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ROLANDS KNAPPEN

Vetter Roland hatte, wie alle Welt weiß, seines Oheims, Kaiser Karls Kriege mit Glück und Ruhm geführt und unsterbliche Taten getan, von Dichtern und Romanciers besungen, bis ihm Ganelon, der Verräter bei Ronceval, am Fuß der Pyrenäen den Sieg über die Sarazenen und zugleich das Leben entriß. Was half's dem Helden, daß er den Enakssohn, den Riesen Ferracutus, den hochsprechenden Syrer aus Goliaths Nachkommenschaft, erlegt hatte, da er den Säbelstreichen der Ungläubigen dennoch unterliegen mußte, wogegen ihn sein gutes Schwert Durande diesmal nicht schützen konnte; denn er hatte seine Heldenbahn durchlaufen und befand sich am Ende derselben.

Von aller Welt verlassen lag er da, unter den Scharen der Erschlagnen, schwer verwundet und von brennendem Durst gequält. In diesem traurigen Zustande nahm er alle Kräfte zusammen und stieß dreimal in sein wundersames Horn, um Karln das verabredete Zeichen zu geben, daß es mit ihm am letzten sei. Obgleich der Kaiser mit seinem Heer acht Meilen weit vom Schlachtfelde kampierte, vernahm er doch den Schall des wunderbaren Horns, hob alsbald die Tafel auf, zu großem Verdruß seiner Schranzen, die eine leckerhafte Pastete witterten, die eben zerlegt wurde, und ließ sein Heer flugs aufbrechen, seinem Neffen zu Hilfe zu eilen, obwohl es damit zu spät war, denn Roland hatte so gewaltig intoniert, daß das güldene Horn geborsten war, er hatte sich alle Adern am Halse zersprengt und seinen Heldengeist bereits ausgeatmet. Die Sarazenen aber freuten sich ihres Sieges und legten ihrem Heerführer den Ehrennamen Malek al Nasser oder des siegreichen Königes bei.

In dem Getümmel der Schlacht waren die Schildknappen und Waffenträger



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des tapfern Rolands, indem er sich mitten in die feindlichen Geschwader warf, von ihrem Herrn getrennt worden und hatten ihn aus den Augen verloren. Da nun der Held fiel und das mutlose Heer der Franken sein Heil in der Flucht suchte, wurden die mehresten von ihnen in die Pfanne gehauen. Nur dreien gelang es, aus dem Haufen durch die Leichtigkeit ihrer Füße dem Tode oder den Sklavenfesseln zu entrinnen. Die drei Unglückskameraden flüchteten tief ins Gebirge, in unbetretene wüste Gegenden, und schauten nicht rückwärts auf ihrer Flucht, denn sie meinten, der Tod trabe mit raschen Schritten hinter ihnen her. Von Durst und Sonnenbrand ermattet, lagerten sie sich unter eine schattige Eiche, um da zu rasten, und nachdem sie ein wenig verschnoben hatten, ratschlagten sie zusammen, was sie nun beginnen wollten.

Andiol, der Schwertträger, brach zuerst das pythagorische Stillschweigen, das ihnen die Eile der Flucht und die Furcht vor den Sarazenen auferlegt hatte. »Was Rats, Brüder«, fragte er, »wie gelangen wir zum Heere, ohne den Ungläubigen in die Hände zu fallen, und welche Straße sollen wir ziehen? Laßt uns einen Versuch machen, durch diese wilden Gebirge zu dringen; jenseits derselben, meine ich, hausen die Franken, die uns sicher ins Lager geleiten werden.« — »Dein Anschlag wär gut, Kompan«, versetzte Amarin, der Schildhalter, »wenn du uns Adlerfittiche gäbest, uns damit über den Wall der schroffen Felsen zu schwingen; aber mit diesen gelähmten Knochen, aus welchen Mangel und Sonnenglut das Mark verzehrt hat, werden wir traun nicht diese Zinnen erklimmen, die uns von den Franken scheiden. Laßt uns vorerst eine Quelle aufsuchen, unsern Durst zu löschen und die Kürbisflaschen zu füllen, und hernach ein Wild erlegen, daß wir was zu zehren haben: dann wollen wir wie leichtfüßige Gemsen über die Felsen hüpfen und bald einen Weg zu Karls Heerlager finden.«

Sarron, der dritte Knappe, der dem Ritter Roland die Sporen anzulegen pflegte, schüttelte den Kopf und sprach: »Für den Magen, Kamerad, ist dein Rat nicht übel, aber Euer beider Anschlag ist gefahrvoll für den Hals. Meint ihr, daß es uns Karl Dank wissen würde, wenn wir ohne unsern guten Herrn zurückkehrten und auch seine köstliche Rüstung, die uns anvertraut war, nicht zurückbrächten? Wenn wir nun an den Teppich seines Throns knieten und sprächen: >Held Roland ist gefallen!< Und er spräche: >Viel schlimm ist diese Botschaft, aber wo ist Durande,



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sein gutes Schwert, geblieben?< Was wolltest du antworten, Andiol? Oder er spräch: >Knappen, wo habt ihr seinen spiegelblanken, stählernen Schild?< Was wolltest du darauf sagen, Amarin? Oder er fragt nach den goldenen Sporen, die er unserm Herrn anlegte, als er ihn weiland zum Ritter schlug, müßt ich nicht mit Scham Verstummen?« — »Du erinnerst wohl«, erwiderte Andiol, »dein Verstand ist hell wie Rolands Schild, durchdringend, fein und scharf wie Rolands Schwert. Wir wollen nicht ins Heerlager der Franken zurückkehren; Karl möchte ungehalten sein und uns lassen Profeß tun im Kloster zu den dürren Brüdern.«

Ober diese Konsultationen war die grausenvolle Nacht hereingebrochen; kein Sternlein flimmerte am umnebelten Himmel, kein Lüftchen regte sich. In der weiten Einöde war tiefe Totenstille umher, die nur durch das Krächzen irgendeines Nachtvogels zuweilen unterbrochen wurde. Die drei Flüchtlinge streckten sich unter die Eiche auf den Rasen und gedachten, den bellenden Hunger, welchen das strenge Fasten des langen Tages erregt hatte, durch den Schlaf zu betäuben; aber der Magen ist ungestümer Gläubiger, der den Zahlungstermin seiner Intraden nicht gern vierundzwanzig Stunden lang kreditiert. Ihrer Ermüdung ungeachtet gestattete ihnen der Hunger keinen Schlaf, obgleich sie ihr Wehrgehenke zum Schmachtriemen gebraucht und sich damit so eng gegürtet hatten wie möglich. Indem sie aus Unmut und Langerweile wieder anfingen miteinander zu kosen, erblickten sie durchs Gebüsch ein fernes Lichtlein, das sie anfangs für das Dunstkind salpetrischer schwefliger Dämpfe ansahen.

Weil aber das vermeintliche Irrlicht nach einiger Zeit weder den Ort noch den Schein veränderte, faßten sie den Entschluß, die Sache genauer zu untersuchen. Sie verließen ihr Standquartier unter der Eiche, und nachdem sie manche Schwierigkeit überwunden, in der Finsternis über manchen Stein gefallen und mit dem Kopf gegen manchen Ast angerannt waren, gelangten sie auf einen freien Platz vor einer aufrechtstehenden Felsenwand, wo sie zu ihrer großen Freude einen Kochtopf auf dem Dreifuß über dem Feuer fanden. Und die auflodernde Flamme ließ ihnen zugleich den Eingang einer Höhle wahrnehmen, über die sich von oben Efeuranken herabschiangen und welche durch eine feste Tür verschlossen war. Andiol ging hinzu und pochte an, vermutend, der Bewohner der Höhle möchte irgendein frommer, gastfreier Einsiedler



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sein. Aber er vernahm eine weibliche Stimme von innen, welche fragte: »Wer klopft, wer klopft an meinem Hause?«

»Gutes Weib«, sprach Andiol, »tut uns auf die Tür zu Eurer Grotte, drei irrende Wanderer harren hier an der Schwelle und verschmachten vor Durst und Hunger.« —»Geduld! Geduld!« antwortete die Stimme von innen, »daß ich vorerst das Haus beschicke und es zum Empfang der Gäste bereite.« Der Horcher an der Tür hörte darauf von innen groß Geräusch, als würde das ganze Haus aufgeräumt und ausgescheuert. Erwartete eine Zeitlang, solang es seine Ungeduld verstattete; als aber die Hausmütter kein Ende finden konnte, ihre Wohnung zu säubern, klopfte er nochmals etwas soldatisch an die Tür und verlangte, mit seinen Gefährten eingelassen zu werden. Die vorige Stimme antwortete: »Gemach, ich höre! Laßt mir doch Zeit, meine Dormöse aufzustürzen, daß ich vor den Gästen mich kann sehen lassen. Schüret indessen draußen das Feuer an, daß der Topf wohl siede, und nascht mir nichts von der Brühe.«

Sarron, der in Ritter Rolands Küche immer der Topfgucker gewesen war, hatte aus natürlichem Instinkt sich der Funktion, das Feuer zu unterhalten, bereits unterzogen, auch den Topf vorläufig sondiert und eine Entdeckung gemacht, die ihm eben nicht behagte. Denn da er die Stürze aufhob und mit der Fleischgabel zu Boden fuhr, zog er einen stachlichten Igel hervor, dessen Anblick seine Eßlust dergestalt verminderte, daß der Magen von allen ungestümen Forderungen abstund. Er ließ sich aber nichts von dieser Küchenbeobachtung gegen seine Gefährten merken, damit, wenn das Igelragout unter dem Inkognito einer leckerhaften Brühe aufgetischt würde, er ihnen den Appetit nicht verderben möchte. Amarin war vor Müdigkeit eingeschlummert und hatte beinahe ausgeschlafen, ehe die Bewohnerin der Grotte mit ihrer Toilette fertig war. Wie er erwachte, gesellte er sich zu dem lärmenden Andiol, der unter heftigen Kontestationen mit der Eignerin der Höhle über den Einlaß kapitulierte. Nachdem endlich alles zur Richtigkeit gebracht war, hatte sie zum Unglück den Hausschlüssel verkramt, und weil sie noch dazu aus großer Eile ihre Lampe umgestoßen hatte, konnte sie solchen nicht wiederfinden. Die schmachtenden Wanderer mußten also die ihnen gleich anfangs angepriesene Geduld üben, bis nach langer Pause der Schlüssel gefunden war und die Tür aufgetan wurde. Aber ein neuer Verzug, die Kontenanz der Fremdlinge zu prüfen!



