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Musäus Deutsche Volksmärchen

Märchen europäischer Völker


Erste Legende

Auf den oft und matt besungenen Sudeten, der Schlesier Parnaß, hauset in friedlicher Eintracht neben dem Apoll und den neun Musen der berufene Berggeist, Rübezahl genannt, der das Riesengebirge traun berühmter gemacht hat als die schlesischen Dichter allzumal. Dieser Fürst der Gnomen besitzt zwar auf der Oberfläche der Erde nur ein kleines Gebiet von wenig Meilen im Umfang, mit einer Kette von Bergen umschlossen, und teilt dies Eigentum noch mit zwei mächtigen Monarchen, die sein Kondominium nicht einmal anerkennen. Aber wenige Lachter unter der urbaren Erdrinde hebt seine Alleinherrschaft an, die kein Partagetraktat zu schmälern vermag, und erstreckt sich auf achthundertsechzig Meilen in die Tiefe, bis zum Mittelpunkt der Erde.

Zuweilen gefällt es dem unterirdischen Starosten, seine weitgedehnten Provinzen in dem Abgrunde zu durchkreuzen, die unerschöpflichen Schatzkammern edler Fälle und Flöze zu beschauen, die Knappschaft der Gnomen zu mustern und in Arbeit zu setzen, teils um die Gewalt der Feuerströme im Eingeweide der Erde durch feste Dämme aufzuhalten, teils mineralische Dämpfe zu fahen, mit reichhaltigen Schwaden taubes Gestein zu beschwängern und es in edles Erz zu verwandeln. Zuweilen entschlägt er sich aller unterirdischen Regierungssorgen, erhebt sich zur Erholung auf die Grenzfeste seines Gebietes und hat sein Wesen auf dem Riesengebirge, treibt da Spiel und Spott mit den Menschenkindern wie ein froher Obermütler, der, um einmal zu lachen, seinen Nachbarn zu Tode kitzelt.

Denn Freund Rübezahl, sollt ihr wissen, ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz,



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eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zuzeiten gutmütig, edel und empfindsam; aber mit sich selbst in stetem Widerspruch; albern und weise, oft weich und hart in zween Augenblicken, wie ein Ei, das in siedend Wasser fällt; schalkhaft und bieder, störrisch und beugsam; nach der Stimmung, wie ihn Humor und innrer Drang beim ersten Anblick jedes Ding ergreifen läßt.

Von Olimszeiten her, ehe noch Japhets Nachkömmlinge so weit nordwärts gedrungen waren, daß sie diese Gegenden wirtbar machten, tosete Rübezahl schon in dem wilden Gebirge, hetzte Bären und Auerochsen aneinander, daß sie zusammen kämpften, oder scheuchte mit grausendem Getöse das scheue Wild vor sich her und stürzte es von den steilen Felsenklippen hinab ins tiefe Tal. Dieser Jagden müde, zog er wieder seine Ehrichsstraße durch die Regionen der Unterwelt und weilte da Jahrhunderte, bis ihn von neuem die Lust anwandelte, sich an die Sonne zu legen und des Anblicks der äußeren Schöpfung zu genießen. Wie nahm's ihn Wunder, als er einst bei seiner Rückkehr, von dem beschneiten Gipfel des Riesengebirges umherschauend, die Gegend ganz verändert fand! Die düstern undurchdringlichen Wälder waren ausgehauen und in fruchtbares Ackerfeld verwandelt, wo reiche Ernten reiften. Zwischen den Pflanzungen blühender Obstbäume ragten die Strohdächer geselliger Dörfer hervor, aus deren Schlot friedlicher Hausrauch in die Luft wirbelte; hier und da stund eine einsame Warte auf dem Abhang eines Berges zu Schutz und Schirm des Landes; in den blumenreichen Auen weideten Schafe und Hornvieh, und aus den lichten Hainen tönten melodische Schalmeien.

