoch war und blieb er nur der Trommler, der er schon seit langem war. Der Gastwirt



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aber, vor übergroßer Freude über die bevorstehende hohe Beförderung, beschloß zu reisen und seinen Sohn aufzusuchen, denn wenn dieser ein General würde, müsse der Vater ihn doch durch sein Hinkommen ehren. Simons Mutter entschloß sich mitzufahren; denn sie fürchtete im geheimen, daß alle die schönen Berichte erlogen waren und Simon mit des Vaters Geld sein böses Spiel weiter getrieben habe.

Der Wirt und seine Frau mieteten sich nun einen schönen Wagen mit vier Pferden davor und fuhren so in die Stadt. Als sie dort ankamen, wollte es der Zufall, daß in der Stadtmitte gerade ein großer Aufmarsch stattfand. Regimenter in voller Ausrüstung zogen durch die Straßen, Infanterie und Kavallerie marschierten und zogen hinter ihren Musikkapellen. Die Trommler trommelten auf ihren Trommeln, die Trompeter bliesen, so laut sie nur konnten, auf ihren Trompeten, und ein ganzes Regiment folgte, stolz und in gleichem Schritt und Tritt. Die einen zogen auf Wache. Andere kehrten in ihre Unterkünfte zurück. Die ganze Stadt war erfüllt von Büchsengeknall, Salutschießen und Salven.

Der Gastwirt aber konnte in diesem Gewirr von bewaffneten und uniformierten Abteilungen seinen Sohn nicht entdecken. Mitten in der Menschenmasse eingekeilt, fragte er die Umstehenden, ob sie ihn nicht auf einen General dieses und dieses Namens aufmerksam machen könnten.

Sehr erstaunt sagten die Leute: »Einen General mit einem solchen Namen gibt es in unserer Stadt nicht. Der einzige Mann, der hier so heißt, das ist ein Trommler, und der ist der größte Tunichtgut und Streithammel, den man je gesehen hat. Morgen für Morgen kann man ihn nach Hause wanken sehen, nachdem er die ganze Nacht hindurch gezecht hat.«

Während dieses Gespräches stand der alte Invalide, der mit Simon zusammen hauste, ganz in der Nähe und hörte alles mit an. Als der Gastwirt merkte, wie alles nun wirklich stand, bekam er eine solche Wut, daß er schnurstracks zum Stadtkommandanten ging und die sofortige Auslieferung seines Sohnes verlangte, um ihn, der



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ein solcher Schurke war, mit eigenen Händen aufzuhängen. Niemand wagte ihm zu widersprechen, denn zu jener Zeit und in jenem Land hatte ein Vater das Recht, mit einem schlechten Sohn zu tun, was er wollte. Verzweifelt weinend bat seine Frau, ihr einziges Kind doch zu schonen, aber sie bat vergeblich. Der Vater schnürte und band Simon zusammen, als ob er einen Sack Korn vor sich habe; denn Simon war noch völlig betrunken, weil er in der Nacht vorher eine Unmasse Wein in sich hineingegossen hatte. So also wurde er hinten auf dem Wagen der Eltern festgebunden und aus der Stadt mitgenommen.

Als er das sah, packten den alten Invaliden Gewissensbisse; denn schließlich war er es gewesen, der Simon einen so schlechten Rat gegeben hatte, und deshalb fühlte er sich im Grunde für den Plan zu all diesen Lügengeschichten verantwortlich. Er folgte dem Wagen zu Fuß. Als dieser auf einem sehr ausgefahrenen Weg, den man nicht benutzen konnte, auf die Graskante ausweichen und im Schritt fahren mußte, sprang er hinten auf, schnitt mit einem scharfen Messer die Stricke um Simons Hand- und Fußgelenke durch, schnitt auch noch den Strick entzwei, der Simon an den Wagen fesselte, zog ihn herunter, zerrte ihn in ein nahes Gebüsch und erzählte ihm dort, was geschehen war.

»Da läßt sich im Augenblick nichts anderes machen«, sagte er bekümmert, »als daß du die Beine unter die Arme nimmst und dein Glück bergauf und bergab anderswo versuchst. Denn dein Vater ist dermaßen außer sich, daß du ein toter Mann bist, wenn du wieder in seine Hände gerätst.«

Er kehrte daraufhin zur Stadt zurück, und Simon blieb im Wald allein. Dämmerung brach an, die Luft war kühl und eisig. Simon fand sich mühselig zur Landstraße, und als er von dort weit in die Ferne blicken konnte, kam ihm trostvoll der Gedanke, daß nun doch noch einmal die herrliche, lockende Welt offen vor ihm lag, ganz wie er sich das schon immer gewünscht hatte und wie er sie in seinen Träumen erobert hatte.