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Kaum war die Tür halb geöffnet, so sprang eine große schwarze Katze heraus, mit feuerfunkelnden Augen. Sogleich schlug die Hausmütter die Tür wieder zu und verriegelte sie wohl, schalt und schmähte auf die ungestümen Gäste, die ihre Wohnung verunruhigten und sie um ihr liebes Hausvieh gebracht hätten. »Hascht meinen Kater ein, ihr Wichte«, rief sie von innen, »oder laßt euch nicht einfallen, meine Schwelle zu betreten!«

Die drei Kameraden sahn einander ratschlagend an, was sie tun wollten. »Die Hexe!«murmelte Andiol zwischen den Zähnen, »hat sie uns nicht lange genug geäfft, und nun schilt und droht sie! Soll ein Weib drei Männer narren? Bei Rolands Schatten, das soll sie nicht! Laßt uns die Tür erbrechen und auf gut soldatisch uns hier einquartieren.« Amarin stimmte bei, aber der weise Sarron sprach: »Bedenkt, Brüder, was ihr tut; der Versuch könnt übel ablaufen, ich ahnde hier sonderbare Dinge. Lasset uns die Befehle unsrer Wirtin aufs pünktlichste befolgen; wenn unsre Geduld nicht ermüdet, so wird ihre Laune ermüden, uns zu foppen.« Dieser gute Rat wurde angenommen und auf den schwarzen Murner alsbald eine allgemeine Jagd gemacht. Aber der war waldein geflohen und in der düstern Nacht nicht ausfindig zu machen. Denn obgleich seine Augen so hell funkelten wie die Augen der Lieblingskatze des Petrarca, deren Schimmer dem Dichter zur Lampe diente, ein unsterbliches Lied an seine Laura dabei niederzuschreiben, so schien der pyrenäische Murner doch eben die Launen seiner Domina zu haben, die drei Wanderer zu äffen, und blinzte entweder geflissentlich die Augen zu oder drehte sie so, daß sie ihn nicht verrieten. Gleichwohl wußt ihm der verschmitzte Sarron beizukommen. Er verstand sich darauf, die Minnesprache des Katzengeschlechts so natürlich zu miaulen, daß der Anachoret im Walde, der sich auf einen Eichbaum geflüchtet hatte, dadurch betrogen wurde, und weil er in der unterirdischen Klause keine andere Gesellschaft genoß als die seiner Pflegerin und einiger Kellermäuse, mit welchen er sich zuweilen herumtummelte, so vermutete er eine angenehme Gespielin in der Nähe, der nachzuspüren er den Baum verließ und den disharmonischen Kanon der nächtlichen Serenade anstimmte, welcher die Schlafenden aus der Ruhe stört und sie antreibt, das Nachtgeschirr auf die lästigen Minnesänger unter dem Kammerfenster auszuleeren.

Sobald sich der queilende Kater durch seine Stimme verriet, war der



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lauersame Knappe zur Hand, beschlich ihn und brachte den eingehaschten Flüchtling im Triumph an den Eingang der Felsenhöhle, der nun nicht mehr versperrt war. Hocherfreut traten die drei Knappen unter Geleitschaft des entflohnen Penaten hinein, begierig, die Bekanntschaft der Wirtin zumachen; aber bänglich schauderten sie zurück, als sie ein lebendiges Skelett, ein dürres, steinaltes Mütterchen erblickten. Sie trug einen langen Talar, hielt in der Hand eine Mistelstaude, berührte damit auf eine feierliche Art die Ankömmlinge, indem sie dieselben bewillkommnete, und nötigte sie, an einem gedeckten Tische Platz zu nehmen, auf welchem eine frugale Mahlzeit von Milchspeisen, gerösteten Kastanien und frischem Obst aufgetragen war. Es bedurfte keiner Zunötigung: die hungrigen Gäste fielen wie gierige Wölfe über die Speisen her, und in kurzer Zeit waren die Schüsseln so rein abgeleert, daß keine genäschige Maus von den Überbleibseln zu sättigen gewesen wäre. Sarron tat es in der Eilfertigkeit, den Magen zu befriedigen, seinen beiden Spießgesellen zuvor, denn er wähnte noch einen zweiten Gang, wo das Igelragout zum Vorschein kommen würde, welches er seinen Gefährten allein zu überlassen gedachte; da die Hausmütter nichts mehr auftrug, glaubte er, daß sie diesen Leckerbissen für sich selbst aufgespart habe.

Die Alte war indessen geschäftig, von Matratzen, aus spanischer Wolle gewebt, ein Nachtlager zu bereiten; aber es war so knapp und schmal, daß unmöglich drei Personen darauf Platz finden konnten. Der Schläfer Amarin machte diese Bemerkung, gab sie der geschäftigen Wirtin zum besten und bat sie, auch den dritten Mann nicht zu vergessen.

Die Alte tat ihren zahnlosen Mund auf und sprach lächelnd: »Liebe Kinder, seid unbekümmert, der dritte Mann soll nicht auf der Erde schlafen, ich hab ein breites Bette, darin ist Platz für mich und ihn.« Die drei Gesellen nahmen diese Rede für einen guten Schwank auf, freuten sich, daß das graue Mütterlein noch so bei Laune sei, und belachten den Einfall aus vollem Halse. Der kluge Sarron aber bedachte, daß alte Matronen zuweilen seltsame Schrullen im Kopf haben, untersuchte nicht lang, ob hier gescherzt oder geernstet sei, stellte sich urplötzlich schlaftrunken, taumelte aufs Lager, um sich auf jeden Fall in Posseß zu setzen, und überließ es seinen Kameraden, die Neckerei mit der Wirtin um ihre Bettgenossenschaft fortzusetzen. Die beiden Champions wurden das Strategem nicht sobald inne, als sie in gleicher



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Absicht einander das Prävenire zu spielen gedachten, und weil keiner dem andern den Platz einzuräumen willens war, mußte das Faustrecht entscheiden. Die Alte sah eine Zeitlang ruhig zu, wie sich die Boxer herumzogen, und der schlaue Sarron schnarchte dazu aus allen Kräften. Wie aber der Streit hitzig wurde und die goldgelben Haarlocken der Wettkämpfer, welche die Sarazenen verschont hatten, den Fußboden bedeckten, ergriff sie den Mistelstengel und berührte damit die beiden Athleten. Da stunden sie starr und steif wie zwei Bildsäulen, waren unvermögend, einen Finger zu regen; die Alte aber streichelte mit ihrer kalten, dürren Totenhand ihnen freundlich die glühenden Backen und sprach: »Friede, Kinder! blinder Eifer schadet nur. Ihr habt alle gleiche Rechte und gleiche Ansprüche auf meine Bettgenossenschaft; nach den Rechten dieses Hauses trifft jeden die Reihe. Laßt mich in eurer Umarmung erwärmen, daß ich mich noch einmal verjünge vor meinem Hinscheiden.« Hierauf löste sie den Zauber der beiden rüstigen Ringer auf und gebot ihnen, den Schläfer Sarron zu wecken, der aber durch kein Rütteln und Schütteln, auch durch keinen Rippenstoß zu ermuntern war. Die Alte wußte gleichwohl ein Mittel, ihn aus dem scheinbaren Totenschlaf zu erwecken: kaum hatte sie ihn mit der geheimnisvollen Mistel berührt, so fing der Knappe an, seltsame Kontorsionen zu machen, krümmte und wand sich wie ein Wurm auf dem Nachtlager, klagte über heftiges Bauchweh, als plagte ihn die Kolik von Poitou, und bat die Hausmütter demütig um ein linderndes Klistier. Sie aber hatte flugs eine bewährte Salbe zur Hand, damit hieß sie ihn den Nabel bestreichen, worauf alle Schmerzen bald verschwanden.

Die drei Knappen hätten sich jetzt wohl unter den Eichbaum zurückgewünscht; sie sahen, daß sie einer mächtigen Zauberin in die Hände gefallen waren, die sie auf mancherlei Art trillte und foppte; doch half hier nichts, als zum bösen Spiel gute Miene zu machen. »Kinder«, sprach sie, »es ist spät, die kühle Nacht streut Schlummerkörner, das Los mag entscheiden, welcher unter euch heute in meiner Bettkammer rasten soll.«Drauf brachte sie ein Büschel Werg herbei, nahm ein wenig davon, drehte ein Küglein daraus, ganz leicht und luftig, stellte es auf den Tisch und hieß den drei Gesellen gleiches zu tun, welche auch ohne Widerrede Folge leisteten; der schlaue Sarron aber drehte das seinige so derb und dicht, als er konnte. Hierauf nahm die Drude einen fichtenen Span, zündete all die Häuflein an und sprach: »Wer mir



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zuerst nachfleugt, sei diese Nacht mein Bettgenoß.« Die glimmende Asche ihres Häufleins hob sich empor, darauf folgte Andiols und hernach Amarins Häuflein, nur Sorrans Aschenhaufen blieb auf der Tafel zurück, wegen Schwere und Dichtigkeit der Kugel. Darauf umfaßte die Alte ihren Schlafkompan herzhaft, zog ihn zur Kammer hinein, und er folgte ihr schaudernd mit berganstehndem Haar wie der Dieb dem Schergen zur Leiter am Hochgericht. Es war traun ein harter Strauß für den armen Wicht, neben einem solchen Furchtgerippe zu pernoktieren.

Wenn die Alte eine Ninon dc l'Enclos gewesen wär, die in ihrem höchsten Stufenjahre, nachdem sie neunmal neun Sommer durchlebt hatte, noch so viel Reize besaß, daß ihr Sohn unerkannterweise gegen sie in heißer Liebe entbrannte, so wäre das Abenteuer allenfalls noch zu bestehen gewesen. Aber der Zahn der Zeit hatte also an ihrer Gestalt gezehrt, daß das Konterfei der hundertjährigen Jungfer aus den physiognomischen Fragmenten oder der Hexe zu Endor nach dem Holzschnitt der Wittenberger Bibelausgabe gegen ihre Fratze noch immer für Schönheiten gelten konnten.

Mit der Lauersamkeit einer Spinne saß sie in dem Mittelpunkt ihres magischen Gewebes und haschte jeden peregrinierenden Weltbürger auf, der sich in ihr Zaubernetz verwickelte. Alle Wanderer, die ihr Territorium betraten, zwang sie zu ihrer Bettgenossenschaft, wenn sie sich zu diesem diätetischen Gebrauch qualifizierten, und eine solche Nacht verjüngte sie jederzeit um dreißig Jahr; denn nach dem Lehrsatz des Celsus sog ihr ausgetrockneter Körper alle gesunden, jugendlichen Exhalationen des rüstigen Schlafgesellen gierig ein. Außerdem verabsäumte sie nie, abends vor Schlafengehen mit Igelfett den alten Pergamentband ihrer Haut wohl zu salben, sie lind und schmeidig zu erhalten, um nicht bei lebendigem Leibe zur Mumie zu werden.

