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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Das Opfer Wandas

Wanda, die Tochter von Krakous, wird Königin von Krakau. Als sie ihre Opfergaben den Göttern darbringen will, sagt der Große Priester: »Vergiß alles Traurige, was du erlebt hast, und werde wieder fröhlich: im eigenen Kreis Freude verbreiten, das ist das beste Mittel, um selber glücklich zu werden.«

Wanda gibt sich alle Mühe, die bösen Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen und nur an ihre glückliche Kindheit zu denken, als sie noch sorglos mit ihren Brüdern durch Wald und Wiese sprang. Fern liegt die leuchtende Kinderzeit, und sie muß nun die schwere Last des Königtums tragen.

Wie gut sie ihre Pflichten erfüllt! Sie befiehlt und berät. Sie tröstet und heut. Das Tor des Schlosses ist niemals geschlossen; was sollte diese schöne junge Königin auch zu fürchten haben, in deren Herzen einzig die Güte wohnt! Wer könnte je daran denken, ihr Böses zuzufügen?

Das Beispiel ihrer Güte wirkt sich im ganzen Lande aus; die Menschen werden alle besser: Streitigkeiten haben aufgehört, überall herrscht ebenso Ordnung wie Wohlhabenheit und Glück.

Doch es ist ein Friede wie vor dem Sturm, wenn die Ähren auf dem Felde und die Blätter im Walde unbeweglich dastehen und gleichsam auf den Westwind warten, in dessen geballten Wolken der Blitz naht.

An einem Frühlingsabend, als Wanda ohne irgendwelche Anzeichen der Königswürde inmitten ihrer Frauen beim Spinnen sitzt und deren Geplauder zuhört, meldet ihr ein Page zwei fremde Sänger, die im Schloß um ein Nachtlager bäten. Sie sähen gut aus -der eine ein



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Greis, der andere ein junger Mann. Sie trügen fremdartige Instrumente und schienen vor Müdigkeit dicht am Zusammenbrechen. »Gastfreundschaft ist eine heilige Pflicht in unserem Lande«, entscheidet die Königin, »nehmt sie auf und sorgt für sie!«

Kurz darauf kommt der Page nochmals, verneigt sich und spricht: »O Königin, die Sänger bitten sehr, von dir empfangen zu werden. Sie wären glücklich, vor dir ihre heimatlichen Lieder singen zu dürfen.«

»Es ist schon spät«, sagt die Königin, »eigentlich wollte ich schon zur Ruhe gehen; aber ich mag den Fremden nur ungern ihre Bitte abschlagen. Laß sie kommen! Skouba und einige des Gefolges mögen sie hereinführen.«

Sie treten ein: Staunen breitet sich auf ihren Gesichtern aus. Wandas Schönheit, die Würde, mit der sie sie empfängt, scheinen sie sehr zu überraschen.

Sie richten sich auf. Sie sehen eher wie Kriegsleute als wie Sänger aus, die durch das Land ziehen und sich so ihr Brot erbitten. Der Greis faßt sich zuerst, und indem er sich vor Wanda verneigt, sagt er: »Königin, wir danken Euch, Ihr habt uns Trank und Nahrung gewährt. Geruht nun den Sang zu hören, der von unserem Land, von seinen Kriegern und Göttern kündet.«

»Eure Worte bewegen mich«, erwidert die Königin. »Gern werde ich den Sang von euren Göttern hören. Sind sie nicht die gleichen wie die unseren?«

Darauf erwidert der Greis nichts. Er greift in ein Saiteninstrument, das alle zum erstenmal sehen, und entlockt ihm Töne, die wie das Heranbrausen einer bewaffneten Reiterschar klingen. Und zu dieser Begleitung singt er von Göttern, die grausam und voll Rachedurst sind, singt von ihrem Zorn und ihren Kämpfen, von Vernichtung und Blutbad, verherrlicht ihr Paradies, das von Kampf und Schlachtengetöse angefüllt ist.