Die Neuheit der Sache und die Annehmlichkeit des ersten Anblicks ergötzten den verwunderten Territorialherrn so sehr, daß er über die eigenmächtigen Pflanzer, die ohne seine Vergünstigung hier wirtschafteten, nicht unwillig ward, noch in ihrem Tun und Wesen sie zu stören begehrte; sondern sie so ruhig im Besitz ihres angemaßten Eigentums ließ, wie ein gutmütiger Hausvater der geselligen Schwalbe oder selbst dem überlästigen Spatz unter seinem Obdach Aufenthalt gestattet. Sogar ward er Sinnes, mit den Menschen, dieser Zwittergattung von Geist und Tier, Bekanntschaft zu machen, ihre Art und Natur zu erforschen und mit ihnen Umgang zu pflegen. Er nahm die Gestalt eines rüstigen Ackerknechtes an und verdingte sich bei dem ersten besten Landwirt in Arbeit.



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Alles, was er unternahm, gedieh wohl unter seiner Hand, und Rips, der Ackerknecht, war als der beste Arbeiter im Dorfe bekannt. Aber sein Brotherr war ein Prasser und Schlemmer, der den Erwerb des treuen Knechtes verschwendete und ihm für seine Müh und Arbeit wenig Dank wußte; darum schied er von ihm und kam zu dessen Nachbar, der ihm seine Schafherde anvertraute; er wartete dieser fleißig, trieb sie in Einöden und auf steile Berge, wo gesunde Kräuter wuchsen.

Die Herde gedieh gleichfalls unter seiner Hand und mehrte sich, kein Schaf stürzte vom Felsen herab das Genicke, und keins zerriß der Wolf. Aber sein Brotherr war ein karger Filz, der seinen treuen Knecht nicht lohnte, wie er sollte: denn er stahl den besten Widder aus der Herde und kürzte dafür des Hirten Lohn, darum entlief er dem Geizhals und diente dem Richter als Herrenknecht, ward die Geißel der Diebe und frönte der Justiz mit strengem Eifer. Aber der Richter war ein ungerechter Mann, beugte das Recht, richtete nach Gunst und spottete der Gesetze. Weil Rips nun nicht das Werkzeug der Ungerechtigkeit sein wollte, sagte er dem Richter den Dienst auf und ward in den Kerker geworfen, aus welchem er doch auf dem gewöhnlichen Wege der Geister durchs Schlüsselloch leicht einen Ausgang fand.

Dieser erste Versuch, das Studium der Menschenkunde zu treiben, konnte ihn unmöglich zur Menschenliebe erwärmen; er kehrte mit Verdruß auf seine Felsenzinne zurück, überschauete von da die lachenden Gefilde, welche die menschliche Industrie verschönert hatte, und wunderte sich, daß die Mutter Natur ihre Spenden an solche Bastardbrut verlieh. Demungeachtet wagte er noch eine Ausflucht ins Land fürs Studium der Menschheit, schlich unsichtbar herab ins Tal und lauschte in Busch und Hecken. Da stund vor ihm die Gestalt eines reizvollen Mädchens, lieblich anzuschauen, wie die Mediceische Venus und auch ohne alle Draperie; denn sie stieg eben ins Bad. Rings um sie hatten sich ihre Gespielinnen ins Gras gelagert an einen Wasserfall, der seine Silberflut in ein kunstloses Becken goß, scherzten und koseten mit ihrer Gebieterin in unschuldsvoller Fröhlichkeit. Dieser lüsterne Anblick wirkte so wundersam auf den lauschenden Berggeist, daß er schier seiner geistigen Natur und Eigenschaft vergaß, sich das Los der Sterblichkeit wünschte und mit eben der Begierde, wie ehedem seine Konsorten in der ersten Welt, nach den Töchtern der Menschen sahe.

Aber die Organe der Geister sind so fein, daß sie keinen festen und



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bleibenden Eindruck annehmen; der Gnome fand, daß es ihm an Körper gebrach, das Bild der badenden Schönen durch die verfinsterte Kammer des Auges aufzufassen und in seiner Imagination zu fixieren. Deshalb verwandelte er sich in einen schwarzen Kolkraben und schwang sich auf einen hohen Eschenbaum, der das Bad überschattete, des anmutsvollen Schauspiels zu genießen. Doch dieser Fund war nicht zum besten ausgedacht: er sah alles mit Rabenaugen und empfand als Rabe; ein Nest Waldmäuse hatte jetzt für ihn mehr Anziehendes als die badende Nymphe: denn die Seele wirkt in ihrem Denken und Wollen nie anders als in Gemäßheit des Körpers, der sie umgibt.