Er wanderte und wanderte lange Zeit hindurch, wanderte, so weit



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ihn die Beine nur tragen wollten. Er sah Städte um Städte, kam durch kleine Flecken und stattliche Dörfer, fand Gastlichkeit bei reichen Leuten wie auf bescheidenen Hofstellen. Die meisten Leute - arme wie reiche - nahmen ihn freundlich auf. Einige gaben ihm etwas Geld als Wegzehrung, während andere ihm Essen schenkten oder ein Nachtlager überließen. Simon hatte inzwischen gelernt, ganz hübsch auf der Flöte zu spielen. Als er so durch die Welt wanderte, seine Umhängetasche und seine Flöte bei sich, kam er schließlich an einen Ort, an dem er zwei ihn lockende Schlösser stehen sah, das eine hoch auf dem Berge, das andere drunten zu seinen Füßen. Das Schloß im Tal strömte über von Licht und Leben, während das Schloß droben von Dunkelheit umhüllt und wie in ständigen Schatten getaucht schien.

Um seine Neugier zu befriedigen, fragte er die Leute, die ihm begegneten, wer denn da in den beiden Schlössern wohne.

Und er erfuhr, daß in dem Talschloß ein Prinz mit seiner Tochter lebte. Die Prinzessin sei ganz unbeschreiblich schön, so strahlend und blütenfrisch wie ein junger Obstbaum und so anmutig, so erfreulich, als ob sie an jedem Tag im Tau des Morgens gebadet habe. Aber so bezaubernd die Prinzessin auch aussähe, und ob sie auch ihres Vaters Augapfel und reich wie keine andere sei, so wäre sie doch immer nur traurig. Tränen fielen oft aus ihren schönen Augen, denn stets von neuem beklage sie ihr schweres Los, und das alles wegen eines bösen Zaubers, der über dem Schlosse lag. Es ging nämlich in dem Schloß auf dem Berge ihr schon vor langem gestorbener Großvater als Gespenst um. Er war einst im Leben hart und grausam gewesen, ein Unterdrücker der einfachen Leute und ein Verschwender und Spieler.

Als er starb, hatte er zwar großen Reichtum hinterlassen, aber noch viel größeren Reichtum verloren: denn nach einer so schlecht auf Erden verbrachten Zeit konnte seine Seele keinen Frieden finden. Der Prinzessin aber war es bestimmt, nicht eher heiraten zu dürfen, bis sich ein Freier fand, der mutig und mitleidig genug war, die Mitternachtsstunde droben bei dem ruhelosen Geist zu verbringen und allern



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zu widerstehen, womit dieser ihn in Versuchung führen werde, bis das Schloß und er selbst erlöst würden.

Das traurige Geschick der Prinzessin war weit in der Welt bekannt geworden, und es war keine kleine Zahl von Prinzen und edlen Rittern, die herbeigeeilt kamen, um den Zauber zu brechen, denn keine andere Prinzessin war dermaßen schön und Erbin so großer Besitztümer. Einer nach dem andern waren sie hinaufgezogen, waren nach Sonnenuntergang in das Schloß eingetreten, aber keiner von ihnen war jemals zurückgekehrt. Und nun getraute sich so leicht kein Bewerber wieder her, um die Gefahren auf sich zu nehmen und das Gespenst zu besiegen.

Als Simon das alles hörte, beschloß er sofort, daß kein anderer als er selbst um die Prinzessin freien und nachher mit ihr überaus glücklich leben sollte.

Denn, das hatte ich vorhin noch nicht erwähnt, Simon war zwar voller schlimmer Eigenschaften, aber außerdem besaß er auch das mutige Herz eines Löwen.

Schon am nächsten Tag setzte er sich in die Nähe des Schloßgrabens, zog seine Flöte hervor und spielte die süßesten und innigsten seiner Lieder. Der Prinz und seine Tochter freuten sich so über die schöne Musik, daß sie ans Fenster kamen, ausschauten und Simon erblickten. Nun, und das hatte ich noch zu erzählen vergessen: Simon war wunderschön, er hatte goldblondes Haar und Augen wie das Frühlingsblau am Himmel. Die Prinzessin bat ihren Vater, den jungen Flötenspieler holen zu lassen. Sie sagte sogar, daß, wenn sie sich etwas wünschen dürfe, sie sich wünsche, daß dieser Musikant für immer im Schloß behalten werde, damit seine Lieder sie trösteten, wenn die große Traurigkeit über sie käme.

Der Prinz war der beste aller Väter, er liebte seine schöne Tochter von ganzem Herzen, und darum war er sofort einverstanden. Die Prinzessin selber kam nun über den Burgwall, über die Brücke, die über den Burggraben führte, und ging bis zu dem Rasenplatz, auf dem Simon schon die ganze Zeit über saß, und bat ihn, ihres Vaters und ihr Hofmusiker zu werden. Als Simon die Prinzessin sah, als



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er ihre liebliche Stimme hörte, vergaß er alles, was er bisher erlebt hatte, und war sich nur noch des einen gewiß, daß er sie von ganzem Herzen liebte.