Die Zuhörer sind starr vor Entsetzen, und nachdem das Lied geendet hat, ist es Wanda zuerst unmöglich, Worte des Dankes zu finden. Tief in ihrem Innern erheben sich, wild durcheinander, dunkle Bilder



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der Vergangenheit: der Drache von Wawel, das fürchterliche Verbrechen ihres Bruders Lech. Alle diese grauenvollen Erinnerungen, die sie inzwischen verdrängt hatte, stehen wieder vor ihr auf. Sich zusammenraffend, sagt sie endlich:

»Ihr habt schreckliche Götter. Mein Volk ist ein friedlich arbeitendes Volk. Wir schätzen nicht den Krieg, den du verherrlichst. Unsere Götter sind gütige Götter; sie strafen nur solche mit dem Tode, die selbst getötet haben.«

In Gedanken versunken stützt die Königin ihre Stirn in die Hand. Die Edelfrauen sind von ihren Spinnrocken aufgesprungen, und die Männer haben unwillkürlich nach der Waffe in ihrem Gürtel gegriffen. Als er diese allgemeine Verwirrung sieht, tritt der junge Mann vor. Sein Benehmen ist edel, sein Blick stolz. In nichts ähnelt er den Vagabunden, die sich auf den Landstraßen herumtreiben und betteln.

»Laßt, o Königin, das Entsetzen von Eurem süßen Gesicht schwinden und denkt nicht, daß wir nur Schlachtengetümmel kennen. Hört dieses andere Lied an, das Euer Herz wieder beruhigen wird!« Er nimmt die Laute, und während er ihr sanfte und harmonische Töne entlockt, singt er die herrlichste Weise, die man je hier im Saal gehört hat.

Die Gesichter aller, die dieses Liebeslied hören, entspannen sich wieder, und jeder vergißt den Sang von Schrecken und Mord.

Auf ein Zeichen der Königin hin ziehen sich die beiden Männer zurück. Auf der Schwelle aber wendet sich der junge Mann nochmals um. Er kann den Blick nicht von Wanda losreißen, deren sanfte Schönheit ihn entzückt.

Durch Schlaf und gute Kost gestärkt, verlassen die Sänger am frühen Morgen das Schloß, der Greis mit Eile, der junge Mann mit Bedauern.

Eine Zeitlang marschieren sie schweigend. Dann sagt der Greis zu seinem Gefährten:



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»Nun habt Ihr das Land gesehen, Prinz Ritiger, es ist schön und reich, die Erde fruchtbar, das Getreide mannshoch. Das Volk ist friedlich und unbewaffnet. Mit ihren lächerlichen Keulen, ihren Bogen und Pfeilen aus Holz können sie gegen unsere Schwerter nicht bestehen. Sie sind gutgläubig wie Kinder. Ohne alle Mühe werden Euch Land und Königin zufallen.«

»Hast du nicht gesehen, Siegfried, wie sie erblaßte, als du von unseren drohenden Göttern sangst? Mir liegt nichts daran, nur ihr Land zu haben, ich will auch ihr Herz gewinnen; ich glaube nicht, daß es sich mir öffnet, wenn ich ihr Volk vernichte.«

»Tut, was Ihr wollt! Aber um Euretwillen bedauere ich, daß sie so schön ist. Denn sonst würdet Ihr nicht zögern, in ihr Land einzufallen.«

»Alle, die mir ihre Schönheit priesen, haben nicht gelogen. Sie ist schön wie eine Rose, die sich am Morgen öffnet. Ja, Siegfried, sie soll mein Weib werden, freiwillig oder durch Gewalt!«

»Das ist männlich gesprochen«, sagt Siegfried, »so liebe ich Euch. Eilen wir! Die Wachen können uns nicht mehr sehen, wir haben den Wald erreicht, unsere Krieger warten auf uns.«

Mit diesen Worten dringt er in das Dickicht ein und ahmt mehrmals einen Kuckucksruf nach. Ein anderer Kuckuck antwortet ihm.

»Sie sind nicht weit, eilen wir«, sagt Siegfried.

Von Gebüsch und hohen Farnen verborgen, wartet ein Trupp Bewaffneter auf sie. Man bringt dem Prinzen und Siegfried zwei prächtige Pferde. Sie steigen in den Sattel.

»Und jetzt vorwärts!« ruft der Greis. »Wir haben mit eigenen Augen gesehen, was wir sehen wollten.«

Wochen vergehen.

Eines Morgens meldet die Wache, daß Fremde zum Schloß heraufstiegen. Sie hätten glänzende Schilde und hielten gewaltige Waffen in Händen, denen keine hier im Lande irgendwie ähnelten.