Diese psychologische Bemerkung war nicht so bald gemacht, als der Fehler auch verbessert war; der Rabe flog ins Gebüsche und gestaltete sich in einen blühenden Jüngling um. Das war der rechte Weg, ein Mädchenideal in seiner ganzen Vollkommenheit zu umfassen. Es erwachten Gefühle in seiner Brust, davon er seit seiner Existenz noch nichts geahndet hatte; alle Ideen bekamen einen neuen Schwung, er empfand eine gewisse Unruhe, sein Verlangen rang und strebte nach einem Etwas außer sich, dafür er keinen Namen hatte. Ein unwiderstehlicher Trieb zog ihn mechanisch wie ein Flaschenzug nach dem Wasserfalle hin, und doch fand er in sich eine ebenso mächtige Gegenwirkung, eine gewisse Scheu, der Mediceerin im Bade sich in der Verkörperung zu nahen oder durchs Gesträuche hervorzubrechen, durch welches sein Auge gleichwohl eine verstohlene Aussicht auszuspähen strebte.

Die schöne Nymphe war die Tochter des schlesischen Pharao, der in der Gegend des Riesengebirges damals herrschte; sie pflegte oft mit den Jungfrauen ihres Hofes in den Hainen und Büschen des Gebirges zu lustwandeln, Blumen und Wohlgeruch duftender Kräuter zu sammeln oder für die Tafel ihres Vaters in jenem frugalen Zeitalter ein Körbchen Waldkirschen oder Erdbeeren zu pflücken und, wenn der Tag heiß war, sich bei der Felsenquelle am Wasserfalle zu erfrischen und darin zu baden. Von jeher scheinen die Bäder der Tummelplatz verliebter Abenteuer gewesen zu sein, und in diesem Rufe stehen sie noch bis auf den heutigen Tag. Das Bad im Riesengebirge veranlaßte wenigstens die heterogene Liebesintrige zwischen einem Gnomen und einem sterblichen Mädchen. Von diesem Augenblick an bannte die Liebe durch ihren süßen Zauber den inokulierten Berggeist an diesen Platz, den er nicht



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mehr verließ, und täglich der Wiederkehr der reizenden Badegesellschaft mit Ungeduld entgegenharrte.

Die Nymphe zögerte lange; doch in der Mittagsstunde eines schwülen Sommertages besuchte sie wieder mit ihrem Gefolge die kühlen Schatten am Wasserfalle. Ihre Verwunderung ging über alles, da sie den Ort ganz verändert fand: die rohen Felsen waren mit Marmor und Alabaster bekleidet, das Wasser stürzte nicht mehr in einem wilden Strom von der steilen Bergwand; sondern rauschte durch viele Abstufungen gebrochen mit sanftem Gemurmel in ein weites Marmorbecken herunter, aus dessen Mitte ein rascher Wasserstrahl emporstrebte und, in einen dichten Platzregen verwandelt, den ein laues Lüftchen bald auf diese, bald auf jene Seite warf, in den Wasserhälter zurückplätscherte. Maßliebe, Zeitlosen und das romantische Blümlein Vergißmeinnicht blühten an dessen Rande, Rosenhecken mit wildem Jasmin und Silberblüten vermengt, zogen sich in einiger Entfernung umher und bildeten das angenehmste Luststück. Rechts und links der Kaskade öffnete sich der doppelte Eingang einer prächtigen Grotte, deren Wände und Bogengewölbe mit mosaischer Bekleidung prangten, von farbigen Erzstufen, Bergkristall und Frauenglas, alles funkelnd und flimmernd, daß der Abglanz davon das Auge blendete. In Nischen waren die lieblichsten Erfrischungen aufgetischt, deren Anblick zum Genuß einlud. Die Prinzessin stund lange in stummer Verwunderung da, wußte nicht, ob sie ihren Augen trauen, diesen bezauberten Ort betreten oder fliehen sollte. Aber sie war Mutter Evens Tochter und konnte der Begierde nicht widerstehen, alles zu beschauen und von den herrlichen Früchten zu kosten, die für sie aufgetragen zu sein schienen. Nachdem sie nebst ihrem Gefolge in diesem kleinen Tempel sich sattsam erlustigt und alles fleißig durchgemustert hatte, gelüstete ihr, in dem Bassin zu baden. Sie befahl den Dirnen Wacht zu halten und umherzuschauen, damit kein frivoler Blick irgendeines Lauschers im Gebüsche ihre jungfräuliche Verschämtheit entweihen möchte.