Ohne das Gesetz der Keuschheit weder mit Gedanken, Worten oder Werken im mindesten zu verletzen, hatten die drei Knappen notgedrungen der Alten den verlangten Ehrendienst geleistet. Sie hatte sich mit guter Manier neunzig lästige Jahre vom Halse geschafft, ging wieder ganz flink und keck einher, und der kluge Sarron, den seine Schlauheit diesmal nicht von dem Schicksal seiner Konsorten befreit hatte, machte die Bemerkung, daß die größten Übel mehrenteils nur in der Einbildung bestünden und daß eine schlecht zugebrachte Nacht nicht



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mehr Stunden und Minuten zähle als die glücklichste. Da am dritten Tage die neubelebte Alte die drei Bettkonsorten beurlaubte und sie mit freundlichen Worten förderziehen hieß, trat der Redner Sarron auf und sprach: »Es ist nicht Sitte im Lande, einen Gast unbegabt von sich zu lassen; zudem haben wir einen Dank oder Zehrpfennig von Euch verdient: Ihr habt uns baß getrillt und wohl geplagt um einen Bissen Brot und einen Trunk Wasser. Haben wir nicht das Feuer beim Kochtopf angeschürt wie die Küchenmägde? Haben wir nicht Euren Hausfreund, den schwarzen Kater, wieder eingehascht, der entsprungen war? Und haben wir Euch nicht an unserm Herzen erwarmen lassen, da der Frost des Alters Euer Knochengerippe schüttelte? Was wird uns dafür, daß wir Euch getaglöhnert und hofiert haben?«

Die Mutter Drude schien sich zu bedenken. Sie war nach Gewohnheit alter Matronen zäher Natur und schenkte nicht leicht etwas weg; gleichwohl hatte sie die drei Wichte in Affektion genommen und schien geneigt, ihrer Anforderung Genüge zu leisten. »Laßt sehen«, sprach sie, »ob ich euch mit einer Gabe bedenken kann, dabei sich jeder meiner erinnere.«Sie trippelte darauf in ihre Rumpelkammer, kramte darinnen lange, schloß Kasten auf und Kasten zu und rasselte mit den Schlüsseln, als wenn sie die hundert thebanischen Pforten im Beschluß hätte. Nach langem Verharren kam sie wieder zum Vorschein und trug im Zipfel ihres Kleides etwas verborgen, wendete sich gegen den weisen Sarron und frug: »Wem soll das, was ich in meiner Hand habe?« Er antwortete: »Dem Schwertträger Andiol.« Sie zog hervor einen verrosteten Kupferpfennig und sprach: »Nimm hin und sage mir, wem das soll, was ich mit meiner Hand fasse?« Der Knappe, welcher mit der Spende übel zufrieden war, antwortete trotzig: »Mag's nehmen, wer's will, was kümmert's mich!« Die Drude sprach: »Wer mag's?« Da meldete sich Amarin, der Schildhalter, und empfing ein Tellertüchlein von feinem Treu, sauber gewaschen und geplättet. Sarron stund auf der Lauer und gedachte, das beste zu erhaschen: aber er empfing nichts als einen Däumling von einem ledernen Handschuh und wurde von seinen Kameraden derb ausgelacht.

Die drei Gesellen zogen nun ihre Straße, nahmen kaltsinnig Abschied, ohne sich für die milden Gaben zu bedanken oder die Freigebigkeit der kargen Matrone zu rühmen; möchten ihr wohl gar Injurien gesagt haben, wenn sie nicht der Mistelstengel, dessen Kraft sie allerseits erprobt



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hatten, in Respekt gehalten hätte. Nachdem sie eines Feldwegs fortgewandert waren, fing's dem Schwertträger Andiol erst an zu wurmen, daß sie sich in der Drudenhöhle nicht besser bedacht hätten. »Hörtet ihr nicht, Kameraden«, sprach er, »wie die Unholdin in ihrer Rumpelkammer Kasten auf- und zuschloß, um den Plunderkram zusammenzusuchen, womit sie uns gefoppt hat? In ihren Kasten war gewiß Reichtum und Überfluß. Wären wir klug gewesen, so hätten wir danach getrachtet, der Zauberrute, ohne welche sie nichts vermochte, uns zu bemächtigen, wären in die Vorratskammer gedrungen und hätten, wie's der Kriegsleute Sitte und Brauch ist, Beute gemacht, ohne uns von einem alten Weibe trillen zu lassen.« Der unwillige Knappe fuhr noch lange in diesem Ton fort und schloß damit, daß er den verrosteten Pfennig hervorzog und aus Verdruß von sich warf. Amarin folgte dem Beispiel seines Konsorten, schwenkte das Tellertuch um den Kopf und sprach: »Was soll mir der Lappen in einer Wüste, wo wir nichts zu beißen haben; wenn wir einen wohlbesetzten Tisch finden, wird auch kein Träufeltuch fehlen«, überließ es drauf den wehenden Winden, die es einem nahen Dornstrauch zuwehten, welcher den Minnesold der alten Liebschaft an seinen spitzen Zacken festhielt.

Der weitreichende Sarron witterte indes etwas von verborgenen Kräften der verschmähten Gaben, tadelte die Unbesonnenheit seiner Spießgesellen, die nach dem gemeinen Weltlauf die Dinge nur von der Außenseite beurteilten, ohne den innern Gehalt zu prüfen: aber er predigte tauben Ohren. Dagegen war er auch nicht zu bereden, sich des unansehnlichen Däumlings zu entledigen, vielmehr nahm er durch diese Geschichten Anlaß, ein und den andern Versuch damit anzustellen. Er zog ihn über den Daumen der rechten Hand ohne Wirkung, hierauf wechselte er mit dem Daumen der linken, und so schlenderten die drei Gefährten noch eine Weile fort. Urplötzlich blieb Amarin stehen und frugverwundernd: »Wo ist Freund Sarron geblieben?«Andiol antwortete: »Laß ihn, der Geizhals wird aufsammeln, was wir weggeworfen haben.«Still und staunend hörte Sarron diese Rede. Es überlief ihn ein kalter Schauer, und er wußte sich in seiner Freude kaum zu mäßigen, denn das Geheimnis des Däumlings war ihm nun enträtselt. Seine Kameraden machten halt, ihn zu erwarten. Er aber ging seinen Schritt rüstig fürbaß, und als er einen guten Vorsprung gewonnen hatte, rief er mit lauter Stimme: »Ihr Trägen, was weilt ihr dahinten?



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Wie lange soll ich eurer harren?« Hoch aufhorchend vernahmen die beiden Knappen die Stimme ihres Gefährten vorwärts, den sie weit zurück vermuteten, verdoppelten deshalb ihre Schritte und liefen hastig vor ihm vorüber, ohne ihn zu sehen. Darüber freute er sich nur noch mehr, weil er nun gewiß war, daß ihm der Däumling die Gabe der Unsichtbarkeit mitgeteilt hatte. Und so trillte er sie wacker, ohne daß sie auf die Ursache dieser Täuschung rieten, ob sie sich gleich weidlich den Kopf darüber zerbrachen. Sie vermeinten, ihr Gefährte sei von einer Felsenwand ins tiefe Tal hinabgegleitet, habe sich den Hals abgestürzt und sein leichter Schatten umschwebe sie nun, ihnen das Valet zuzurufen. Darüber kam ihnen große Furcht an, daß sie Judasschweiß schwitzten.

Seines Spiels endlich müde, versichtbarte sich Sarron wieder und belehrte die horchsamen Gefährten über die Beschaffenheit des wundersamen Däumlings, schalt ihren Unbedacht, und sie stunden da ganz verblüfft wie die stummen Olgötzen. Nachdem sie sich von ihrem Hinstaunen erholt hatten, liefen sie spornstreichs zurück, die verschmähten Gaben der Mutter Drude wieder in Besitz zu nehmen. Amarin jauchzte laut auf, als er schon in der Ferne das Tellertuch am Wipfel des Dornbuschs wehen sah, der das anvertraute Gut, obgleich die vier Winde des Himmels um dessen Besitz zu kämpfen schienen, getreuer verwahrt hatte als mancher Depositionsschrank das Erbteil der Unmündigen unter gerichtlichem Schloß und Riegel. Mehr Schwierigkeiten kostete es, den verrosteten Pfennig wieder im Grase aufzufinden; doch Eigennutz und Geldsucht gaben dem spähenden Eigentümer Argusaugen und dienten ihm zur Wünschelrute, seine Schritte zu leiten und den Ort zu treffen, wo der Schatz verborgen lag. Ein hoher Luftsprung und lautes Freudengeschrei verkündeten den glücklichen Fund des verrosteten Pfennigs.

Von der langen Promenade war die Reisegesellschaft sehr ermüdet und suchte den Schatten eines Feldbaums, sich vor den drückenden Sonnenstrahlen zu bergen, denn es war hoher Mittag, der Hungerwurm dehnte sich achtzehn Ellen lang durch die leeren Gedärme und erregte im Grimmdarm unangenehme Empfindungen. Dem ungeachtet waren die drei Abenteurer frohen Mutes, ihr Herz schwoll vor freudiger Hoffnung, und die beiden Gesellen, welche die Kräfte ihrer Wundergaben noch nicht erprobt hatten, stellten damit allerlei Versuche an,



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solche zu erforschen. Andiol suchte seine wenige Barschaft zusammen, legte dazu den Kupferpfennig und fing an zu zählen, vorwärts, rückwärts, mit der Rechten, mit der Linken, von oben herunter, von unten hinauf, ohne die vermuteten Eigenschaften eines Heckpfennigs zu entdecken.

Amarin hatte sich auf die Seite gemacht, knüpfte gar ehrbar sein Tellertuch ins Knopfloch, betete in aller Stille sein Benedicite, tat darauf die beiden Flügeltüren seiner geräumigen Brotpforte weit auf und erwartete nichts Geringeres, als daß ihm eine gebratene Taube in den Mund fliegen würde; aber die Prozedur war viel zu links, als daß das magische Tüchlein operieren konnte, darum begab er sich wieder zur Gesellschaft, erwartend, was der Zufall entziffern werde. Die Empfindung des Heißhungers begünstigt zwar eben nicht die frohe Laune, aber wenn die Federkraft der Seele einmal gespannt ist, so erschlafft sie auch nicht gleich von jeder kleinen Wetterveränderung. Bei Amarins Zurückkunft riß ihm Sarron auf eine lustige Art das Tüchlein aus der Hand, breitete es auf den Rasen unter den Baum und rief: »Heran, Gesellen! Der Tisch ist gedeckt, bescher uns nun die Kraft des Tellertuchs einen wohlgekochten Schinken darauf und Weißbrot vollauf.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so regnete es Raspelsemmeln auf das Laken vom Baum herunter und zugleich stund eine antike Majolika in Form einer bauchigen Schüssel da, mit einem gesottenen Schinken. Hinstaunen und Eßlust malten auf den Gesichtern der hungrigen Tischgenossen einen seltsamen Kontrast; der Instinkt aus dem Magen besiegte jedoch bald die Bewunderung. Mit froher Gierigkeit regten sie nun die Kinnbacken, daß man hätte glauben sollen, das taktmäßige Geräusch einer Stampfmühle zu hören. Keinem entfiel während der Mahlzeit ein Wort, bis die letzte Fleischfaser von den Knochen geschält war.