Am Tor angelangt, klopfen sie dreimal an das Eichenportal.



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»Was wollt ihr, Krieger, die ihr wie Feinde bewaffnet zu uns kommt?«fragt der Wächter.

»Wir kommen nicht als Feinde; wir kommen im Namen des mächtigen Prinzen Ritiger, um eurer Königin eine Botschaft zu bringen.«

»Tretet ein, edle Krieger! Legt eure Schilde und Schwerter ab, denn niemand darf in Waffen vor die Königin treten. Fürchtet nichts; uns ist ein Gast heilig: nicht ein Haar eures Hauptes wird euch bei uns gekrümmt werden.«

Mit Windeseile verbreitet sich im Schloß die Nachricht, daß die Boten des mächtigen Nachbarn gekommen seien, um die Hand der Königin zu erbitten.

Daß sie herrliche Gaben mitbrächten, schillernde Stoffe, Gürtel, übersät von funkelnden Steinen, kostbare scharlachrote Mäntel, goldene Ketten und Armreifen.

All dieses, so erzählen sie voller Stolz, sei Kriegsbeute, die sie den Völkern des Südens und Westens dank ihrer unbesiegbaren Waffen geraubt hätten.

Solche Kunde erreicht auch Wanda, die im Thronsaal Rat hält. Wie kommt es, daß das Gesicht des jungen Sängers plötzlich vor ihr steht? Weshalb erinnert sie sich des Blickes, den er beim Scheiden auf sie geworfen hat? Sie könnte es nicht sagen. Ihr Herz ist unruhig, sie weiß nicht, weshalb.

Die Ältesten des Volkes, Berater der Königin, sind überrascht. Besorgnis malt sich auf ihren Gesichtern. Schließlich erhebt sich Skouba, der, seit langem durch das Vertrauen der Königin geehrt, von Tag zu Tag mehr Achtung gewann, und spricht:

»Da wir alle versammelt sind, laßt doch die Boten kommen! Dann werden wir sehen, was sie wollen.«

Die Abgesandten Prinz Ritigers werden hereingeführt. Sie sehen stattlich aus und tragen wertvolle Schatullen mit sich.

Ihr Anführer, am kostbarsten gekleidet und von stolzer Miene, beugt das Knie vor der Königin und spricht, jedoch in einem Ton, der nichts Bittendes an sich hat:

»Mein mächtiger Gebieter, Prinz Ritiger, schickt uns zu Euch, Königin,



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um Euch zu bitten, mit ihm über sein und Euer Land zu herrschen. Er bittet Euch, als Unterpfand seines Wortes die kostbaren Geschenke entgegenzunehmen, die seine siegreiche Hand bei unseren reichen Feinden eroberte. Wir werden Euer Volk das Kriegshandwerk lehren, wir werden ihm zeigen, wie man der Erde mehr des nahrhaften Getreides abgewinnt. Wir werden es in der Herstellung der Waffen unterweisen, die uns zu Herren aller Nachbarvölker machen. Wir zweifeln keinen Augenblick, schöne Königin, daß Ihr nicht gewillt sein könnt, das unermeßliche Glück auszuschlagen, das Euch durch uns angeboten wird.«

Angstvoll warten alle auf die Antwort der Königin. Alle fühlen sich verletzt durch so hochmütige Worte.

»Mein Herr«, erwidert die weise und kluge Wanda und bedeutet ihm, sich zu erheben, »kein König in unserem Reich hat je so einschneidende Entscheidungen allein getroffen; ich werde zum Gatten stets nur den nehmen, der auch meinem Volke erwünscht ist. Gestattet darum, daß ich es erst höre, bevor ich Euch antworte. In der Zwischenzeit sei mein Haus das Eure, denn ich hoffe, daß Ihr mit freundschaftlichen Gefühlen hierher gekommen seid.«

Alle atmen bei diesen Worten auf. Doch die Gesichter der Abgesandten verdüstern sich. Sie sind erstaunt und enttäuscht, daß ihr feierliches Angebot nicht mehr Eindruck gemacht hat. Sie fürchten die Antwort dieses Volkes, das seine Freiheit so sehr liebt und das so friedlich denkt.

Die Boten ziehen sich zurück. Im Beratungssaal wird es laut. Man fragt, ruft durcheinander, ist erregt. Alle bewundern die Klugheit der Königin.