Kaum war die liebliche Nymphe über den glatten Rand des Marmorbeckens hinabgeschlüpft, so sank sie in eine endlose Tiefe, obschon der betrügliche Silberkies, der aus dem seichten Grunde hervorschien, keine Gefahr vermuten ließ. Schneller als die herzueilenden Jungfrauen das goldgelbe Haar der blonden Gebieterin erfassen konnten, hatte sie schon die gefräßige Flut verschlungen. Laut ließ die bange Schar der erschrockenen



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Mädchen Klage, Ach und Weh erschallen, als ihr Fräulein vor ihren sichtlichen Augen dahinschwand; sie rangen und wanden die schneeweißen Hände, flehten die Najaden vergebens um Erbarmung an und liefen ängstlich am marmornen Gestade hin und wieder, indes das Springwasser recht geflissentlich sie mit einem Platzregen nach dem andern übergoß. Doch wagte es keine, der Entschwommenen nachzuspringen, außer Brinhild, ihre liebste Gespielin, die nicht säumte, in den bodenlosen Mälstrom sich zu stürzen, gleiches Schicksal mit ihrem geliebten Fräulein erwartend. Aber sie schwamm als ein leichter Kork auf dem Wasser, und alles Bestrebens ungeachtet war sie nicht vermögend, unterzutauchen. Hier war kein andrer Rat, als dem Könige die traurige Begebenheit mit seiner Tochter zu hinterbringen. Wehklagend begegneten ihm die zagenden Dirnen, da er eben mit seinen Jägern zu Walde zog. Der König zerriß sein Kleid vor Betrübnis und Entsetzen, nahm die goldene Krone vom Haupte, verhüllte sein Angesicht mit dem Purpurmantel, weinte und stöhnte laut über den Verlust der schönen Emma.

Nachdem er der Vaterliebe den ersten Tränenzoll entrichtet hatte, stärkte er seinen Mut und eilte, das Abenteuer am Wasserfalle selbst zu beschauen. Aber der angenehme Zauber war verschwunden, die rohe Natur stund wieder da in ihrer vorigen Wildheit, da war keine Grotte, kein Marmorbad, kein Rosengehege, keine Jasminlaube. Dem guten König ahndete zum Glück nichts von einer Entführung seiner Tochter durch irgendeinen irrenden Ritter, denn Entführungen waren damals noch nicht Sitte im Lande; also erpreßte er von den Dirnen weder durch Drohungen noch Folter ein Geständnis von dem plötzlichen Verschwinden der Prinzessin, das glaubwürdiger gewesen wäre als die Wahrheit. Vielmehr nahm er ihren Bericht auf Treu und Glauben an und meinte, Thor oder Wodan oder sonst einer der Götter sei bei dieser wunderbaren Begebenheit mit im Spiele gewesen, setzte darauf die Jagdpartie fort und tröstete sich bald über seinen Verlust; denn die Erdenkönige fühlen eigentlich keinen Kummer als den Verlust ihrer Krone.

Unterdessen befand sich die liebreizende Emma in den Armen ihres geistigen Liebhabers nicht übel. Meister Schwimmart hatte sie durch das Gaukelspiel einer theatermäßigen Versenkung nur den Augen ihres Gefolges entzogen und führte sie durch einen unterirdischen Weg in