Am Hofe waren dann der Prinz und seine Tochter ganz erstaunt über das höfliche Benehmen des Jünglings. Sie unterhielten sich Tag um Tag gern mit ihm und achteten darauf, daß er das Beste zu essen und zu trinken bekam. Nun hörte er von ihnen selber die Geschichte, die im Volk erzählt wurde. Simon gestand offen, daß er bereits entschlossen sei, den Fluch, der über dem Schloß lag, zu lösen und die Hand der Prinzessin zu gewinnen. Als er so sprach, sagte die Prinzessin kein einziges Wort, aber ihre Wangen erglühten und ihre Augen glänzten wie Sterne. Es war ganz klar, daß sie geradeso fürchtete, Simon in solcher Gefahr zu sehen, wie ein neuer Hoffnungsschimmer sie erfüllen wollte. Als Simon das sah, wurde sein Wunsch nur noch dringender, das Abenteuer auf sich zu nehmen. Der Prinz sah, daß da kein Abraten helfen werde und die Entscheidung schon gefallen war. Darum ließ er einen Wagen mit vier feurigen Rossen anspannen und den Jüngling auf den Berg und vor das Tor des verwunschenen Schlosses fahren. Kaum vor dem Schloß angekommen, sprang Simon heraus, ging durch den Schloßhof und betrat das erste der großen Gemächer. Als er ein Licht anzündete, sah er einen riesigen Raum ohne irgendwelchen sichtbaren Bewohner darin. Herrlich bemalte Decken wurden von kunstvoll gemeißelten Säulen getragen. An den Wänden hingen Spiegel in schweren goldenen Rahmen neben Bildern, die wegen Mangel an Pflege dunkel geworden waren, hingen zerfallende silberne Stickereien. Wohin der Blick auch fiel, überall waren Kunstwerke, Gewebe aus Gold und andere köstliche Dinge, doch alles sehr ungepflegt und im Zustand des Verkommens. Durch die hohen Fenster ging der Blick in den Schloßgarten, der von Unkraut überwuchert war. Die einstmals schönen Bäume in der großen Allee waren von Mispeln und wilden Ranken überzogen. Es herrschte ein unheimliches Schweigen. Nur von Zeit zu Zeit war ein leiser Windhauch spürbar. Mitunter hörte man die Schwingen eines Nachtvogels an einen Ast streifen. Simon



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erlaubte sich nicht, lange so herumzustehen. Zunächst holte er einen Stuhl heran und stellte ihn neben einen Tisch. Dann suchte er eine Uhr, zog sie auf und brachte sie wieder in Gang, damit er wußte, wie spät es sei, zog ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. In die tiefe Stille hinein schlug die Uhr elf, später halb zwölf.

>Sicher wird er nun bald kommen<, dachte Simon. Im gleichen Augenblick hörte er von ferne den Ton klirrenden Eisens, dann ein zweites und dann ein drittes Mal das gleiche Klirren, jedesmal etwas näher. Dann schien es ihm, als höre er ganz leise Schritte. Sein Herz begann zu hämmern, aber er blieb ruhig sitzen, wo er saß, machte nicht die geringste Bewegung und las weiter.

Die Tür sprang auf, und in ihrer Öffnung erschien die gebückte Gestalt eines alten Mannes, der in der Hand ein Schlüsselbund hielt. Heimlich blinzelnd, erkannte Simon, daß er völlig nackt und von Kopf bis Fuß pechschwarz war. Nur sein grauer Schnurrbart bewegte sich, und seine Augen loderten, als ob ein Feuer hinter ihnen brenne. Simon regte sich noch immer nicht und starrte weiter in sein Buch. Die Erscheinung kam stumm auf ihn zu, schaute ihn durchdringend an und fragte mit drohender Stimme: »Wer hat dir erlaubt, dich in meinem Schloß hinzusetzen?«

»Niemand hat mir die Erlaubnis gegeben«, erwiderte Simon. »Ich wußte, daß das Schloß unbewohnt ist, und wollte hier die Nacht zubringen.«

»Fürchtest du dich denn nicht vor mir?« fuhr der Geist fort. »Weißt du denn nicht, wie viele tollkühne Männer hier schon durch meine Hand umgekommen sind?«

»Ich fürchte mich nicht so leicht«, sagte Simon. »Ich bin ein Bauerssohn und selbst Bauer und ziemlich mutig. Ich möchte glauben, daß du Teufelswesen bei Lebzeiten sehr viel ängstlicher warst, als du jetzt bist.«

»Du prahlst sehr, du Sohn eines Grobians, aber ob du am Schluß auch noch so sprechen wirst? Wir werden ja sehen.«

»Hier sind die Schlüssel«, sagte dann das Gespenst. »Nimm sie und öffne die Türen zum nächsten Saal!« Simon rührte sich nicht.