»Wir wollen keinen fremden Prinzen!«

»Wir wollen keine anderen Götter!«

»Sie sollen bei sich zu Hause bleiben und uns in Frieden lassen! Dringen wir denn, wir, in ihr Land ein?«

»Wir haben unser eigenes Gesetz, unsere eigenen Bräuche, und die wollen wir behalten!«

»Wir haben genügend Getreide, um leben zu können, genug Leinen



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und Hanf, um unsere Kinder zu bekleiden. Was sollen wir mit ihrem Reichtum!«

Alle sind der gleichen Meinung. Aber um ganz sicherzugehen, daß ihre Ablehnung richtig ist, holen sie noch den Rat des Großen Priesters ein.

Die Kunde hat sich bereits von Mund zu Mund verbreitet, und auch im Heiligen Hain wußte man schon, was auf dem Schloß geschehen war. Der Große Priester tritt ihnen entgegen. Und ehe sie Zeit haben, ihm den Grund ihres Kommens mitzuteilen, spricht er voller würdigem Ernst:

»Kehrt in Frieden zurück, woher ihr kamt! Unsere Götter haben mich schon wissen lassen, sie gestatteten es nicht, daß ein fremder Prinz euer König werde.«

Die Königin teilt die Meinung ihres Volkes. Sie selbst gibt daher den Abgesandten des Prinzen die Antwort. Diese verbergen nicht ihre Empörung und ihren Zorn. Sie empfinden die Ablehnung als Beleidigung. Sie drohen und sprechen von Krieg.

Das Volk vertraut seinen Göttern. Sie würden es nicht im Stich lassen.

Indessen war schon viermal Mondwechsel seit dem Tage, an dem die Boten Prinz Ritigers den Hof verlassen haben.

Die Ängstlichen beruhigen sich. Friede ist wieder eingekehrt. Niemand denkt mehr an die Wut und Enttäuschung des mächtigen Nachbarn. —Aber eines Tages, dort, von Sonnenuntergang her, was für ein Aufflammen von Bränden? Welche Verzweiflungskunde?

Sie fliegt wie der Wind nach Krakau. Die Kunde, daß Prinz Ritiger an der Spitze seiner Heere das Land überfallen hat. Er brennt nieder, was an seinem Wege steht. Er läßt Männer, Frauen und Kinder niedermetzeln. Überall herrscht Schrecken, Entsetzen.

»Wenn es soweit ist«, sagen die königlichen Ratgeber, »dann müssen



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wir uns verteidigen. In alle Himmeisgegenden sind Boten auszusenden. In jeden Flecken haben sie im Vorbeireiten eine brennende Fackel zu schleudern, Zeichen des Krieges, das jeden herbeiruft!«

In jeder Hütte, zu der die Boten kommen, gibt es Abschied und Tränen. Haus und Feld werden verlassen. Greise, Frauen und Kinder flüchten in die undurchdringlichen Wälder. Sie nehmen dorthin mit, was irgend möglich ist, die einen ihre Kuh, die anderen ein Schaf, diese ihr Geflügel, jene das Getreide.

In Tierfelle gehüllt, dringen sie in unbekannte gefahrvolle Waldgebiete ein, um sich dort zu verbergen.

Mit Bogen, Speer und Keule bewaffnete Gruppen der Krieger machen sich auf den Weg zu den Wäldern, wo hohle Linden und Eichen ihnen als Festung dienen sollen. Rings um das Schloß auf dem Wawel hebt man Gräben aus, errichtet Palisaden, bereitet brennendes Pech, häuft Steine.

Die Unglücklichste von allen ist die Königin.

»Um meinerwillen«, sagt sie wieder und wieder, »ist dieses Unglück über mein Land gekommen. O Skouba, mein getreuer Skouba, wie nur kann ich meinem armen Volk helfen?«

»Ihr könnt nur tun, was auch Euer königlicher Vater getan hätte. An der Spitze Eures Heeres werdet Ihr in den Kampf ziehen, Königin, und ich werde an Eurer Seite sein, um Euch zu schützen.«

»Was vermögen wir gegen ihre festen Schilde, ihre Helme und Lanzen? Finde eine Rettung, Skouba, denke dir etwas aus! Du hast ja auch gewußt, wie man den Drachen töten konnte.«

Aber Skouba schweigt. Wieviel leichter ist es doch, ein einziges Ungeheuer zu töten als Tausende, denkt er.

