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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Die beiden Brüder

Krakous starb. Und das Volk, das diesen gerechten und guten König liebte, beschloß, einen hochragenden Grabhügel zu seiner Erinnerung aufzurichten. Jeder wollte sich an dieser Arbeit beteiligen. Tage- und wochenlang konnte man eine ununterbrochene Kette von Männern, Frauen und Kindern sehen, die von jenseits der Weichsel kamen und in ihren weiten Ärmeln Erde herbeitrugen, womit des großen Königs Asche bedeckt werden sollte. Und in jedem Jahr zur gleichen Zeit versammelten sie sich an der Grabstätte, um zu singen und den zu beweinen, der nicht mehr unter ihnen weilte.

Sein ältester Sohn Krak hatte den Thron bestiegen. Wie sein Vater, war auch er edel und mutig, wie jener liebte auch er die Jagd. In Begleitung Skoubas und gefolgt von seinem treuen Hund Koussy durchstreifte er die Wälder, die das weite Land bedeckten.

Lech fraß seinen Neid in sich hinein. Er konnte es nicht verwinden, nur der Zweite im Königreich zu sein. Alle wandten sich von ihm ab, denn es lebte in ihm kein Funken von Liebe, und trotz aller Bemühungen gelang es ihm nicht, die Leute gegen seinen Bruder aufzuhetzen.

Voller Wut darüber faßte er einen teuflischen Plan. Eines Tages, als Krak das mächtige Horn eines Büffels betrachtete, den er erlegt hatte, sprach er zu ihm: »Immer verfolgst du Büffel und Hirsche. Ich weiß bestimmt, daß du noch nie einen Auerhahn geschossen hast.«

»Das stimmt«, sagte Krak. »Ich mache keine Jagd auf Vögel, ich überlasse das den Frauen; ich ziehe das Großwild vor.«

Lech aber fuhr fort: »Ich weiß einen Ort, an dem sie sich sammeln.



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Noch nie hast du etwas so Wunderbares gesehen. Auf einer Lichtung, die niemand außer mir kennt, treffen sich um diese Zeit die Auerhähne zur Balz. Das ist ein Rufen und Antworten in klagenden und zärtlichen Tönen, man möchte glauben, Pfeifen und Flöten spielten zu vielfacher Hochzeitsfeier auf. Eine solche Musik hast du noch nie gehört. Nymphen und Götter des Hains eilen herbei, es ist dann, als ob alle Geister des Waldes sich dort vereinen. Komm mit mir dorthin, du wirst es nicht bereuen!«

»Was du mir da erzählst, lieber Bruder, weckt meine Neugier. Nie bisher sah ich Waldgeister. Vielleicht sind sie es, die so herrlich singen.«

»Nein, das sind die Vögel selber. Sie schließen die Augen, breiten ihren Schweif aus und sind dem Gesang so hingegeben, daß sie nichts umher sehen und hören.«

»Dann, mein Bruder, laß uns doch gleich heute abend hingehen! Unsere Schwester Wanda und Skouba, der alles, was da fliegt, so liebt, wollen wir mitnehmen.«

»Nein, ich will diese Stelle keiner Menschenseele verraten«, erwiderte Lech. »Bei dir ist das etwas anderes, denn du bist ja mein König und Bruder.«

Krak war glücklich über diese guten Worte. >Er hat sich gewandelt<, dachte er, >er hat erkannt, wie sehr ihm mein Herz offensteht.<

Der Mond steigt auf. Die beiden Brüder verlassen das Schloß, ohne die Aufmerksamkeit der Wächter auf sich zu ziehen. Lech nimmt die hölzernen Speere mit. Hat eine unsichtbare Hand schon das Ende vorbereitet? Freudig folgt Krak dem Bruder; seine Kinderzeit kommt ihm wieder in Erinnerung; er vergißt, daß er König ist. Beide sind gut bewaffnet, denn nachts ist der Wald voller wilder Tiere. »Koussy kann uns folgen«, sagt Lech. »Sollten wir Raubtiere treffen, wird deren Appetit auf ihn abgelenkt.«

Krak hört das nicht. Ihn beschäftigt zu sehr die bevorstehende Jagd. Er glaubt, Feen an den Baumstämmen entlanggleiten zu sehen.