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»Ich kann mitkommen, wenn du das möchtest«, sagte er, »aber nicht selber öffnen. Du bist hier der Herr im Haus. Offne du selber die Türen!«

Das Gespenst sagte kein Wort, doch als es die Türen aufschloß und über die Schwelle in den nächsten Raum trat, wurden seine Stirnhaare licht und weiß. Simon sah das, und sein Herz klopfte vor Freude. Bei der dritten Tür geschah es wieder. Der Geist bot nochmals die Schlüssel an und befahl zu öffnen, und Simon antwortete wieder: »Hier bist du der Hausherr. Offne selbst!« Als die dritten Türflügel aufgingen, wurde der pechschwarze Kopf des Geistes schimmernd silberweiß. Simon sah das, sagte aber nichts. Auf die gleiche Weise gingen sie durch die vierte, die fünfte, die sechste und alle folgenden Türen bis zu der zwölften. Und nach jeder überschrittenen Schwelle wurde die Erscheinung des Geistes lichter und weißer. Nach der siebenten wurde er bis zu den Lenden verwandelt, und nach der zwölften sah er wieder ganz wie ein menschliches Wesen aus.

Als die zwölfte Tür geöffnet wurde, quoll ein so furchtbarer Geruch heraus, daß Simon ohnmächtig hinstürzte. Als er wieder zu sich kam, sah er, daß der Raum mit Leichen angefüllt war. Sein Begleiter lächelte. Er sah nun sehr froh aus und sprach mit ganz sanfter Stimme: »Nun sieh selbst, wie viele hier umgekommen sind, weil sie nicht wußten, wie ich zu erlösen wäre. Offenbar ist es von Anfang an so bestimmt gewesen, daß es der Sohn eines Landmannes sein sollte, der das Geheimnis lösen würde. Keiner außer dir kam darauf, was gesagt und was getan werden mußte. Beide hast du gerettet, dich und das Schloß. Was mich betrifft, so weiß ich nicht, ob meine Prüfung jetzt beendet ist. Vielleicht muß ich in einer anderen Welt noch weiter büßen, aber von dieser Welt komme ich nun frei und brauche in dem Schloß nicht mehr als Geist herumzuwandern. Nimm dieses Beil, mit dem ich so viele erschlug, und schlage nun mir den Kopf ab!«

Zuerst weigerte sich Simon, das zu tun, und bat, es ihm zu erlassen. Aber sein Begleiter sagte: »Wenn du jetzt nicht meinen Kopf von



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der Schulter trennst, ist alles vergebens gewesen, und dein eigener Kopf wird statt des meinen fallen.«

Daraufhin nahm Simon das Beil und schlug dem Geist mit einem einzigen Streich das Haupt ab. Sofort löste sich die Gestalt in Staub auf, eine Staubwolke wirbelte für Augenblicke um Simons Füße, und aus ihrer Mitte flog ein weißer Vogel, flog zum Fenster hinaus, über das Schloßdach hin und verschwand. Das war die nun befreite Seele des einstigen Schloßherrn.

Als alles das vorüber war, legte sich Simon geruhig hin und schlief bis zum frühen Morgen. Kaum war er aufgewacht, da kam schon die Karosse mit dem Prinzen und der Prinzessin an. Simon lief schnell, um sie zu begrüßen. Erst vermochten sie sich gar nicht zu fassen, denn wie konnten sie hoffen, einen Lebenden wiederzufinden, nachdem so viele vor ihm für immer verloren waren.

Als Simon das merkte, rief er freudig aus: »Warum seid ihr noch bange? Der Fluch ist getilgt. Der arme Gefangene ist frei. Wenn ihr das alles noch nicht verstehen könnt, kommt mit mir und schaut selbst!«

Der Prinz und die Prinzessin besahen nun alle zwölf Räume. Sie waren sehr froh, daß die schreckliche Prüfung beendet, das Schloß wieder ein richtiges Schloß und wieder das ihre war. Die Prinzessin konnte nicht müde werden, über Simon zu staunen. Wie stolz und froh war sie, daß er vollbracht hatte, was den kühnsten Rittern der ganzen Welt nicht gelungen war.

Der Prinz gab Befehl, die Leichen aller ermordeten Freier feierlich zu beerdigen. Die Burg wurde in ihrer einstigen Pracht wiederhergestellt, und für das junge Paar sollte ein herrliches Hochzeitsfest ausgerichtet werden. Der Prinz hatte seinen künftigen Schwiegersohn schon derart ins Herz geschlossen, daß er die Feier so bald wie möglich festsetzen wollte, aber Simon dachte an seine eigenen Eltern und auch daran, wie schlecht er sich dereinst gegen sie benommen hatte, und sagte zu dem Prinzen: »Zuerst muß ich meine Eltern besuchen und sie um Verzeihung bitten. Hoffentlich sind sie noch am Leben! Es sind ja schon viele Jahre vergangen, seit ich sie zuletzt sah,



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und wer weiß, was ihnen inzwischen alles zugestoßen sein kann? Und sie wieder, sie wissen nicht, wie es mir geht.«

So wurde statt der Hochzeit ein herrliches Verlobungsfest gefeiert, an dem alle im Lande Anteil nahmen und sich, singend und tanzend, mitfreuten. Danach aber war der ganze Hof bieneneifrig mit den Vorbereitungen von Simons Fahrt beschäftigt. Denn er sollte als ein ganz vornehmer Herr reisen.