Wanda, müde des Grübelns, flieht zum Heiligen Hain, um dort Antwort für ihr angstvolles Fragen zu finden. Der Große Priester begrüßt sie; er scheint traurig und sorgenvoll.

Er spricht zu ihr: »Du kommst, Königin, damit die Götter dich erleuchten? Es wäre besser für dich gewesen, nicht hierher zu kommen!«

»Weshalb sprichst du so, ehrwürdiger Greis?«



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»Weil die Götter zu mir redeten und ich nun dein Herz betrüben muß.«

»Gibt es keine Hilfe für mein Volk? Müssen wir uns unter das fremde Joch beugen?«

»Doch, liebe und schöne Königin, es gibt eine. Aber der Preis dafür wird dir das Blut in den Adern erstarren lassen.«

»Sage ihn rasch, ehrwürdiger Greis! Kein Opfer wird zu groß sein, um mein Volk zu erretten.«

»Sage das nicht so schnell!«erwiderte ernst der Große Priester. »Der Preis, den unsere Götter fordern, ist der eines Menschenlebens. Die Schönste und Höchste soll sterben.«

»Die Schönste und Höchste, sagst du? Wer ist das, sag mir das!« »Die Antwort mußt du dir selber geben, o Königin! Mögen die Götter dir beistehen!«

Grübelnd kehrte Wanda durch die Waldung zum Schloß Wawel zurück.

»Die Höchststehende und Schönste zugleich?«

Sie beginnt zu verstehen. Sie selber soll sterben, sie, die Ursache des Unheils.

Jetzt fliegt sie nur so vorwärts.

Vor ihr breitet ein See seinen leuchtenden Spiegel aus; sie eilt hin, beugt sich vor und erkennt den Widerschein ihrer Züge im klaren Wasser.

»Bin ich wirklich die Schönste?«fragt sie den See.

Aber eine leichte Brise hat indessen die Oberfläche bewegt und ihr Bild verwischt.

Sie erreicht das Schloß. Im Hofe steht der getreue Skouba und gibt Anweisungen zur Befestigung des Platzes. Er ist es auch, der alle Vorbereitungen für das Fest Koupalas getroffen hat. Trotz des Krieges soll an diesem Abend die Feier stattfinden.

»Skouba, mein treuer Freund, sag, findest du mich schön und weißt du jemanden, der höher steht als ich?«fragt Wanda ihn.

»Warum diese Frage, teuerste Prinzessin? Ihr wißt doch selbst, daß Ihr die Edelste und Schönste seid.«



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»O was hast du gesagt, Skouba! Was hast du gesagt?« Sie läßt Skouba bestürzt zurück und läuft in ihre Gemächer. Weinend stürzt sie auf ihr Lager.

»O wie schön ist doch dieses Leben!« stößt sie schluchzend hervor. Zugleich aber sieht sie in ihrem Inneren vor sich gemordete Männer und Frauen, niedergebrannte Hütten, verwüstete Felder. Sie richtet sich auf, und wie aus weiter Ferne scheint sie die Stimme ihres Vaters wieder zu hören:

>Du bist nicht würdig, König zu sein. Ein König gibt sein Leben für sein Volk.<

Ja, um ihr Volk zu retten, wird sie ihr eigenes Leben opfern, und sie wird das Opfer freudig bringen.

Sie klatscht in die Hände. Die Fräulein treten ein.

»Heute ist das Fest Koupalas. Wie alle Jahre werden wir zu dem herrlichen freien Platz im Walde gehen, um dort ihn, den Gott des Lichtes, anzurufen. Damit ihr noch schöner erscheint als sonst, meine lieben Gefährtinnen, nehmt dies hier, um euch zu schmücken! Damit ihr mich in guter Erinnerung behaltet!«

Sie verteilt unter die überraschten und beglückten Mädchen ihre Ketten aus Ambra, ihre silbernen Gürtelschnallen und ziselierten Armreifen.

Verwirrt danken sie ihr, wagen jedoch nicht zu fragen, weshalb die Königin sich von allen ihr so lieben Kleinodien trenne.