Der Hunger war bald überflüssig gestillt, nun meldete sich der peinliche Zwillingsbruder desselben, der Durst, an, besonders da der Schmecker Sarron die Bemerkung machte, daß der Schinken etwas zuviel Salz gehabt habe. Der ungestüme Andiol bezeigte zuerst seine Unzufriedenheit über die halbe Mahlzeit, wie er sie nannte. »Der mich speist ohne Trank«, sprach er, »dem weiß ich's wenig Dank«, und kannegießerte noch viel über die mangelhafte Wundergabe des Tellertuchs. Amarin, der sein Eigentum nicht wollte heruntersetzen lassen, fand



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sich durch diese Kritik beleidigt, faßte das Tuch bei den vier Enden, es samt der Schüssel wegzutragen; doch wie er's zusammennahm, war Schüssel und Schinkenknochen daraus verschwunden. »Bruder«, sprach er zu dem übermütigen Krittler, »wenn du in Zukunft mein Gast sein willst, so nimm mit dem vorlieb, was dir mein Tisch darbeut, und suche für deine durstige Milz eine ergiebige Quelle; was den Trunk betrifft, das kommt hier aufs andre Blatt; wo ein Backhaus steht, sagt das Sprichwort, da hat kein Brauhaus Platz.« — »Wohlgesprochen!« versetzte der Schlaukopf Sarron, »laß doch sehn, was dein anderes Blatt besagt«, entriß ihm nochmals das Tellertuch und breitete es links auf die Matten, mit dem Wunsche, daß der dienstbare Geist desselben möchte darauf erscheinen lassen Weinfiaschen ohne Zahl, mit dem besten Malvasier gefüllt. Im Umsehen stund eine Majolika da, dem Ansehen nach zum vorigen Service gehörig, als ein Henkekrug geformt, mit dem herrlichsten Malvasier gefüllt.

Jetzt hätten die glücklichen Knappen beim Genuß des süßen Nektars ihren Zustand nicht mit Kaiser Karis Throne vertauscht. Der Wein flutete alle Sorgen des Lebens auf einmal fort und perlte schäumend in den ehernen Pickelhauben, die sie statt der Pokale gebrauchten. Selbst Andiol, der Splitterrichter, ließ nun den Talenten des Tellertüchleins Gerechtigkeit widerfahren, und wenn's dem Eigentümer feil gewesen wäre, so hätt er's flugs um den verrosteten Pfennig und dessen noch unerkannte Meriten eingetauscht. Dieser wurd ihm gleichwohl immer werter, und er fühlte jeden Augenblick danach, um zu erfahren, ob er noch zur Stelle sei. Er zog ihn hervor, das Gepräge zu beschauen, davon die geringste Spur so gar verloschen war. Drauf wendete er ihn um, die Rückseite zu betrachten: das war die rechte Methode, dem Pfennig seine Spenden abzulocken. Wie er auch hier weder Bild noch Überschrift entdeckte und ihn wieder einstecken wollte, fand er unter dem Wunderpfennig ein Goldstück von gleicher Größe und ebenso dick als derselbe. Er wiederholte den Versuch noch oftmals unbemerkt, um seiner Sache gewiß zu sein, und fand das Manöver zuverlässig. Mit der ausgelassenen Freude, welche der alte Syrakuser Philosoph empfand, als er im Bade die Wasserprobe des Goldes ausgespäht hatte und aus frohem Unsinn in unverschämter Nacktheit sein grec durch alle Gassen posaunte, erhob sich Andiol, der Schwertträger, von seinem Rasensitze, hüpfte mit krummen Bocksprüngen um den Baum und



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schrie aus voller Kehle: »Kameraden, ich hab's, ich hab's!« und verhehlte ihnen nicht seinen alchymischen Prozeß. Im ersten Feuer seines freudigen Enthusiasmus bracht er in Vorschlag, augenblicks die wohltätige Mutter Drude wieder aufzusuchen, die ihre kleinen Neckereien so edelmütig vergütet hatte, sich ihr zu Füßen zu werfen und ihr zu danken. Ein gleichmäßiger Trieb beseelte sie alle, geschwind rafften sie ihre Habseligkeiten zusammen und trabten frisch den Weg zurück, wo sie hergekommen waren. Aber entweder wurden ihre Augen gehalten oder die Weindünste führten sie irre, oder die Mutter Drude verbaten sich geflissentlich vor ihnen: genug, es war nicht möglich, die Grotte wiederzufinden, ob sie gleich die Pyrenäen fleißig durchkreuzten und die abenteuerlichen Gebirge schon im Rücken hatten, ehe sie merkten, daß sie irregegangen wären und sich auf der Heerstraße nach dem Königreich Leon befänden.

Nach einer gemeinschaftlichen Konsultation wurde beschlossen, diese Marschroute zu verfolgen und allgemach der Nase weiter nachzugehen. Das glückliche Kleeblatt der Knappen sah nun wohl, daß sie sich im Besitz der wünschenswertesten Dinge befanden, die, wenn sie auch nicht geradezu das größte Erdenglück gewährten, doch die Grundlage zur Erreichung jedes Wunsches enthielten. Der alte lederne Däumling, so unscheinbar er war, hatte alle Eigenschaften des berufenen Ringes, welchen Gyges ehemals besaß; der verrostete Pfennig war so gut und brauchbar wie der Säckel des Fortunatus, und dem Tellertuch war außer der ursprünglichen Gabe noch nebenher der Segen jener berühmten Wunderflasche des heiligen Remigius verliehen. Um sich des wechselseitigen Genusses dieser herrlichen Geschenke bedürfenden Falls zu versichern, machten die drei Gesellen einen Bund, sich nie voneinander zu trennen und ihre Güter gemeinschaftlich zu gebrauchen. Indessen rühmte jeder, nach der gewöhnlichen Vorliebe für sein Eigentum, seine Gabe als die vorzüglichste, bis der weise Sarron bewies, daß sein Däumling alle Vollkommenheiten der übrigen Wunderspenden in sich vereinige. »Mir«, sprach er, »steht in den Häusern der Prasser Küch und Keller offen, ich genieße des Vorrechts der Stubenfliegen, mit dem König aus einer Schüssel zu speisen, ohne daß er mir's wehren kann; auch den Geldkasten der Reichen zu leeren und selbst die Schätze aus Jndostan mir anzueignen, steht in meiner Macht, wenn ich mir den Weg dahin nicht verdrießen lasse.«



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Unter diesen Gesprächen langten sie zu Astorga an, wo König Garsias von Suprarbien hofhielt, nachdem er mit der Prinzessin Urraca von Aragonien, die ihre Schönheit ebenso berühmt gemacht hat wie ihre Koketterie, sich vermählt hatte. Der Hof war glänzend, und die Königin schien die lebendige Musterkarte ihrer Residenz zu sein, an der man alles, was die Eitelkeit zum Prunk der Damen erfand, übersehen konnte. In den pyrenäischen Wüsteneien waren die Begierden und Leidenschaften der drei Wanderer eng begrenzt und mäßig. Sie begnügten sich an der Gabe des Tellertüchleins; wo sie einen schattenreichen Baum fanden, breiteten sie es aus und hielten offene Tafel. Sechs Mahlzeiten des Tages war das wenigste, und es gab keinen Leckerbissen mehr, den sie sich nicht auftischen ließen. Wie sie aber in die Königsstadt einzogen, erwachten in ihrer Brust tobende Leidenschaften. Sie machten große Projekte, sich durch ihre Talente vorzustreben und aus dem Knappenpöbel in den Herrenstand hinaufzuschwingen. Unglücklicherweise sahen sie die schöne Urraca, deren Reize sie so bezauberten, daß sie den Anschlag faßten, bei dieser Prinzessin ihr Heil zu versuchen, um sich für das Abenteuer in der Drudenhöhle zu entschädigen. Sie merkten nicht sobald einander ihre Sympathien ab, so erwachte in ihren Herzen eine nagende Eifersucht, das Band der Eintracht wurde zerrissen, und wie überhaupt drei Glückliche schwerlich unter einem Dache zusammen hausen können, denn die Eintracht ist die Tochter wechselseitiger Bedürfnisse: so zerfiel die Konföderation mit einemmal, die Erbverbrüderten trennten sich und gelobten einander nur das einzige, ihr Geheimnis nicht zu verraten.

Andiol setzte, um seinen Nebenbuhlern zuvorzukommen, seinen Taschenprägstock alsbald in Bewegung, verschloß sich in eine einsame Kammer und ermüdete nicht, den kupfernen Pfennig umzuwenden, um den Säckel mit Goldstücken anzufüllen. Sobald er bei Kasse war, staffierte er sich als ein stattlicher Ritter heraus, erschien bei Hofe, nahm Bestallung und zog bald durch seine Pracht die Augen von ganz Astorga auf sich. Die Neugierigen forschten nach seiner Herkunft, aber er beobachtete über diesen Punkt ein geheimnisvolles Stillschweigen und ließ die Klügler raten; doch widersprach er nicht dem Gerüchte, welches ihn für einen Sprossen aus Karl des Großen wilder Ehe ausgab, und nannte sich Childerich, den Sohn der Liebe. Die Königin entdeckte vermöge ihres Scharfblicks diesen Trabanten, der in dem Wirbel ihrer



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Zauberreize seine Bahn beschrieb, mit Vergnügen und verabsäumte nicht, ihre anziehende Kraft auf ihn wirken zu lassen, und Freund Andiol, dem in den höheren Regionen der Liebe noch alles neu und fremd war, schwamm in dem Strom des Äthers, der ihn fortriß, wie eine leichte Seifenblase dahin. Die Koketterie der schönen Urraca war nicht ganz Temperament oder Stolz, auf den Faden ihrer Eitelkeit nur Herzen anzureihen, um mit dieser blendenden Garnitur, die in den Augen der Damen sonst wohl ihren Wert haben mag, zu paradieren. Der Eigennutz, ihre Paladins zu plündern, und das boshafte Vergnügen, sie hernach zu verhöhnen, hatte an ihren Intrigen großen Anteil. Ob sie gleich einen Thron besaß, so strebte sie doch, alles zu haben, worauf die Menschen einen Wert legen, wenn sie auch weiter keinen Gebrauch davon zu machen wußte. Ihre Gunst wurde nur um den höchsten Preis verliehen, welchen die betörten Champions darauf zu setzen vermochten; sobald ein verliebter Duns geplündert war, erhielt er mit höhnender Verachtung den Abschied. Von diesen Opfern einer unglücklichen Leidenschaft, die den Honigseim des Genusses mit bittrer Reue vergällte, wußte Frau Fama im ganzen Königreich Suprarbien viel zu erzählen. Dem ungeachtet fehlte es nicht an dummdreisten Motten, die um das verderbliche Licht flogen, in dessen Flamme sie ihren Untergang fanden.