Die Verlobten nahmen sehr zärtlichen Abschied. Die Braut bat und beschwor ihren Liebsten, so schnell wie möglich zu ihr zurückzukehren, und er versprach es ihr fest. Es wurde beschlossen, daß, wenn binnen sieben Wochen noch keine Nachricht von Simon da wäre, die Braut selbst aufbrechen und in das Dorf kommen wollte, in dem Simons Eltern lebten.

Am dritten Tag reiste Simon ab, begleitet von einem Troß von Höflingen und Dienern. Das Wetter war prächtig und Simon voller Glück und Freude. Im Anfang verlief der Tag auf jede Weise gut. Gegen Abend sahen sie einen großen düsteren Wald vor sich, den sie durchqueren mußten.

Zunächst war die Nacht noch hell. Mond und Sterne schienen. Später aber kamen dunkle Wolken auf und verfinsterten Mond und Sterne. Dann begann es in Strömen zu regnen, so daß überhaupt nichts mehr zu sehen war. Die Pferde fielen fast um vor Müdigkeit. Die Kutscher und Vorreiter waren auch erschöpft, denn seit Tagesanbruch waren sie ununterbrochen gefahren und geritten. Die Höflinge fragten Simon besorgt, wo man wohl den Rest der Nacht zubringen solle. Aber keine Unterkunft war zu finden, nicht die ärmlichste Hütte, nicht der bescheidenste Gasthof. Deshalb setzten sie, so gut es eben ging, ihren Weg fort, mit jeder Meile noch müder und hungriger als zuvor. Der Wind heulte. Sie konnten kaum noch etwas erkennen, so viele Mühe machte es ihnen, die Augen überhaupt offenzuhalten. In jedem Fall war der Weg schwer festzustellen, und es schien, als würden sie nie wieder aus diesem Wald herauskommen.

Als sie lange Zeit so dahingezogen waren, schien es einem von ihnen,



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als sähe er weit vorn ein kleines Licht scheinen, dann erlöschen, dann wieder aufleuchten. Der Kutscher lenkte seine Pferde auf das Licht zu. So kamen sie zu einer Art von ärmlichem Wirtshaus. Sie stiegen ab, stießen die Tür auf, traten ein und sahen eine alte Frau, die beim Schein einer Öllampe Essen zubereitete. Der Wirt kam herbei und bat sie näher zu treten. Sie taten es, aber der falsche Blick des Wirtes und die Art seiner Begrüßung, die unaufrichtig klang, gefielen ihnen nicht.

Das Wirtshaus hatte zwei Räume. Simon nahm den einen, das Gefolge den anderen. Die Stallknechte blieben im Stall, um die Pferde zu füttern und abzureiben. Alle waren so müde, daß sie kaum essen konnten und dem einen oder anderen schon die Augen zufielen. Auf diesen Augenblick hatte der Wirt nur gewartet. Denn die Wirtschaft war in Wirklichkeit ein schlimmer Ort, an dem Reisende, um der von ihnen mitgeführten Güter willen, umgebracht wurden.

Der Wirt lief schnell in den Wald, um seine Spießgesellen zu holen. Zwölf waren es, alle Räuber und Verbrecher der schlimmsten Sorte.

»Neuigkeiten?«fragten die Räuber.

»Oh, und was für gute Neuigkeiten«, erwiderte der Wirt. »Ein reicher Edelmann mit Gefolge ist für diese Nacht eingekehrt. Da gibt es Pferde, Juwelen, Seide und Atlas. Alles, was sich das Herz nur wünschen kann.«

»Sind sie zahlreich?«fragten die Räuber und wetzten ihre Messer. »Ja, sehr«, sagte der Wirt, »aber alle sind todmüde, sie schliefen schon fast, als ich wegging. Nichts ist einfacher, als ihnen die Kehlen durchzuschneiden wie einer Herde Schafe.«

Da freuten sich die Räuber und schlichen sich heimlich ins Wirtshaus. Die einen nahmen sich den Stall vor, andere den großen vorderen Raum, in dem die Diener und Höflinge schliefen. Das Klirren von Stahl, das Schreien der Überraschten und Niedergestochenen und das wüste Brüllen der Räuber weckten Simon aus tiefem Schlaf. Er sprang auf und rief, daß die Diener ihm schnell seine Pistolen bringen sollten, doch dazu war es schon zu spät. Der Räuberhauptmann