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einen prächtigen Palast, mit dem sich die väterliche Residenz nicht vergleichen ließ. Als sich die Lebensgeister der Prinzessin wieder erholt hatten, befand sie sich auf einem gemächlichen Sofa, angetan mit einem Gewand von rosenfarbenem Satin und einem jungfräulichen Gürtel von himmelblauer Seide, der aus der Garderobe der Liebesgöttin entwendet zu sein schien. Ein junger Mann von anlockender Physiognomie lag zu ihren Füßen und tat ihr mit dem wärmsten Gefühl das Geständnis der Liebe, welches sie mit schamhaftem Erröten annahm. Der entzückte Gnome unterrichtete sie hierauf von seinem Stand und seiner Herkunft, von den unterirdischen Staaten, die er beherrschte, führte sie durch die Zimmer und Säle des Schlosses und zeigte ihr alle Pracht und allen Reichtum desselben. Ein herrlicher Lustgarten umgab das Schloß von drei Seiten, der mit seinen Blumenstücken und Rasenplätzen, auf deren grüner Fläche ein kühler Schatten schwamm, dem Fräulein sehr zu behagen schien. Alle Obstbäume trugen purpurröte goldgesprengte oder zur Hälfte übergoldete Äpfel, dergleichen weder Hirschfelds Gartenkunst noch sonst ein Gartengenie heutzutage der Natur abzulocken vermag. Das Gebüsch war mit Singvögeln angefüllt, die ihre hundertstimmigen Symphonien hervortönten. In den traulichen Bogengängen lustwandelte das empfindsame Paar, sah zuzeiten in den Mond, oder der Gnome parentierte einer am Busen seiner Geliebten welkenden Blume. Sein Blick hing an ihren Lippen und sein Ohr trank gierig die sanften Töne aus ihrem melodischen Munde; jedes Wort ging ihm glatt ein wie Honigseim: in einem äonenlangen Leben hatte er dergleichen selige Stunden noch nie genossen, als ihm jetzt die erste Liebe gab.

Nicht gleiches Wonnegefühl empfand die reizende Emma in ihrem Busen, ein gewisser Trübsinn hing über ihrer Stirn, sanfte Schwermut und zärtliches Hinschmachten, welches der weiblichen Gestalt so viel Zauberreiz mitteilt, offenbarten allgenugsam, daß geheime Wünsche in ihrem Herzen verborgen lagen, die nicht völlig mit den seinigen sympathisierten. Er machte gar bald diese Entdeckung und bestrebte sich, durch tausend Liebkosungen diese Wolken zu zerstreuen und die Schöne aufzuheitern; wiewohl vergebens. Der Mensch, dachte er bei sich selbst, ist ein geselliges Tier wie die Biene und die Ameise: der schönen Sterblichen gebricht's an Unterhaltung. Mann und Weib mag wohl in die Länge eine tote Gesellschaft sein, wem soll sich Madame



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mitteilen? Für wen ihren Putz ordnen? Mit wem darüber zu Rate gehen, und was soll ihre Eitelkeit nähren? Konnte es doch das erste Weib in Edens Gefilden nicht lange mit ihrem ernsthaften Konsorten aushalten und wählte darum die Schlange zur Vertrauten.

Flugs ging er hinaus ins Feld, zog auf einem Acker ein Dutzend Rüben aus, legte sie in einen zierlich geflochtenen Deckelkorb und brachte diesen der schönen Emma, die melancholisch einsam in der beschatteten Laube eine Rose entblätterte. »Schönste der Erdentöchter«, redete sie der Gnome an, »verbanne allen Trübsinn aus deiner Seele und öffne dein Herz der geselligen Freude; du sollst nicht mehr die Einsamtrauernde in meiner Wohnung sein. In diesem Korbe ist alles, was du bedarfst, dir diesen Aufenthalt angenehm zu machen. Nimm den kleinen buntgeschälten Stab und gib durch die Berührung mit demselben den Erdgewächsen im Korbe die Gestalten, welche dir gefallen.«