Sobald Krösus Andiol von der raubsüchtigen Königin gewittert wurde, nahm sie sich vor, seiner als eines sinesischen Apfels sich zu bedienen, den man ganz ausschalt, um des süßen Marks zu genießen. Die Sage von seiner illustern Abkunft und der große Aufwand, den er machte, gaben ihm bei Hofe so viel Gewicht und Ansehen, daß auch den scharfsichtigsten Augen durch diese glänzende Hülse der Schildknappe nicht durchschien, obgleich seine handfesten Sitten die vormalige Troßgenossenschaft oft verrieten. Diese Anomalien der feinem Lebensart kursierten am Hofe vielmehr für baren Originalgeist und Charakterzüge eines Kraftgenies. Es gelang ihm, unter den Günstlingen der Königin den ersten Platz zu erhalten, und um ihn zu behaupten, scheute er weder Mühe noch Kosten. Täglich gab er prächtige Feten, Turniere, Ringeirennen, königliche Gastmahle, fischte mit goldenen Netzen und würde, wie der Verschwender Heliogabal, die Königin in einem See von Rosenwasser oder Lavendelgeist herumgeschifft haben, wenn sie die römische Geschichte studiert hätte oder von selbst auf diesen



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sinnreichen Einfall gekommen wär. Indessen fehlte es ihr nicht an ähnlichen Ideen. Bei einer Jagdpartie, die ihr Favorit verantstaltet hatte, äußerte sie den Wunsch, den ganzen Wald in einen herrlichen Park mit Grotten, Fischteichen, Kaskaden, Springbrunnen, Bädern von panschem Marmor, Palästen, Lusthäusern und Kolonnaden umgeschaffen zusehen, und den Tag darauf waren vieltausend Hände geschäftig, den großen Plan auszuführen und das Ideal der Königin womöglich noch zu verschönern. Wenn das lange so fortgedauert hätte, würde das ganze Königreich umgeformt worden sein; wo ein Berg stund, wollte sie eine Ebene haben, wo der Landmann ackerte, wollte sie fischen, und wo Gondeln schwammen, wünschte sie Karussell zu reiten. Der kupferne Pfennig ermüdete so wenig, Goldpfennige auszubrüten, wie die erfindsame Dame, solche durchzubringen. Ihr einziges Bestreben war, den hartnäckigen Verschwender mürbe zu machen und ihn zugrunde zu richten, um seiner loszuwerden.

Indes Andiol am Hofe sich auf eine so glänzende Art produzierte, mästete sich der träge Amarin von den Wohltaten seines Tellertuchs. Doch verleideten ihm Neid und Eifersucht gar bald den Hochgeschmack seiner Tafel. »Bin ich nicht ebensowohl«, dachte er, »Ritter Rolands Knappe gewesen wie Andiol, der stolze Prasser? Und ist die Mutter Drude nicht auch in meinen Armen erwarmt? Gleichwohl hat sie ihre Gaben so ungleich ausgeteilt: er hat alles, und ich habe nichts! Ich darbe im Überfluß, habe kein Hemd auf dem Leibe und keinen Heller im Säckel; er lebt prächtiger als ein Prinz, glänzt am Hofe und ist der Günstling der schönen Urraca.«Unwillig nahm er sein Tellertuch zusammen, steckt's in die Tasche und ging auf den Marktplatz promenieren, als eben der Mundkoch des Königs öffentlich ausgestäupt wurde, weil er durch eine schlecht zugerichtete Mahlzeit dem Monarchen eine starke Indigestion zugezogen hatte. Wie Amarin diese Geschichte erfuhr, fiel ihm auf, und er dachte bei sich selbst: in einem Lande, wo man Küchenversehen streng ahndet, werden ohne Zweifel auch Küchenverdienste hoch belohnt. Stehenden Fußes ging er in die Hofküche, gab sich für einen reisenden Koch aus, der Dienste suche, und verhieß, in Zeit von einer Stunde das Probestück zu liefern, welches man von ihm fordern würde.

Das Küchendepartement wurde am Hofe zu Astorga, wie billig, für eins der wichtigsten erkannt, welches auf das Wohl oder Weh des Staates



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zunächst Einfluß habe. Denn die gute oder böse Laune des Regenten und seiner Minister hängt doch größtenteils von der guten oder schlechten Dauungskraft des Magens ab, und daß diese durch die chymische Operation der Küche befördert oder gehindert werde, ist eine bekannte Sache. Nun aber hat der weiseste der Könige in seinen Sprüchen, vermutlich aus eigner Erfahrung, gelehrt, daß ein grimmiger Leu minder furchtbar sei als ein übelhumorisierter König; darum war es ein höchst vernünftiger Grundsatz, mit der Wahl des Mundkochs sorgfältiger zu Werk zu gehen als mit der Wahl des Ministers. Amarin, dessen Außenseite ihn eben nicht empfahl, denn er hatte völlig das Ansehen eines Vagabunden, mußte seine ganze Beredsamkeit, das ist das Talent der Windbeutelei, annehmen, um unter die Aspiranten der Kochsbestallung aufgenommen zu werden. Nur die Dreistigkeit und Zuverlässigkeit, mit welcher er von seiner Kunst sprach, bewogen den Speisemeister, ihm ein cochon farci en haut gout, an welcher Zurichtung die Kunst der erfahrensten Köche oft gescheitert war, zur Probe aufzugeben. Als er die Ingredienzen dazu fordern sollte, verriet er eine so grobe Unwissenheit in der Wahl derselben, daß sich die ganze Küchengilde des Lachens nicht enthalten konnte. Er ließ sich durch dies all nicht beirren, verschloß sich in eine abgesonderte Küche, schürte zum Schein großes Feuer an, deckte indes ganz in der Stille sein Tellertuch auf und begehrte das verlangte Probestück meisterlich zugerichtet. Augenblicklich erschien das leckere Gericht in der gewöhnlichen antiken Majolika. Er nahm's und richtete es zierlich auf einer silbernen Schüssel an und übergab's dem Oberschmecker zur Prüfung, der mit Mißtrauen ein wenig auf die Zunge nahm, um die feinen Organe seines Gaumens nicht durch eine so verpfuschte Speise zu verletzen. Allein zu seiner Verwunderung fand er das Farci köstlich und erkannte es würdig, auf die königliche Tafel aufgetragen zu werden.

Der König bezeigte seiner Indisposition halber wenig Eßlust, doch kaum düftete ihm das herrliche Farci Wohlgeruch entgegen, so klärte sich seine Stirn auf, und der Horizont derselben deutete auf gut Wetter. Er begehrte davon zu kosten, leerte einen Teller nach dem anderen ab und würde das ganze Spanferkel aufgezehrt haben, wenn nicht eine Anwandlung von Wohlwollen gegen seine Gemahlin ihn bewogen hätte, einige Überbleibsel davon ihr zu senden.

Die Lebensgeister des Monarchen waren durch die gute Mahlzeit so



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angefrischt und wirksam und Se. Majestät fanden sich nach der Tafel so wohlgemut, daß Sie geruhten, mit dem Minister zu arbeiten und sogar aus eigner Bewegung die dornigen Geschäfte von der langen Bank vorzunehmen. Das herrliche Triebrad dieser so glücklichen Revolution wurde nicht vergessen. Dem kunsterfahrnen Amarin wurden prächtige Kleider angetan, man führte ihn aus der Küche vor den Thron, und nach einem langen Panegyrikus seiner Talente wurde er mit Feldhauptmannsrang zum ersten Mundkoch des Königs ernannt.

In kurzer Zeit erreichte sein Ruhm den höchsten Gipfel. Alle Leibgerichte der übelberüchtigten römischen Sardanapalen aus dem Altertum, welche der knausrige Zopf und der frugale Hilmar Curas in ihren historischen Schulkompendien jenen alten Weltbeherrschern für Beweise der ausgelassensten Verschwendung und wollüstigsten Schleckerei anrechnen, die ihrer Meinung nach den Ruin des Reichs und der römischen Finanzen nach sich gezogen haben sollten, dergleichen zum Beispiel Krafttorten waren, mit gediegenen Goldkörnern bestreut, Pasteten von Pfauenzungen, Krammetsvögelhirn, Rebhühnereier, nach welchen Dingen heutzutage keinem feinen Züngler mehr lüstet, nicht minder Frikassees von Hahnenkämmen, Karpenaugen, Barbenmäulern, in welchen letztem, der alten Sage nach, eine Gräfin von Holland ihre Grafschaft soll vernascht haben: alles das waren nur alltägliche Gerichte, die der neue Apicius seinem Monarchen auftischte. An Galatagen oder wenn er den königlichen Gaumen noch leckerhafter zu kitzeln gutfand, vereinigte er oft die Seltenheiten aus allen drei Teilen der damals bekannten Welt in einer einzigen Schüssel und schwang sich durch diese Verdienste zu dem eminenten Posten eines königlichen Oberküchenmeisters und endlich gar zum Majordomo empor.

Ein so glänzendes Meteor am Küchenhorizont beunruhigte das Herz der Königin außerordentlich. Sie vermochte bisher alles über ihren Gemahl und führte ihn am Gängelbande ihrer Willkür; aber nun befürchtete sie, durch die unvermutete Favoritenschaft um Gewalt und Ansehen zu kommen. Dem guten König Garsias war die freie Lebensart seiner Gemahlin nicht verborgen; aber entweder besaß er so viel politisches oder physisches Phlegma, daß er um des lieben Hausfriedens willen oder aus körperlicher Indolenz nie an seine Stirn fühlte, und wenn ihn je zuweilen eine grämliche Laune anwandelte, so griff ihn die schlaue Donna von der schwachen Seite des Magens an und war so



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sinnreich in Erfindung schmackhafter Brühen und Ragouts, die auf seinen Geist so mächtig wirkten, als wenn sie mit dem Wasser aus dem Fluß Lethe wären eingekocht gewesen. Doch seit der Küchenrevolution, die Amarins Tellertuch bewirkte, kam die Kochkunst der Königin um alle Reputation. Sie hatte einigemal die Dreistigkeit gehabt, sich mit dem Majordomo in einen Wettkampf einzulassen, aber allemal zu ihrem Nachteil. Denn anstatt über Amarins Schüssel zu siegen, wurde die ihrige gemeiniglich unversucht abgetragen und den Aufwärtern und Tellerleckern preisgegeben. Ihr Schöpfungsgeist ermüdete in Zubereitung köstlicher Speisen, Amarins Kunst konnte nicht anders als durch sich selbst übertroffen werden. Unter so kritischen Konjunkturen machte die Königin den Entwurf, auf das Herz des neuen Günstlings ihres Gemahls einen Angriff zu wagen, um ihn durch die Liebe in ihr Interesse zu ziehen. Sie berief ihn insgeheim zu sich, und durch die Überredungskunst ihrer Reize gelang es ihr leicht, das von ihm zu erhalten, was sie wünschte. Er verhieß ihr zu dem nächst bevorstehenden Geburtstag des Königs eine Zurichtung von seiner Fasson, welche alles übertreffen sollte, was jemals dem Sinne des Geschmacks geschmeichelt hätte. Welche Belohnung für diese Gefälligkeit der Majordomo sich ausbedungen, läßt sich jedoch leichter erraten als erzählen. Genug, sooft die Königin mit Amarins Kalbe pflügte, behielt ihre Schüssel nach dem Urteil des Königs und seiner Schranzen jederzeit den Preis.

Die beiden Wichte spielten nun am Hofe zu Astorga die ansehnlichsten Rollen und strotzten mit unbändigem Stolz und Übermut nach Art glücklicher Parvenüs einher. Ob sie das Schicksal nach ihrer Trennung gleich wieder so nahe zusammengebracht hatte, daß sie aus einer Schüssel aßen, aus einem Becher tranken und die Gunst der schönen Urraca teilten, stellten sie sich doch ihrer Verabredung gemäß wildfremd gegeneinander und ließen nichts von ihrer ehemaligen Kameradschaft merken. Keiner von beiden wußte sich indessen zu erklären, wo der weise Sarron hingeschwunden sei. Dieser hatte vermöge seines Däumlings bisher das strengste Inkognito beobachtet und die Vorteile desselben auf eine Art genossen, die zwar nicht in die Augen fiel, aber dem ungeachtet ihm alle seine Wünsche gewährte.