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stürzte auf ihn zu und feuerte seine Pistole ab. Simon fiel auf blutbedeckten Boden. Die Räuber glaubten, er sei tödlich getroffen. Simon aber stellte sich nur tot und verhielt sich bewegungslos, um sie zu täuschen. Die Räuber rissen ihm alle Kleider bis auf das Hemd herunter und nahmen von seinen Fingern und von seinem Hals alle Juwelen, die er von der Prinzessin und ihrem Vater erhalten hatte. Ebenso nahmen sie alle Kleider und Wertsachen des Gefolges, von denen nicht einer am Leben blieb, der später den Vorgang hätte berichten können. Sie nahmen auch die Kutschen, die Pferde und das Geschirr.

Als die Räuber gegangen waren und mit ihnen auch der Wirt, um seinen Anteil von der Beute zu bekommen, entdeckte Simon glücklicherweise einen geheimen Ausgang, der in den Wald führte.

Von dieser Minute bis zum Abend des nächsten Tages floh er, so schnell er nur konnte, und ehe noch die folgende Nacht anbrach, merkte er, daß er jetzt tatsächlich den richtigen Weg gefunden hatte und an den Ausgang des Waldes gekommen war. Sein Heimatdorf und seines Vaters Wirtschaft lagen nun nicht mehr als eine halbe Meile entfernt. Mit nichts als einem Hemd bekleidet, ohne Schuhe an den Füßen und schmutzig, sah er nicht gerade danach aus, sich bei Tageslicht zeigen zu können. Er beschloß zu warten, bis es richtig Nacht geworden war, und dann im Schutze der Dunkelheit seinen Weg fortzusetzen.

Als er das gerade überlegt hatte, kam plötzlich eine Anzahl Holzfäller, die auf dem Heimweg von ihrer Arbeit waren.

»Hallo«, schrien sie, »Simon, des Wirtes Sohn, der General geworden ist! Und was tut der General hier ohne Schuhe und Hosen, er, die Schande seines braven Vaters?«

»Bitte, macht euch nicht über mich lustig, liebe Leute«, sagte Simon. »Ich bin kein Bettler und auch nicht mehr der Tunichtgut von einst. Aber ich hatte das Unglück, in die Hände von Räubern zu fallen, und ihr seht, sie haben mir alles fortgenommen, was ich besaß. Ja, und meine Gefährten haben sie ermordet. Ich selber kam mit dem nackten Leben davon.«



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Als sie das hörten, gab jeder der Holzfäller Simon etwas von seinen eigenen Sachen, sie rückten in ihrem Karren zusammen und nahmen ihn ins Dorf mit.

Der Wirt war nicht zu Hause, aber als Simons Mutter den Sohn sah, war sie, wie es gewiß alle Mütter wären, ganz überglücklich bei seinem Anblick. Sie vergoß Freudentränen, als sie hörte, wie viele Gefahren er bestanden hatte, und in dem Gedanken, daß er nun sicher wieder daheim sei. Dann aber, unruhig bei der Überlegung, was Simons Vater wohl sagen und tun würde, wenn er käme, beschlossen sie beide, daß der Heimgekommene sich erst im Keller verbergen und abwarten werde, wie alles weitergehe.

Als der Wirt heimkam, sah er sofort, daß Ungewöhnliches während seiner Abwesenheit geschehen sein müsse.

»Weshalb hast du geweint?«fragte er seine Frau, als er ihre von Tränen geröteten Augen sah.

»Meine Tränen«, sagte die Frau, »sind Freudentränen. Denn unser Sohn lebt, und ich weiß, wo er ist!«

»Nein, so etwas«, rief da der Wirt, »salzige Tränen zu vergießen wegen eines solchen Lumpen und Trunkenbolds! Ich jedenfalls, wüßte ich, wie ich ihn in meine Hände bekomme, ich würde mit ihm so umgehen, wie ich es schon einmal beinahe getan hätte.«

Doch als er sah, daß seine Frau plötzlich verstummte und bitterlich zu weinen begann, schaute er so aus den Augenwinkeln zu ihr hin und fragte: »Wo steckt der Kerl denn?«

»Ich will es dir sagen«, erwiderte sie, »aber nur, wenn du mir schwörst, daß du ihm nichts tun willst!«

Der Wirt schwor, und sie gingen gemeinsam, Simon aus dem Keller zu holen. Aber der Wirt war innerlich noch viel zu böse, um dem Sohn zu verzeihen. Am nächsten Morgen gab er ihm geflickte Kleider zum Anziehen und machte ihn zum Ziegenhirten, der die Herde auf die Weide zu treiben und tagein, tagaus bei ihr zu leben habe, und zwar bekam er die Ziegen des Vaters und die des ganzen Dorfes zu hüten. Simon wurde deswegen aber nicht mutlos. Er hütete seine Ziegen, wie es ihm befohlen worden war, und vertrieb sich die Stunden



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mit Flötespielen. Er wußte ja auch, daß in nicht allzu langer Zeit die Prinzessin kommen und ihn schon finden würde.