Hierauf verließ er die Prinzessin, und sie zögerte keinen Augenblick, mit dem Zauberstab laut Instruktion zu verfahren, nachdem sie den Deckelkorb geöffnet hatte, »Brinhild«, rief sie, »liebe Brinhild, erscheine!« Und Brinhild lag zu ihren Füßen, umfaßte die Knie ihrer Gebieterin und benetzte ihren Schoß mit Freudenzähren, liebkoste sie freundlich, wie sie sonst zu tun pflegte. Die Täuschung war so vollkommen, daß Fräulein Emma selbst nicht wußte, wie sie mit ihrer Schöpfung dran war; ob sie die wahre Brinhild hergezaubert hatte oder ob ein Blendwerk das Auge betrog. Sie überließ sich indessen ganz den Empfindungen der Freude, ihre liebste Gespielin um sich zu haben, lustwandelte mit ihr Hand in Hand im Garten umher, ließ sie dessen herrliche Anlagen bewundern und pflückte ihr goldgesprengte Äpfel von den Bäumen. Hierauf führte sie ihre Freundin durch alle Zimmer im Palast bis in die Kleiderkammer, wo der weibliche Kontemplationsgeist so viel Nahrung fand, daß sie bis zu Sonnenuntergang darinnen verweilten. Alle Schleier, Gürtel, Ohrenspangen wurden gemustert und anprobiert. Die vorgetäuschte Brinhild wußte sich dabei so gut zu nehmen, zeigte so viel Geschmack in der Wahl und Anordnung des weiblichen Putzes, daß, wenn sie ihrer Natur und Wesen nach nichts als eine Rübe war, ihr doch wenigstens niemand den Ruhm absprechen konnte, die Krone ihres Geschlechtes zu sein.

Der spähende Gnome war entzückt über den Tiefblick, den er in das weibliche Herz getan zu haben vermeinte, und freute sich über den guten



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Fortgang in der Menschenkunde. Die schöne Emma dünkte ihm jetzt schöner, freundlicher und heiterer zu sein als jemals. Sie unterließ nicht, ihren ganzen Rübenvorrat mit dem Zauberstabe zu beleben, gab ihnen die Gestalt der Jungfrauen, die ihr vordem aufzuwarten pflegten, und weil noch zwei Rüben übrig waren, bildete sie die eine zu einer Zyperkatze um, so schön und zutätig als weiland Fräulein Rosaurens Murner war, und aus der anderen schuf sie einen niedlichen hüpfenden Beni.

Sie richtete nun ihren Hofstaat wieder an, teilte einer jeden der aufwartenden Dirnen ein gewisses Geschäft zu, und nie wurde eine Herrschaft besser bedient; das Gesinde kam ihren Wünschen zuvor, gehorchte auf den Wink und vollstreckte ihre Befehle ohne den mindesten Widerspruch. Einige Wochen lang genoß sie die Wonne des gesellschaftlichen Vergnügens ungestört, Reihentänze, Sang und Saitenspiel wechselten in dem Harem des Gnomen vom Morgen bis zum Abend, nur merkte das Fräulein nach Verlauf einiger Zeit, daß die frische Gesichtsfarbe ihrer Gesellschafterinnen etwas abbleichte; der Spiegel im Marmorsaal ließ ihr zuerst bemerken, daß sie allein wie eine Rose aus der Knospe frisch hervorblühte, da die geliebte Brinhild und die übrigen Jungfrauen welkenden Blumen glichen; gleichwohl versicherten sie alle, daß sie sich wohl befänden, und der freigebige Gnome ließ sie an seiner Tafel auch keinen Mangel leiden. Dennoch zehrten sie sichtbarlich ab, Leben und Tätigkeit schwand von Tage zu Tage mehr dahin, und alles Jugendfeuer erlosch.

Als die Prinzessin an einem heiteren Morgen, durch gesunden Schlaf gestärkt, fröhlich ins Gesellschaftszimmer trat, wie schauderte sie zurück, da ihr ein Haufen eingeschrumpfter Matronen an Stäben und Krücken entgegenzitterte, mit Dumpf und Keuchhusten beladen, unvermögend, sich aufrechtzuerhalten. Der schäkernde Beni hatte alle viere von sich gestreckt, und der schmeichelnde Zyper konnte sich vor Kraftlosigkeit kaum noch regen und bewegen. Bestürzt eilte die Prinzessin aus dem Zimmer, der schaudervollen Gesellschaft zu entfliehen, trat heraus auf den Söller des Portals und rief laut den Gnomen, der alsbald in demütiger Stellung auf ihr Geheiß erschien. »Boshafter Geist«, redete sie ihn zornmütig an, »warum mißgönnst du mir die einzige Freude meines harmvollen Lebens, die Schattengesellschaft meiner ehemaligen Gespielinnen? Ist diese Einöde nicht genug, mich zu quälen,