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»Wir sind schon nahe am Ziel«, sagt Lech. Aus der Ferne dringt seltsamer Sang an ihr Ohr, ein Flehen, ein Bitten.

Auf jedem der ins Silber des Mondlichts getauchten Bäume sitzt ein großer Vogel. Den Hals hochgereckt, die Augen geschlossen, singt er, ohne etwas von der nahenden Gefahr zu spüren.

Krak! Unglückseliger Krak! Wie dieser Vogel bist auch du ohne jegliches Mißtrauen; deine Waffen nützen dir nichts gegen das reißende Tier, das dich anfallen will. Unglücklicher König Krak, siehst du denn nicht den Speer, der schon über deinem Haupte schwebt! »Bücke dich!« flüstert Lech ihm zu.

Krak bückt sich, ohne zu wissen, warum; aber er gehorcht dem Bruder, weil dieser hier der Führende ist. Aber kaum haben seine Knie das Gras berührt, da trifft ihn schon der Speer. Er wird durchbohrt und niedergestreckt, sein Blut fließt in Strömen, bald schon ist er ein Leichnam.

Lech, der gottlose Verräter, hatte sein Verbrechen gut vorbereitet. Nun will er den Speer aus der Wunde ziehen, um die Spur seiner Untat zu verwischen, aber er kommt nicht dazu.

Wütend beißt Koussy ihn in den Arm. Mehrmals versucht er es, aber jedesmal knurrt Koussy drohend und fletscht die Zähne. Mit der Keule will er den Hund erschlagen - aber er trifft ihn nicht, denn das kluge Tier weicht all seinen Schlägen aus.

Nun läuft er so schnell er kann ins Schloß zurück. Der Hund ist ihm auf den Fersen. Schon hat er den Schutzwall hinter sich. Er bringt die Speere nicht erst an ihren Platz zurück. Ungesehen erreicht er sein Lager, und trotz der brennenden Schmerzen seiner Wunde stellt er sich fest schlafend.

Wilde Tiere, so denkt er, werden die Leiche des Bruders bald verschlungen haben. Ehe man die Wahrheit aufdecken kann, wird davon keine Spur mehr zu finden sein.

Plötzlich aber dringt aus dem Hof ein lautes Geheul herauf. Skouba erwacht.

>Das ist doch Koussy!<denkt er. >Koussy heult ja wie vom Tode getroffen!<



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Eine schreckliche Vorahnung preßt ihm das Herz zusammen. Er hat gestern die beiden Brüder beieinander gesehen. Er kennt Lechs schwarze Seele. Er eilt in Kraks Zimmer: das Lager steht leer.

»Der König! Wo ist der König?«

Auf sein Rufen hin eilen die Männer zusammen. Sie suchen nach Lech. Der scheint in tiefen Schlaf versunken.

Fackeln werden angezündet. Koussy erkennt Lech. Wütend knurrt er und will vorstürzen. Aber Skouba faßt ihn am Halsband: »Wo ist dein Herr, Koussy? Los, wo ist dein Herr?«

Der Hund versteht. Er macht einige Sätze und gibt Laut, so als wolle er dadurch Skouba auffordern, ihm zu folgen.

Skouba hat den Hund verstanden. Er folgt ihm. Koussy verläßt das Schloß und führt Skouba durch den Palisadenwall hinaus.

Die Männer folgen. Sie haben Lech zwischen sich. Sie kommen auf die Lichtung. Die Auerhähne haben ihren Gesang noch nicht beendet. Krak liegt auf der Erde, und über ihm ertönt diese klagende Weise wie ein Totenlied.