Indessen wartete die Prinzessin jeden Tag auf seine Rückkehr. Als sie aber so gar nichts von ihm hörte, brach nun auch sie auf mit großem Gefolge und in einer noch schöneren Kutsche als der von Simon und von Pferden gezogen, deren Hufe vergoldet und versilbert waren. Vor und hinter dem Wagen ritt eine große Anzahl von Pagen und Höflingen, eine ganze Abteilung Dragoner und außerdem Diener und Köche und Essenträger.

Der Zug der Prinzessin nahm den gleichen Weg, wie ihn vorher Simon genommen hatte. Man kam, genau wie er, am Abend des zehnten Tages in den finsteren Wald. Die Nacht überraschte sie, und als sie die Räuberschenke fanden, übernachteten auch sie dort. Der Wirt war aber noch nicht zu Hause, und die alte Frau kam heimlich und flüsterte der Prinzessin zu: »Prinzessin, übernachtet hier nicht, das ist ein gefährlicher Ort. Der Wirt kennt eine zwölf köpfige Räuberbande, und die schneidet Ihnen allen die Kehlen durch, um Ihr Gold und Ihre Juwelen zu rauben. Vor wenigen Wochen erst überfiel und ermordete sie einen jungen Edelmann, der ebenso wie Ihr mit Gefolge und großem Besitz reiste. Sie alle blieben nicht am Leben.« Nun fragte die Prinzessin ganz genau nach allem und hörte dabei zu ihrer großen Freude, daß man die Leiche des jungen Edelmanns nicht gefunden habe. Jetzt war sie überzeugt, daß Simon geflohen und noch am Leben war.

So jung die Prinzessin war, so hatte sie doch ein mutiges und tapferes Herz. Sie fürchtete sich weder vor den zwölf Räubern noch vor dem verräterischen Wirt. Ehe sie schlafen ging, gab sie strengen Befehl, daß alle Waffen bereitgehalten würden und niemand schlafen dürfe, sich statt dessen aber schlafend zu stellen habe. Sie selbst, so erklärte sie, würde es ebenso machen.

Gegen Mitternacht kam der Wirt nach Hause und konnte kaum seine Freude verbergen, als er die reiche und vornehme Gesellschaft sah. Sobald er alle schlafend glaubte, lief er zu der Höhle der Räuber



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»Was Neues?«fragten die Räuber.

»Das Beste von der Welt!« antwortete der Wirt, indem er sich vor Behagen die Hände rieb. »Eine Prinzessin, ganz in Silber und Seide, behangen mit Silber und Gold und Juwelen und anderen kostbaren Dingen. Und all ihre Leute, fast so fein wie sie selbst. Und die alle schlafen heute bei mir. Die Beute wird diesmal noch größer sein als das letzte Mal. Ihr braucht nur zu kommen, sie zu überfallen und ihnen wie einer Hammelherde die Kehle durchzuschneiden.«

Die Räuber kamen auf ein Zeichen des Wirts hin in die Schenke. Aber diesmal waren es die Verbrecher, die überrascht wurden. Alle, die sie harmlos fest schlafend geglaubt hatten, sprangen hoch, zogen Pistolen, Schwerter und Dolche. Jeder war zur Stelle. Die Prinzessin, allen voran, rief »Los!« und feuerte mit eigener Hand. Sie tötete mit ihrem Schuß den Räuberhauptmann. Auch dem Wirt geschah nun, was er verdient hatte, und nicht ein einziger der zwölf Räuber blieb am Leben.

Nachdem sie so gerächt hatte, was man Simon angetan hatte, und um des Mordes an seinen unglücklichen Gefährten willen, die sie tief betrauerte, nahm die Prinzessin die alte Frau, die sie gewarnt und die hier ein elendes Leben geführt hatte, mit sich und setzte ihre Reise fort. So kam sie dann in das Dorf, in dem Simons Eltern lebten.

Der Ziegenhirt sah, daß sich von weitem ein großer Troß näherte. Er sammelte daraufhin seine Ziegen, spielte auf der Flöte und ging dem Zug entgegen. Die Ziegenböcke hatten alle Kränze um die Hörner bekommen, den Ziegen wurden Girlanden oder kleine Blumensträuße um die Stirn gebunden. Während er die schönsten Weisen spielte, ließ Simon sie sich in Reih und Glied aufstellen, die größte zuerst und dann so weiter bis zur kleinsten. Das ganze Dorf war auf den Beinen, um zu sehen, was dieser Ziegenhirt da mache, der zwar ihre Ziegen auf der kümmerlichen Gemeindewiese hütete, ihnen selber aber auch das Marschieren nach gutem Soldatenbrauch beigebracht hatte und außerdem noch Zeit zum Musikmachen fand.