Der Anblick der schönen Urraca hatte auf ihn eben den Eindruck gemacht wie auf seine Spießgesellen. Seine Wünsche und Anschläge waren die nämlichen, und weil es zur Ausführung derselben keiner



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Umständlichkeit bedurfte, so hatte er in Absicht der königlichen Liebschaft bereits einen großen Vorsprung gewonnen, ehe seine Nebenbuhler das mindeste davon ahndeten. Seit der Trennung umschwebte der weise Sarron die beiden Konsorten unsichtbar und blieb nach wie vor Amarins Tisch- und Andiols Taschengenoß; füllte den Magen mit den Überbleibseln von der Tafel des einen und seinen Beutel unbemerkt mit dem Überfluß des andern. Seine erste Sorge war, sich in ein romantisches Gewand zu werfen, um seinen Plan auszuführen und die schöne Königin in ihrer Schäferstunde zu beschleichen. Er kleidete sich in himmelblauen Atlas mit rosenfarbenen Unterkleidern, in Form eines arkadischen Schäfers, der in einem Maskensaal seine Herde weidet, parfümierte sich durchaus und trat durch Hilfe seiner Wundergaben ungesehen in der Königin Gemach, zur Zeit ihrer Siesta.

Der Anblick der schlafenden Schönheit im reizvollsten Negligé entflammte seine Begierden so sehr, daß er sich nicht enthalten konnte, einen feurigen Kuß auf ihre purpurfarbenen Lippen zu drücken, von dessen Schnalzen die schlummernde Hofdame erwachte, deren Funktion war, mit einem Fliegenwedel von Pfauenfedern ihrer Gebieterin kühle Luft zuzufächeln und die geflügelten Insekten zu verscheuchen. Die Prinzessin erweckte der herzhafte Kuß gleichfalls aus dem süßen Schlafe, und sie fragte mit lüsterner Verschämtheit, wer im Zimmer sei, der es wagen dürfe, einen Kuß auf ihren Mund zu drücken.

Die Hofdame setzte ihren Windfächer wieder in Bewegung, als wenn sie immer munter gewesen wäre, versicherte, daß keine dritte Person im Zimmer sei, und fügte die Vermutung hinzu, es müsse ein süßer Traum Ihro Hoheit getäuscht haben. Die Prinzessin war ihrer Empfindung viel zu gewiß und befahl dem aufwartenden Kammerfräulein, außen im Vorsaal bei der Wache Nachfrage zu halten. Indem diese ihr Taburet verließ, um dem Befehl Folge zu leisten, fing der Windfächer an, sich zu bewegen und der Königin kühle Luft zuzuwehen, welche Blütenduft und Ambragerüche ausatmete. Ober diese Erscheinung kam der Königin Grausen und Entsetzen an, sie sprang von ihrem Sofa auf und wollt entfliehen, fand sich aber von einer unsichtbaren Gewalt zurückgehalten und vernahm eine Stimme, welche diese Worte ihr zuflüsterte: »Schönste Sterbliche, fürchtet nichts, Ihr befindet Euch unter dem Schutze des mächtigen Königs der Feen, Dämogorgon genannt. Eure Reize haben mich aus den obern Regionen des Äthers in die drükkende



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Atmosphäre des Erdballs herabgezogen, Eurer Schönheit zu huldigen.« Bei diesen Worten trat die Hofdame ins Zimmer, um von ihrem Auftrag Rapport zu erstatten, sie wurde aber gleich wieder mit Protest zurückgeschickt, weil ihre Gegenwart bei dieser geheimen Audienz entbehrlich schien. Die schöne Urraca fand sich natürlich durch einen solchen überirdischen Liebhaber ungemein geschmeichelt. Sie ließ alle Farben der feinsten Koketterie spielen, um durch den bunten Schimmer ihrer buhlerischen Reize den Beherrscher der Feen zu blenden und sich eine so wichtige Eroberung zu sichern. Von der bescheidensten Verlegenheit, die sie anfangs affektierte, ging sie zu den wärmsten Gefühlen der aufkeimenden Leidenschaft über. Sie fing an, den Druck der unsichtbaren Hand zu erwidern, darauf folgten schmachtende halblaute Seufzer und ein innres Stöhnen, das den vollen Busen bald hob, bald senkte, nur die zaubervollen schwarzen Augen blieben untätig, weil sie kein Objekt fanden, darauf sie wirken konnten. Dagegen ließ die liebreizende Königin ihren Witz so mächtig spielen, daß Sir Dämogorgon Mühe hatte, seinen ätherischen Verstand bei Ehren zu erhalten.

Die trauliche Zärtlichkeit der Liebenden wuchs mit jedem Augenblick, die Königin beklagte nur, daß ihr ätherischer Liebhaber ein Wesen ohne Körper sei, und schien der Körperwelt für die Geisterwelt ein großes Prärogativ einzuräumen. »Habt Ihr«, sprach sie, »mir nicht eingestanden, mächtiger Beherrscher des Luftkreises, daß Euch die körperlichen Reize einer Sterblichen gefesselt haben? Aber was soll mein Herz an Euch binden? Liebe ohne Sinnlichkeit, dünkt mich, sei ein Unding.« Der Luftmonarch wußte darauf nichts zu antworten; denn obgleich die platonische Liebe in den Luftregionen eigentlich haust und hier der Ort gewesen wäre, durch diese beliebte Theorie sich aus der Affäre zu ziehen, so war ihm doch weder Plato noch sein System bekannt. Darum faßte er das Ding bei einem andern Ende an. »Wisset, schöne Prinzessin«, sprach er, »daß es wohl in meiner Macht steht, mich zu verkörpern und in Menschengestalt mich Euren Augen darzustellen, aber eine solche Erniedrigung ist unter meiner Würde.« Die schöne Urraca ließ indessen nicht ab, diese Aufopferung so dringend zu begehren, daß der verliebte Feenkönig ihrem Verlangen nicht widerstehen konnte. Er willigte dem Anschein nach ungern ein, und die Phantasie der Prinzessin schob ihr das Bild des schönsten Mannes vor, den sie



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mit gespannter Erwartung zu erblicken vermeinte. Aber welcher Kontrast zwischen Original und Ideal, da nichts als ein gewöhnliches Alltagsgesicht zum Vorschein kam, einer von den gewöhnlichen Menschen, dessen Physiognomie weder Genieblick noch empfindsamen Geist verriet! Der angebliche Feenprinz hatte in seiner arkadischen Schäfertracht völlig das Ansehn eines flämischen Bauern nach van Dyks Komposition. Die Königin verbarg ihre Verwunderung über diese bizarre Erscheinung so gut sie konnte und beruhigte sich vorderhand damit, daß der stolze Luftgeist des zudringlichen Begehrens halber, sich zu verkörpern, ihrer Sinnlichkeit vermutlich eine kleine Pönitenz habe auferlegen wollen und daß er bei einer anderweitigen Erscheinung sich schon veradonisieren werde.

Die erste Entrevue endigte sich also, im ganzen genommen, zur Zufriedenheit beider Teile. Es wurden neue Zusammenkünfte verabredet, welche der weise Sarron nicht verabsäumte und sich durch die Umarmungen der reizenden Buhlschaft für die Abenteuer in der Drudenhöhle allgenugsam entschädigte. Vielleicht wäre er jedoch ohne die Gabe der Unsichtbarkeit glücklicher gewesen als mit derselben. Unerkannterweise folgte er seiner Dame wie ihr Schatten, und da konnte es nicht fehlen, Entdeckungen zu machen, die einem Liebhaber eben nicht behagen. Er fand, daß die gefällige Prinzessin ihre Gunstbezeugungen auf Koch und Kämmerling wie auf den Feenherrscher mit gleichmäßiger Freigebigkeit ausspendete, und diese fatale Kollision mit den vormaligen Zeltkameraden, die so gut akkreditiert waren wie er selbst, erzeugte in seinem Herzen eine peinigende Eifersucht. Er sann auf Mittel, die Nebenbuhler auszubeißen, und fand zufälligerweise Gelegenheit, seinen Groll an dem Dummkopf Amarin auszulassen.

Bei einem Gastmahle, womit die Königin ihren Gemahl und den ganzen Hof regalierte, wurde eine verdeckte Schüssel aufgetragen, für welche König Garsias seinen rüstigen Appetit ganz aufsparte. Denn ob sie gleich das Tellertuch hergezaubert hatte, so kursierte sie doch unter der Firma der Königin, und der Oberküchenmeister beteuerte hoch, daß die Kochkunst von Ihro Hoheit die seinige diesmal so weit übertroffen, daß er, um seine Reputation nicht aufs Spiel zu setzten, sein gewöhnliches Kontingent zum Tafelaufsatz zurückbehalten habe. Diese Schmeichelei ging der Königin so glatt ein, daß sie solche dem Majordomo mit dem zärtlichsten bedeutsamsten Blicke bezahlte, welcher



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dem unsichtbar auflauernden Sarron durchs Herz schnitt. »Schon gut!« sprach er unwillig zu sich selbst, »ihr sollt alle nichts davon schmecken.«

Als der Vorschneider die Schüssel aushob und die Glocke abdeckte, verschwand zum Erstaunen aller umstehenden Hofdiener die darinnen verborgene Schleckerei, und die Schüssel war leer und ledig. Es erhob sich unter der Dienerschaft groß Flüstern und Gemurmel, der Vorschneider ließ vor Schrecken das Messer zur Erde fallen und sagt's an dem Speisemeister. Dieser lief zum Oberschmecker und hinterbrachte ihm die Hiobspost, der nicht säumte, sie seinem Chef ins Ohr zu spedieren. Darauf erhob sich der Majordomo mit ernsthafter Amtsmiene von seinem Platz und raunte der Königin die traurige Kunde ins Ohr, welche darüber leichenblaß ward und Schlagwasser begehrte. Der König harrte indes mit großer Begierde dem Kredenzer entgegen, der ihm den sehnlich erwarteten Leckerbissen auftragen sollte. Er sah bald zur Rechten, bald zur Linken nach dem Teller, der da kommen sollte. Da er aber die Bestürzung der Hofdiener wahrnahm und wie alles in Verwirrung durcheinanderlief, frug er, was das sei, und die Königin faßte sich ein Herz und eröffnete ihm mit wehmütiger Gebärde, es habe sich ein Unfall ereignet, daß ihre Schüssel nicht serviert werden könne. Ober diese unangenehme Botschaft ergrimmte der hungrige Monarch, wie leicht zu erachten, gar sehr in seinem Herzen, schob mit Unmut den Stuhl und begab sich in seine Appartement, bei welchem eilfertigen Rückzuge sich jedermann wahrte, ihm in den Weg zu treten. Die Königin weilte auch nicht lange im Speisesaal und begab sich in ihr Gemach, daselbst über den armen Amarin den Stab zu brechen.