»Geliebter Prinz«, ruft Skouba, während Tränen aus seinen Augen stürzen, »du schöner Jüngling, so muß ich dich finden, entschlafen für immer, du mein edler Herr!«

Vorsichtig und behutsam zieht er die Waffe heraus, die den König traf. Eng aneinandergedrängt umstehen ihn die Fackelträger.

Welches Erschrecken! Der Lichtschein tanzt über die goldenen Nägel des Speers. Es ist Lechs Waffe!

Den Speer in der Faust haltend, wendet sich Skouba drohend zu dem verbrecherischen Prinzen. Doch er wagt es nicht, ihn anzufassen, ist er doch ein Königssohn.

»Zurück, Knecht!« schreit Lech. »Jetzt bin ich der Herr!«

»Noch nicht«, ruft Skouba, »denn dieses furchtbare Verbrechen verlangt furchtbare Strafe.«

Zustimmendes Murmeln läuft durch die Reihen der erregten Krieger.

»Ergreift ihn«, sagt Skouba, sich zu den Leuten wendend. »Der Große Priester allein hat das Recht, hier Urteil zu sprechen.«



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Der Weg zum Heiligen Hain ist weit. Das Gefolge teilt sich. Während die einen Kraks blutigen Leichnam heimtragen, setzt Skouba an der Spitze der Männer, die Lech gefangenhalten, den Weg zum Heiligen Hain fort, in dem die Götter und deren Priester wohnen.

Diese, geweckt durchs Geschrei, das den Frieden der geweihten Erde stört, erheben sich von ihrem Lager und gehen der Gruppe entgegen.

Lechs Grausamkeit war für niemanden ein Geheimnis, am wenigsten den Priestern, die des Volkes Herz besser als irgendeiner kennen. Beim Anblick der aufgeregten Männer, die sonst so friedlich in all ihrem Gehabe sind, jetzt aber vor Wut funkelnde Augen haben, wissen sie, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein muß.

Doch als der Große Priester in seinem Leinengewande, mit langem weißem Bart und einer Krone von Eichenblättern im Silberhaar, hervortritt, verneigen sich alle, und keiner wagt zu sprechen.

Nur Lech als einziger trägt den Kopf hoch, wenn auch seine Hände auf dem Rücken gebunden und seine Füße gefesselt sind. Der Priester sieht sein blutbespritztes Kleid und weiß die Wahrheit.

»Was für ein Frevel ist es, durch den unser Schlaf und die Ruhe der Götter gestört wird?«fragt er streng, indem er sich an Lech wendet.

»Wie sprichst du mit mir, anmaßender Greis! Ist dir nicht klar, daß ich von morgen an König bin, einziger Gebieter über all mein Tun, und daß ich, wenn ich will, deine heiligen Steine zertrümmern und deine Waldgötter verbrennen werde?«

Die Priester bedeckten ihr Gesicht mit den Enden ihrer langfallenden Ärmel

»Er hat die Götter geschmäht, er hat den Großen Priester beleidigt: er sei verflucht, er sei verflucht!«

Ein Toben bricht aus, Arme recken sich, auf der Stelle will man den Gottesverächter strafen. Doch der Große Priester hält sie zurück. »Fesselt ihn fest und werft ihn in die Grube! Dort mag er den Morgen erwarten!«

Heilig ist der Befehl des Priesters. An Gehorsam gewöhnt, tun die Männer, wie ihnen gesagt wurde.



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Als der Morgen erwacht, eilt alles Volk zu einer weiten Lichtung, auf der die Priester im Schatten einer Eiche auf großen Steinen sitzen. Wanda ist bei ihnen. Ihre Augen sind von Tränen gerötet. Man hat sie gerufen, damit auch sie mit Urteil fälle.

Nun führt man Lech herbei. Sein Stolz ist gebrochen; er weiß, für ihn gibt es keine Gnade mehr.

Die Menge bildet einen Kreis. Die Greise sitzen auf der Erde, die Frauen und jungen Männer stehen hinter ihnen. Auch einige Kinder sind da.