Bis es Abend wird, wandert die Königin durch sämtliche Räume der Burg. Ist es nicht erst kurze Zeit her, daß sie hier noch als Kind gespielt hat?

»Lebe wohl, Storch! Lebt wohl, Schwalben! Adieu, mein Falke! Und du, Koussy, mein treuer Hund! Leb wohl, mein Schimmel, guter Jagdgefährte von einst!«

Keiner wundert sich, der sie erblickt.

>Sie will selber überall nachsehen, ob alles zur Verteidigung bereit ist<, denken die Leute.

Die Nacht bricht an, die kürzeste Nacht des Jahres. Man hat die Kriegsvorbereitungen unterbrochen. Alle haben sich auf der schönen



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Lichtung eingefunden, um Koupala zu ehren, den Gott, der den Sieg spenden kann.

Große Feuer sind entzündet worden. Die Knaben springen über die Glut. Alle singen. Von Flöten begleitet, dreht sich das Volk im Reigen und bewegt sich mit kleinen Schritten im schier riesengroßen Kreis.

»O Koupala! Gott des Lichtes, Gott des Sieges!«

Der Große Priester erhebt seine Stimme zu feierlicher Beschwörung: »O Mächtiger! Du, der die Nacht besiegt, besiege auch den Feind, der vor unseren Toren steht!«

»O Koupala! Gott des Lichtes! Gott des Sieges!«

Als sei dieser Anruf erhört worden, schimmert ein rosiges Leuchten zwischen den Bäumen auf.

Der Zauber der Nacht will fliehen.

Da wendet Wanda sich Skouba zu, der nicht von ihrer Seite gewichen ist:

»Nimm diesen Ring, du treuester aller Freunde, und trage ihn zur Erinnerung an mich!«

Danach tritt sie leichten Schritts vor zum ehrwürdigen Opferpriester.

»Ich bin bereit«, sagt sie zu ihm.

»Ich wußte, daß du kommen würdest. Nie habe ich an deinem Mut gezweifelt.«

Die Hand der Königin ergreifend, tritt er mit ihr an die Spitze des Zuges, der sich inzwischen gebildet hat. Die Menge folgt hinterdrein, langsamen Schritts, und stimmt eine klagende Melodie an.

So kommen sie zum Ufer der Weichsel, wo ein Floß festgemacht ist. Die Priester haben es mit Blumen und frischem Grün geschmückt. Sie besteigen es. Die Königin winkt ihren Jungfrauen, damit diese ihr folgen.

Als das Floß die Strommitte erreicht hat, hebt der Große Priester seine Arme gen Himmel, und alle tun es ihm gleich. Der Augenblick des Opfers naht. Das bislang eintönige Gebet wird inbrünstig. »Besiege unsere Feinde, o du Gott des Sieges!«



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Wanda schließt die Augen, um nicht länger das Leben zu sehen, das ihr an diesem ersten Morgen des Sommers strahlender erscheint als je zuvor. Sie will nicht auf den Schmerzensschrei Skoubas und das Wimmern Koussys hören, der sich kaum festhalten läßt. Sie will ihr Herz und ihr Denken von allem lösen. Und rasch, weil sie fürchtet, Angst könne sie packen, springt sie in den Strom. Der Strudel entführt sie.

Ein großes Wehklagen bricht auf. Die jungen Mädchen reißen sich die Blumenkronen vom Haupt, werfen sie ins Wasser, singen:

»Weichselstrom, Weichselstrom, trage das drohende Schicksal von uns fort, wie du jetzt fortträgst Gänseblumen und Heckenrosen, Winden und Veilchen. Trage es fort, nimm es mit deinen Fluten hinweg, daß es nie mehr zurückkehre.«

Der reißende Strom führt die Kronen fort. Ganz ferne schon, inmitten der Strömung und eben vorm Untergehen, treibt auf dem Wasser das weiße Gewand und der purpurne Mantel, und Koupala, der Herr des Sieges, überschüttet ihn plötzlich mit seinen goldenen Strahlen.

Die Nachricht von Wandas Opfertod verbreitet sich überall im Lande. Sie gelangt bis zum feindlichen Lager, wo Ritiger sich in den Ruinen eines niedergebrannten Weilers ausruht, ehe er den Sturm auf Krakau befiehlt.