Augenblicklich ließ sie den bestürzten Majordomo, der sich von seinem Schrecken über die verschwundene Speise und den darüber geäußerten Unwillen des Königs noch nicht erholt hatte, vor sich bescheiden, und als er de- und wehmütig der zornigen Gebieterin sich zu Füßen legte, redete sie ihn emphatisch mit diesen Worten an: »Undankbarer Verräter, achtest du die Gunstbezeigungen einer Königin so gering, daß du es wagen darfst, den Unwillen ihres Gemahls gegen sie zu reizen und sie dem Gelächter des Hofgesindes auszusetzen? Ist dein Ehrgeiz so unbegrenzt, daß du mir für den höchsten Preis den kleinen Ruhm mißgönnst, des Königs Tafel mit der niedlichsten Speise zu besetzen? Reute dich dein Versprechen, auf mein Geheiß das herrlichste Schaugericht



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herzuzaubern, daß du es verschwinden ließest, da ich im Begriffe war, Lob und Beifall dafür einzuernten? Offenbare mir flugs das Geheimnis deiner Kunst oder erwarte den Lohn der Zauberei auf dem Scheiterhaufen, wo du morgenden Tages bei langsamem Feuer braten sollst.«

Dieser strenge Bescheid engte dem zaghaften Tropf dergestalt das Herz ein, daß er der Rache der Königin nicht anders zu entrinnen glaubte als durch ein aufrichtiges Geständnis der Beschaffenheit seiner Kochkunst. Da nun seine geschwätzige Zunge einmal im Gange war und er überdies der aufgebrachten Dame den Verdacht zu nehmen wünschte, daß er das köstliche Ragout neidisch habe verschwinden lassen, verschwieg er weder die Abenteuer in den Pyrenäen noch auch die Spenden der Mutter Drude.

Durch diese getreue Erzählung gelangte die Königin auf einmal zu der längst gewünschten genauen Kundschaft ihrer drei Favoriten und ward augenblicks Sinnes, sich der magischen Geheimnisse derselben zu bemächtigen. Sobald der unbedachtsame Schwätzer ausgeschwatzt und seiner Meinung nach sich hinlänglich gerechtfertigt hatte, nahm sie das Wort und sprach mit verächtlicher Miene: »Elender Tropf! meinst du mit einer armseligen Lüge dich zu retten und mich zu täuschen? Laß mich die Wunder deines Tellertuchs sehen oder fürchte meine Rache.« Amarin war so willig als schuldig, diesem kategorischen Befehl Folge zu leisten. Er zog sein Tellertuch hervor, breitete es aus und frug, was er der Königin auftischen solle; sie begehrte eine reife Muskatennuß in der frischen Schale.

Amarin gebot dem dienstbaren Geiste des Tüchleins, die Majolika erschien, und die Königin empfing die reife Muskatennuß in der Schale an dem grünen Zweige, welchen ihr Amarin ehrerbietig auf den Knien zu ihrer Verwunderung darreichte. Doch anstatt darnach zu greifen, erfaßte sie das magische Tellertuch und warf's in eine offene Truhe, die sie hurtig verschloß. Ohnmächtig sank der betrogene Majordomo zu Boden, da er den Verlust seiner zeitlichen Glückseligkeit vor Augen sah. Die schlaue Räuberin aber tat einen lauten Schrei, und als ihre Diener hereintraten, sprach sie: »Dieser Mann ist mit der fallenden Sucht behaftet, pfleget sein, doch laßt ihn nie wieder zu mir hereintreten, daß er mir keinen zweiten Schrecken mache.«

Dämischerweise hatte der kluge Sarron bei all seiner Klugheit sich diesmal



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schlecht vorgesehen, da er seinem Kompan einen hämischen Possen zu spielen gedachte. Aus Schadenfreude verschlang er gierig die geraubte Schleckerei, dachte nicht an die goldne Regel, die drei weise Nationen wegen ihrer Brauchbarkeit so kurz und rund in drei Worte eingeschlossen haben, und empfand Obelsein und Magendrücken. Aus Furcht, sichtbare Beweise seiner Unsichtbarkeit im Tafelgemach zurückzulassen, suchte er das Freie und promenierte im Park, um durch die Bewegung die Ladung des Magens in einen engem Raum zu drängen. Er konnte die Königin also diesmal nicht in ihr Gemach begleiten, sie hatte ihn aber am Tage vorher zu einer partie fine auf den Abend eingeladen, wo er auch nicht verabsäumte, sich einzufinden.

Die Königin war ungemein bei Laune, auch so zärtlich und liebreizend wie eine Grazie, daß Freund Dämogorgon im süßen Taumel der Lüste dahinschwand. In dieser Verzückung reichte ihm die schlaue Buhlerin eine Nektarschale hin, die sie selbst kredenzte und deren Genuß ihn bald in süßen Schlummer wiegte, denn es war ein wirksamer Schlaftrunk darin verborgen. Sobald er laut zu schnarchen begann, bemächtigte sich die arglistige Räuberin des Däumlings der Unsichtbarkeit, ließ den Luftmonarchen durch ihre Diener forttransportieren und in einem Winkel der Stadt auf die freie Straße legen, wo er auf dem Steinpflaster den narkotischen Taumel ausschnarchte. Der Königin kam vor Freude kein Schlaf in die Augen, ihr Dichten und Denken war nur darauf gerichtet, auch das dritte magische Kleinod zu erhaschen.

Kaum vergüldete der erste Morgenstrahl die Zinnen des königlichen Palastes zu Astorga, so schellte die rastlose Dame ihren Zofen und sprach: »Sendet Botschaft an Childerich, den Sohn der Liebe, daß er mich frühe zur Messe geleite und diese Gunst mit einem reichen Opfer für die Armen löse.« Der verzärtelte Günstling des Glücks und der schönen Urraca wälzte sich noch auf dem weichen Lager, gähnte hoch auf, da er diese ehrsame Botschaft empfing, aber ließ sich dennoch von seinen Kammerdienern halb schlaftrunken ankleiden und verfügte sich nach Hofe, wo ihm der Kämmerling der Königin ein scheel Gesicht machte, daß ihm die Ehre widerfahren sollte, sein Stellvertreter zu sein. Mit andächtigem Pomp ging der Zug diesmal in die Domkirche, wo der Erzbischof mit seinen Chorherrn ein feierliches Hochamt hielt. Das Volk hatte sich in großer Anzahl bereits versammelt, die herrliche Prozession zu begaffen. Die schöne Urraca und noch mehr die reiche



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Schleppe ihres Kleides, von sechs Hofdamen ihr nachgetragen, erregte allgemeine Bewunderung.

Eine Menge frecher Bettler, Lahme, Blinde, Krüppel, auf Krücken und Stelzen, umringten den pompösen Kirchzug, verlegten der Königin den Weg und flehten um Almosen, welche Andiol zur Rechten und Linken aus seinem Säckel reichlich ausspendete. Ein blinder Greis zeichnete sich durch seine Dreistigkeit, mit welcher er sich herzudrängte, und durch sein bängliches Geschrei, womit er Wohltaten forderte, vor seinen übrigen Konsorten aus. Er kam der Königin nicht von der Seite, hielt unablässig seinen Hut auf und bat um eine milde Gabe. Andiol warf ihm von Zeit zu Zeit ein Goldstück hinein, doch eh es der Blinde fand, stahl es ihm flugs ein diebischer Nachbar weg, und er fing seine Litanei von neuem an. Die Königin schien dieser unglückliche Greis zu rühren, sie entriß behende ihrem Begleiter den Säckel und gab ihn in die Hand des blinden Mannes. »Nimm hin«, sprach sie, »guter Alter, den Segen, den dir ein edler Ritter durch mich mitteilt, und bete für das Wohl seiner Seele.«

Andiol erschrak über diese königliche Freigebigkeit auf seine Kosten dergestalt, daß er aus aller Fassung kam und mit der Hand eine Bewegung machte, als wenn er den Säckel wiederhaschen wollte, über welche scheinbare Filzigkeit das andächtige Gefolge der Königin in ein lautes Gelächter ausbrach. Dadurch wurde seine Bestürzung nur noch größer, gleichwohl trug er so viel Scheu, den Wohlstand zu beleidigen, daß er die Königin am Arm in die Kathedrale geleitete und sein Herzeleid, so gut er konnte, verbarg, bis die Messe gesungen war. Darauf forschte er mit Fleiß nach dem Bettler und verhieß große Belohnung für eine alte Gedenkmünze aus dem Säckel, die seinem Vorgeben nach ein seitnes Kabinettstück sei. Aber niemand wußte zu sagen, wo der Bettler hingeschwunden war; sobald der Säckel in seiner Hand war, verschwand er und kam nicht mehr zum Vorschein. Eigentlich wäre der sehende Blinde im Vorgemach der Königin zu erfragen gewesen, wo er der Rückkehr derselben harrete, denn er war ihr Hofnarr, den sie in einen blinden Bettler verkappt hatte, um sich des Heckpfennigs zu bemächtigen, welchen sie zu ihrer großen Freude auch in dem Säckel fand, den ihr Geschäftsträger treulich überantwortete.

Die arglistige Frau war nun durch ihre Künste im Besitz aller magischen Kleinodien der drei Knappen, welche, untröstbar über ihren Verlust,



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stöhnten und jammerten und sich aus Verzweiflung Haar und Knebelbart zerrauften. Sie aber triumphierte stolz über den guten Erfolg ihrer Prellerei und kümmerte sich nicht weiter um das Schicksal der drei unglücklichen Wichte.

Das erste, was sie begann, war eine Prüfung, ob die Wunderdinge ihre produktive Kraft auch in der Hand der neuen Inhaberin äußern würden. Der Versuch gelang nach Wunsch: das Tellertuch lieferte auf ihr Geheiß seine Schüssel, der kupferne Pfennig gebar Dukaten, und unter der Hülle des Däumlings ging sie ungesehen durch die Wache im Vorsaal, in die Gemächer ihres Frauenzimmers. Mit frohem Herzklopfen machte sie Entwürfe zu den glänzendsten Szenen, die sie auszuführen gedachte, und die Lieblingsidee daraus war, sich in eine leibhafte Fee zu verwandeln. Sie war sinnreich, ein neues System von der Natur dieser rätselhaften Damen zu erfinden, deren genauere Kenntnis dem Forschungsgeiste der Weltweisen selbst verborgen ist. Was ist eine Fee anders, dachte sie, als die Besitzerin eines oder mehrerer magischen Geheimnisse, wodurch sie die Wunder ausrichtet, die sie über das Los der Sterblichen zu erheben scheinen; und kann ich nicht in Absicht dieser verborgenen Kräfte mich als eine der ersten Feen qualifizieren? Der einzige Wunsch blieb ihr übrig, einen Drachenwagen oder ein Gespann Schmetterlinge zu besitzen, denn der Weg durch die freie Luft war ihr vorderhand noch verschlossen. Doch schmeichelte sie sich, daß ihr auch diese Prärogative nicht fehlen werde, wenn sie erst in den Feen konvent aufgenommen wäre. Sie hoffte leicht eine gefällige Schwester zu finden, welche ihr so eine luftige Equipage durch Tausch gegen eine ihrer Wundergaben ablassen würde.