Man hat den Kindern erlaubt, dabeizusein, damit es sich für immer in ihr Gedächtnis eingrabe, welche Strafe Götter und Menschen über jene verhängen, die Böses tun.

Der Große Priester gibt ein Zeichen, und alles Murmeln verstummt.

»Lech, wir haben dich vor uns führen lassen, damit das ganze Volk das Urteil über dich spreche. Aber dein Schicksal haben bereits die Götter bestimmt, die heute nacht zu uns redeten. Du bist der Sohn eines Königs, und darum hat niemand das Recht, dein Leben anzutasten. Dennoch bist du verflucht. Von dieser Stunde an darf niemand mehr deinem hungernden Munde Nahrung spenden, deine vertrocknenden Lippen mit Wasser tränken. Allein und waffenlos wirst du ausgestoßen ins Bereich der wilden Tiere des Waldes, die kein Mitleid kennen.«

Der Große Priester erhebt sich und alle mit ihm. Er streckt seine geöffneten Hände zum Gebet aus.

»O Koupala!« betet er, »Gott des Lichtes, brenne ihn mit deinem Feuer, und du, o Nacht, verbirg dein Gesicht, damit er keinen Weg mehr erkenne!«

Das Volk, als der Priester die Hände im Gebet aufhebt, wiederholt im Chor:

»O Koupala!«

»O Lel-Polel! Gott des Hagel und Regen, schlage sein Gebein, auf daß er vor Kälte erstarre und sich nicht wieder erwärmen kann!«

»O Lel-Polel!«



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»O Poswite! Gott des Sturmes, peitsche ihn mit deinem Atem, der im Sommer verbrennt und im Winter vereist.« Und das Volk rief weiter:

»O Poswite!«

»O Wesna! Göttin des Frühlings, laß unter seinem Fuß keine einzige Blume sprießen, damit sein Auge sich an keiner einzigen deiner Gaben mehr erfreuen kann!«

»O Wesna!«

»O Lada! Göttin der heiligen Gerechtigkeit und der Schönheit, wende dein sanftes Gesicht von ihm, auf daß weder Friede noch Zufriedenheit ihm gegeben sei!«

»O Lada!«

»O Swiatowide! Gott der vier Gesichter, verfolge ihn mit deinem Blick, daß, nach welcher Seite er sich auch wende, er immer sein Verbrechen vor sich sehe!«

»O Swiatowide!«

»O Majanna! Große Göttin des Todes, deinen Händen übergeben wir ihn, auf daß er, der getötet hat, selbst getötet werde, denn so ist es gerecht!«

»Es ist gerecht! Es ist gerecht! O Majanna!«

Das Echo des Waldes wiederholt die letzte Anrufung, und die Priester senken ihre Arme: das Urteil ist gesprochen.

Wanda hatte es nicht vermocht, auch ihre Hände zu erheben; aber sie verhüllte das Gesicht. Mit Entsetzen hat sie das unerbittliche Urteil vernommen. Ihr Herz kann nicht anders als um diesen Menschen leiden, ist er doch ihr Bruder.

Die Menge teilt sich und läßt nun die Priester hindurch, die Lech bis ins Innerste der Wälder führen, wo sein Schicksal sich vollenden wird.

Alle gehen schweigend nach Hause. Wanda ordnet die Trauerfeierlichkeiten für Krak an. Ehrfurchtsvoll macht man ihr Platz. Sie wird nun Königin werden. Man wagt es noch nicht, ihr zuzujubeln, aber trotz der traurigen Stunde erfüllt Freude bei diesem Gedanken alle Herzen.



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Niemals wieder hört man etwas von Lech, aber keiner bezweifelt sein Schicksal. Die Götter haben gestraft.

Abends aber, am Spinnrocken, erzählen die Alten seine Geschichte, und mit Schaudern sprechen die Kinder seinen Namen aus: Lech, der Verdammte.


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