Der alte Siegfried glaubt seinen Ohren nicht zu trauen; er eilt zum Prinzen, um ihm die frohe Kunde zu bringen.

»Ohne einen Schwertstreich werden wir die Stadt nehmen; es heißt, Wanda habe sich in den Fluß gestürzt, um sich den Göttern zu opfern. Daß Eure Seele aufjubele, Prinz Ritiger! In zwei Tagen wird das ganze Land in unserer Hand sein. Das Volk, scheint's, denkt nicht mehr daran, sich zu verteidigen. Es ist völlig davon erfüllt, die Totenfeier für seine Königin zu richten. Nun also die Schwerter geschwungen! Freut Euch, mein Prinz, dieses leichten Sieges.«

Aber Ritiger jubelt nicht. Wäre nicht der alte Siegfried jetzt hier bei



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ihm, würde er den Tränen freien Lauf lassen. Das Herz preßt sich ihm zusammen, wenn er an das zarte Gesicht der schönen und heldenhaften Prinzessin denkt.

Und nach einem langen Schweigen, das der alte Krieger nicht zu unterbrechen wagt, spricht er so:

»Siegfried, senke dein Schwert! Wir kehren um. Ich will ein Volk nicht länger angreifen, dessen Frieden durch den Tod der schönsten Königin erkauft worden ist.«

»Was habt Ihr für ein Weiberherz!«grollt Siegfried. »Ach, bei uns zu Hause haben ja selbst die Frauen Herzen wie Wölfinnen!«

»Gehorche mir, Siegfried, laß aufbrechen! Unsere Götter, und mögen sie noch so grausam sein und hart -sie sind durch dieses Opfer entwaffnet worden.«

Siegfried führt nun den Befehl seines Herrn ohne Murren aus. Kurz darauf sieht man am Horizont, in Richtung des Sonnenunterganges, das mächtige Heer abziehen. Hinter sich läßt es rauchende Trümmer.

Das befreite Volk gibt sich ganz seinem Schmerz hin. Am Ufer der Weichsel, nicht weit entfernt von dem zum Gedächtnis von König Krakous errichteten Grabhügel, wird ein Scheiterhaufen aufgeschichtet. Wartend umsteht ihn alles Volk. Hoch oben wird der Schimmel an einem Pfahl festgebunden. Er soll seiner Herrin in den Tod folgen. Auch vielerlei anderes häuft man auf: Möbel und Putz, Kleider und Schmuck, Wandas Spindel, ihren Rocken. Das alles wird, nach altem Brauch, verbrannt werden, damit die Seele der Verstorbenen, sobald sie vom Körper befreit ist, nicht länger dort umherirren muß, wo zurückblieb, was sie auf Erden geliebt hat.

Der Trauerzug nähert sich. Auf einer mit Blumen bekränzten Bahre wird der wie zu einem Fest feierlich geschmückte Leib Wandas getragen. Weinende folgen ihm. Sie stöhnen schmerzvoll auf und zerkratzen sich verzweifelt ihre Gesichter mit den Nägeln.

Bei diesem Anblick bricht nun auch das gesamte Volk in Wehklagen aus. Alles jammert trostlos.

Der Körper wird auf den Scheiterhaufen gehoben. Hier ruht er inmitten



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der ihm vertraut gewesenen Gegenstände. Der Große Priester hält eine brennende Fackel an das Reisig und entzündet es. Zum letzten Mal, auf feurigem Thron, sieht das Volk seine geliebte Königin. Als alles vorüber und die Glut erloschen ist, sammelt man die Asche der Königin und birgt sie in einer steinernen Urne. Diese wird in der Erde versenkt, und das dankbare Volk errichtet darüber einen weithin sichtbaren Grabhügel, ähnlich jenem, den es einst für den königlichen Vater schuf.

Noch jetzt erheben sich hoch über dem Ufer der Weichsel diese beiden Gräber, das von Krakous und das von Wanda.

Es wachen ihre Geister fort und fort über dem Geschick ihres Volkes, des Volkes, das sie so innig geliebt haben.

Seit damals kommt man alljährlich zur Sonnwendnacht hierher, um Blumenkronen ins Wasser des Stromes zu werfen und Gesänge anzustimmen zum Lobe Wandas, der geliebten Lada, und zum Ruhme des siegreichen Gottes Koupala.


Copyright: arpa, 2015.

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