Nächtelang unterhielt sie sich mit dem angenehmen Gedankenspiel, hübsche Jungen zu beschleichen, sie unsichtbarerweise zu necken, ihnen zu liebkosen, den Kopf zu verrücken, durch Liebesqual sie zu peinigen und statt der Nymphe sie entweder einen leeren Schatten greifen zulassen oder nach Beschaffenheit der Umstände auch wohl ihre Wünsche zu realisieren. Dennoch fühlte die neue Fee den Mangel eines wesentlichen Bedürfnisses, ehe sie es wagen konnte, mit Anstand auf Abenteuer auszugehen: es fehlt ihr noch an einer wohlgerüsteten Feengarderobe. Mit dem frühesten Morgen, der auf eine durchgewachte Nacht folgte, in der ihre warme Phantasie den sämtlichen Feenornat, von der Schwungfeder an bis zum Absatz des niedlichen Schuhes,



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assortieret hatte, wurde die gesamte Schneiderzunft zu Astorga in Arbeit gesetzt, als wenn die erste Maskerade daselbst hätte eröffnet werden sollen oder die eigensinnigsten Theaterprinzessinnen bei einer Opera Seria zu bedienen gewesen wären. Doch ehe diese Zurüstung zur Vollkommenheit gedieh, trug sich etwas zu, worüber das ganze Königreich Suprarbien, am meisten aber die schöne Urraca, in Erstaunen geriet.

Die lange Anstrengung des Geistes hatte die veridealisierte Königin in einer Nacht endlich in Schlummer gewiegt, als sie durch eine martialische Stimme plötzlich aufgeweckt wurde, welche ihr das furchtbarste de par le roi in die Ohren gellte. Ein wachthabender Offizier gebot, ohne Verzug ihm zu folgen. Die erschrockene Dame fiel aus den Wolken, wußte nicht, was sie sagen oder denken sollte, fing an, mit dem Kriegsmann zu verhandeln, der außer seiner gegenwärtigen Funktion sonst gar eine leidliche Figur machte, weshalb ihm auch, im Vorbeigehen gesagt, die Ehre eines Feenbesuchs zugedacht war. Nach einer vergeblichen Appellation an die höchste Instanz merkte die Königin wohl, daß sie der schwächere Teil sei und gehorchen müsse. »Des Königs Wille ist mein Gebot«, sprach sie, »ich folge Euch.« Da sie das sagte, ging sie zu ihrer Truhe, um ein Regentuch, wie sie vorgab, zum Schutz gegen die Kälte überzuwerfen, in der Tat aber das Kunststück mit dem Däumling zu praktizieren und urplötzlich zu verschwinden.

Allein der Hauptmann hatte strenge Ordre und war so unbescheiden, der schönen Gefangenen diese kleine Bequemlichkeit zu versagen. Weder Bitten noch Tränen vermochten etwas über den hartherzigen Kriegsmann; er umfaßte sie mit seinem muskulösen Arm und schob sie behend zum Zimmer hinaus, welches sogleich die Justiz in Beschlag nahm und versiegeln ließ. Unten am Portal hielt eine Sänfte, von zwei Maultieren getragen, in welcher die jammernde Königin im nachlässigsten Negligé Platz nehmen mußte. Und nun ging der Zug beim Schein der Windlichter still und trübselig wie eine Nachtleiche durch die einsamen Straßen zum Tor hinaus, zwölf Meilweges in einer Strecke in ein abgelegenes Kloster, ringsum hochvermauert, wo die in Tränen zerschmolzene Gefangene in ein schauervolles Kämmerlein vierzig Klaftern tief unter der Erde eingesperrt wurde.

König Garsias hatte seit dem unbehaglichen Fasttage, an welchem sein Leibessen aus der Schüssel verschwunden war, so viel üble Laune gehabt,



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daß kein Auskommen mehr mit ihm war. Die eine Hälfte seiner Minister und Hofdiener war in Ungnade gefallen, und die andere, die gleiches Schicksal befürchtete, trachtete mit Fleiß darauf, diese spleenitischen Anfälle eiligst wegzuschaffen. Der Leibarzt brachte zu diesem Behuf ein Vomitiv in Vorschlag, der Kammerdiener eine Mätresse, der Primas regni einen Bußtag, der General der Armee einen Kreuzzug gegen die Sarazenen, der Oberjägermeister eine Jagdpartie, der Hofmarschall eine Pastete von roten Rebhühnern im Geschmack des Majordomo; denn was den letztem selbst betraf, so hatte er nach dem Verlust seines Tellertuches sich verduftet wie das famose Schaugericht. Unter diesen Palliativen behielt die Jagdpartie als ein Mittel der Zerstreuung, womit die wenigste Schwierigkeit verbunden war, die Oberhand, wiewohl sie das nicht leistete, was man sich davon versprach.

Der König konnte das verschwundene Meisterstück der Kochkunst nicht verschmerzen und gab deutlich zu verstehen, er sei der Meinung, daß es mit diesem Verschwinden nicht von rechten Dingen zugegangen wäre, ja, er äußerte gegen seine Vertrauten von seiner Gemahlin selbst den schlimmen Verdacht der Zauberei. Die Königin hatte bei Hofe eine starke Gegenpartei; sobald ihre Widersacher merkten, unter welchem Aspekt dem Humor des Königs jetzt die Beherrscherin seines Willens erschien, verabsäumte der Geist der Kabale nicht, diese Gelegenheit zu nutzen, sie zu verderben, und das gelang um so leichter, weil der Aufenthalt des Königs auf einem Jagdschlosse die Talente des Tellertuchs, das in Astorga gar leicht ein schmackhaftes Sühneopfer hätte liefern können, unwirksam machte. Nachdem die Sache in einem Kabinettsrat der Vertrauten reiflich war erwogen und von Läufer, Hofzwerg, Schalksnarren, Kammerdiener, Leibarzt, und wer sonst noch das Ohr des Monarchen hatte, der Fall der stolzen Königin war beschlossen worden, berief der König einen geheimen Staatsrat zusammen, durch welchen er die Sentenz des engem Ausschusses rechtskräftig bestätigen ließ, worauf solche auch alsbald vollzogen wurde.

Eine Hofkommission war nun unermüdet beschäftigt, den Nachlaß dieser unglücklichen Prinzessin zu durchstören, um Beweistümer der Zauberei, irgendeinen Talisman, magische Charaktere, vielleicht auch gar einen Kontrakt mit dem bösen Feinde oder eine Kopei davon aufzufinden. Alles Geschmeide und andere Kostbarkeiten, desgleichen der ganze Feenapparatus, wurde getreulich konsigniert, doch aller angewandten



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Mühe ungeachtet, konnte die blödsüchtige Justiz nichts entdecken, was auf Zauberkünste eine Beziehung zu haben schien.

Das eigentliche corpus delicti, der Raub der rolandischen Knappschaft, hatte ein so unverdächtiges und unbedeutendes Ansehen, daß man diese Schätze der Magie nicht einmal würdigte zu inventieren. Das köstliche Tellertuch, das durch öftern Gebrauch des ehemaligen Besitzers etwas unscheinbar geworden war, diente dem unwissenden Gerichtsschreiber zum Haderlappen, die schwarzen Fluten eines umgestoßenen Tintenfasses damit aufzutrocknen. Der wunderbare Däumling, das herrliche Vehikel der Unsichtbarkeit, und der reichhaltige Kupferpfennig wurden als unnützer Plunder in den Kehricht geworfen. Was aus der Königin Urraca in dem trübseligen Kloster, wohin sie vierzig Klaftern tief unter die Erde exiliert war, geworden ist, ob sie zu lebenslanger Pönitenz verurteilt wurde oder jemals wieder das Tageslicht erblickt hat, desgleichen ob die drei magischen Geheimnisse durch Moder, Rost und Verwesung zerstört sind oder von einer glücklichen Hand dem Schutt- und Kehrichthaufen, dem alle Erdengüter endlich zur Aufbewahrung anheimfallen, sind entrissen worden, darüber beobachtet die alte Legende ein tiefes Stillschweigen.

Billig hätte das Glück einem darbenden Tugendhaften, der bei dem Schweiße seiner Arbeit mit einer ausgehungerten Familie schmachtete und nur Tränen hatte, wenn die jungen Raben nach Brot schrien, das nahrhafte Tellertuch oder den wuchernden Pfennig in die Hände spielen sollen, und einem abgezehrten, harmvollen Liebenden, dem Vätertyrannei oder Mutterdespotismus sein Mädchen raubte und ins Kloster stieß, hätte das Kleinod der Unsichtbarkeit sollen zuteil werden, um seine Geliebte aus der strengen Klausur zu befreien und sich untrennbar mit ihr zu einigen. Doch solche Anomalie von dem gewöhnlichen Laufe der Dinge in dieser Unterwelt wäre zu sonderbar gewesen, um sich wirklich zu begeben. Die wünschenswertesten Erdengüter befinden sich gewöhnlich unter schlechter Administration, und der Eigen-Sinn des Glücks versagt sie von jeher denen, die einen bescheidenen und vernünftigen Gebrauch davon machen würden.

Nach dem Verlust aller Spenden der freigebigen Mutter Drude emigrierten die geplünderten Inhaber derselben in aller Stille aus Astorga. Amarin, der ohne sein Tellertuch der Funktion eines Oberküchenmeisters nicht Genüge leisten konnte, strich sich zuerst, Andiol, der Sohn



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der Liebe, folgte ihm auf dem Fuße nach. Da ihm die große Leichtigkeit seines Gelderwerbs die gewöhnliche Arbeitsscheu reicher Prasser gelehrt hatte, so war er zu faul, seinen Pfennig nach dem Verhältnis seiner Ausgabe umzuwenden, lebte auf Kredit und pflegte nur bei schlimmem Wetter oder wenn er keine Lustpartie hatte, seine Kasse zu füllen. Jetzt war er unvermögend, seine Gläubiger zu befriedigen. Er wechselte daher sonder Verzug die Kleider und ging ihnen aus den Augen. Sobald Sarron aus seinem Totenschlaf erwachte und merkte, daß er aufgehört hatte, den Feenkönig zu spielen, schlich er sich mißmutig ins Quartier, suchte seine alte Rüstung hervor und nahm den ersten besten Weg gleichfalls zum Tor hinaus.

Der Zufall fügte es, daß die Rolandsche Knappschaft auf der Heerstraße nach Kastilien wieder zusammentraf. Anstatt mit unnützen Vorwürfen einander zu kränken, die ihren Zustand jetzt um nichts bessern konnten, faßten sie sich mit philosophischer Gelassenheit in ihr Schicksal. Die Gleichheit desselben und das unvermutete Zusammentreffen erneuerte augenblicklich die alte Kameradschaft, und der weise Sarron machte die Bemerkung, daß das Los der Freundschaft allein dem goldnen Mittelstande zugefallen sei und sich schwerlich mit Glück und großen Talenten vertrage.

Hierauf beschlossen die drei Konsorten einmütig, ihren Weg fortzusetzen, unter kastilischen Fahnen ihrem ersten Berufe zu folgen und Rolands Tod an den Sarazenen zu rächen. Sie befanden sich bald am Ziel ihrer Wünsche, mitten im Getümmel des Schlachtfeldes. Ihr Schwert trank Sarazenenblut, und mit Siegespalmen umlaubt, starben sie insgesamt den Tod der Helden.


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