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Als das Ziegenregiment den Reisenden nahe genug gekommen war, erkannte die Prinzessin den Anführer. Simon schlug seine Trommel und rief Befehl und Gegenbefehl. Seine Herde war so komisch, daß die Soldaten vor Lachen fast von ihren Pferden fielen. Als alle sich nun von Herzen ausgelacht hatten, biwakierten die Soldaten auf dem Felde. Simon führte seine Ziegen wieder fort, und die Prinzessin hielt vor der Wirtschaft und begehrte Wohnung und Essen für sich und ihr Gefolge bis zum nächsten Tag.

Als der Wirt die Prinzessin begrüßte, beugte er vor ihr das Knie, aber er wollte ihren Wunsch nicht erfüllen, denn, so meinte er, eine so vornehme Dame könne keinesfalls in einem so einfachen Hause wohnen. Die Prinzessin, die, um die Wahrheit zu gestehen, in des Wirtes Gesicht viel Ähnlichkeit mit Simon erkannte, bestand aber darauf. Und sie bat, einfach für alle eine Suppe zu kochen und ihr den Ziegenhirten zur Bedienung zu schicken. Denn, so sagte sie, sie beide waren alte Bekannte von der Zeit her, als der Hirt bei ihrem Vater Dienst getan habe, und zwar stets zu ihres Vaters Zufriedenheit. Der Wirt, der noch immer auf seinen Sohn böse war, widersprach. Ein so übler, fauler, schurkischer Kerl, versicherte er, sei nicht geeignet, eine so vornehme Dame zu bedienen. Er erzählte alle Missetaten seines Sohnes und riet der Prinzessin dringend, daß, wenn sie oder ihr Vater schon so schlecht beraten worden seien, ihn in ihre Dienste zu nehmen, mit Stockschlägen jedenfalls nicht gespart werden dürfe. Aber die Prinzessin antwortete kurz und bündig: »Ich freue mich auf ihn und will ihn jetzt sehen.« Nun konnte der Wirt sich ihrem Wunsch nicht länger verschließen. Simon reichte ihr Platten und Schüsseln und legte ihr die schönsten und leckersten Stücke auf den Teller. Erst ging alles gut, aber später stolperte er überein Bündel Stroh und ließ die vollbeladene Platte fallen, so daß sie in tausend Stücke brach. Die Prinzessin lachte sehr, doch der Wirt schalt seinen Sohn fürchterlich.

Am nächsten Morgen sagte die Prinzessin: »Ich brauche heißes Wasser zum Waschen, aber der soll es mir bringen, der mich gestern abend bedient hat.«



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Simon machte Wasser heiß und brachte es der Prinzessin, die nun alle Türen schloß und ihm befahl, seine Hirtenkleidung auszuziehen, sich zu säubern und die feinen Gewänder anzuziehen, die sie für ihn mitgebracht hatte. Dann zog sie selbst ihre kostbarsten Kleider an, und beide gingen zusammen hinaus und stellten sich so Simons Eltern vor.

Der Wirt wollte sich ihnen zu Füßen werfen.

»Aber Vater, erkennt ihr denn euren eigenen Sohn nicht mehr?« fragte die Prinzessin lächelnd. »Es stimmt«, sagte der Wirt, »dieser Prinz sieht meinem Sohn Simon ähnlich, aber mein Sohn ist kein Prinz.« Er war völlig verwirrt. Er schaute und wunderte sich und schaute wieder, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß die Wahl einer Prinzessin auf seinen Sohn gefallen war. Erst als Simon niederkniete, seines Vaters Hand küßte und bescheiden um Vergebung für alles einst Begangene bat, vermochte er dem Paar zu glauben.

Bald danach traten sie gemeinsam, die alten Leute und Simon mit seiner Prinzessin, die Reise in das Reich der Prinzessin, zu den zwei Schlössern und zu ihres Vaters Hof an. Der Prinz begrüßte sie voller Freude, und die Hochzeit wurde nun eine ganze Woche hindurch gefeiert. Aller Adel des Landes nahm teil. Die Tische waren Tag und Nacht mit den herrlichsten Dingen zum Essen und Trinken bedeckt. Die Musikanten spielten prächtig auf, die Mädchen und Knaben sangen, und der Prinz gab einen Ball für alle Leute in jedem Dorf, ringsum im ganzen Lande.

Doch nach Ablauf der Festlichkeiten nahmen der Wirt und seine Frau von allen Abschied. Freudigen und dankbaren Herzens kehrten sie in ihr eigenes Dorf zurück. Sie zogen den stillen Frieden unter ihrem eigenen Dach dem prächtigen Schloß vor. Und sie lebten zu Hause voller Zufriedenheit weiter, bis später der Tod sie abrief, als ihre Zeit gekommen war.


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