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willst du sie noch in ein Spital verwandeln? Augenblicklich gib meinen Dirnen Jugend und Wohlgestalt wieder, oder Haß und Verachtung soll deinen Frevel rächen!« — »Schönste der Erdentöchter«, entgegnete der Gnome, »zürne nicht über die Gebühr, alles, was in meiner Gewalt ist, steht in deiner Hand; aber das Unmögliche fordere nicht von mir. Die Kräfte der Natur gehorchen mir, doch vermag ich nichts gegen ihre unwandelbaren Gesetze. Solange vegetierende Kraft in den Rüben war, konnte der magische Stab ihr Pflanzenleben nach deinem Gefallen verwandeln; aber ihre Säfte sind nun vertrocknet und ihr Wesen neigt sich nach der Zerstörung hin; denn der belebende Elementargeist ist verraucht. Jedoch das soll dich nicht kümmern, Geliebte, ein frischgefüllter Deckelkorb kann den Schaden leicht ersetzen, du wirst daraus alle die Gestalten wieder hervorrufen, die du begehrst. Gib jetzt der Mutter Natur ihre Geschenke zurück, die dich so angenehm unterhalten haben, auf dem großen Rasenplätze im Garten wirst du bessere Gesellschaft finden!« Der Gnome entfernte sich darauf, und Fräulein Emma nahm ihren buntgeschälten Stab zur Hand, berührte damit die gerunzelten Weiber, las die eingeschrumpften Rüben zusammen und tat damit, was Kinder, die eines Spielzeugs, oder auch Fürsten, die ihrer Favoriten müde sind, zu tun pflegen; sie warf den Plunder ins Kehricht und dachte nicht mehr dran.

Leichtfüßig hüpfte sie nun über die grünen Matten dahin, den frischgefüllten Deckelkorb in Empfang zu nehmen, den sie gleichwohl nirgends fand. Sie ging den Garten auf und nieder, spekulierte fleißig umher; aber es wollte kein Korb zum Vorschein kommen. Am Traubengeländer kam ihr der Gnome entgegen mit sichtbarer Verlegenheit, daß sie seine Bestürzung schon von ferne wahrnahm. »Du hast mich getäuscht«, sprach sie, »wo ist der Deckelkorb geblieben? Ich suche ihn schon seit einer Stunde vergebens.« —»Holde Gebieterin meines Herzens«, antwortete der Geist, »wirst du mir meinen Unbedacht verzeihen? Ich versprach mehr, als ich geben konnte, ich habe das Land durchzogen, Rüben aufzusuchen; aber sie sind längst geerntet und welken in dumpfigen Kellern. Die Fluren trauern, unten im Tale ist's Winter, nur deine Gegenwart hat den Frühling an diesen Felsen gefesselt, und unter deinem Fußtritt sprossen Blumen hervor. Harre nur drei Mondenwechsel in Geduld aus, dann soll dir's nie an Gelegenheit gebrechen, mit deinen Puppen zu spielen.« Ehe noch der beredsame



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Gnome mit dieser Rede zu Ende war, drehte ihm seine Schöne unwillig den Rücken zu und begab sich in ihr Gemach, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Er aber hob sich von dannen in die nächste Marktstadt innerhalb seines Gebietes, kaufte, als ein Pächter gestaltet, einen Esel, den er mit schweren Säcken Sämerei belud, womit er einen ganzen Morgen Landes besäte. Dabei bestellte er einen seiner dienstbaren Geister zum Hüter, dem er aufgab, ein unterirdisches Feuer anzuschüren, um die Saat von unten herauf mit linder Wärme zu treiben, wie Ananaspflanzen in einem Lohkasten.

Die Rübensaat schoß lustig auf und versprach in kurzer Zeit eine reiche Ernte, Fräulein Emma ging täglich hinaus auf ihr Ackerfeld, das zu besehen sie mehr lüstete als die goldenen Äpfel, die aus dem Garten der Hesperiden in den ihrigen verpflanzt zu sein schienen. Aber Spleen und Mißmut trübte ihre kornblumfarbenen Augen, sie weilte am liebsten in einem düsteren melancholischen Tannenwäldchen, am Rande eines Quellbaches, der sein silberhelles Gewässer ins Tal rauschen ließ, und warf Blumen hinein, die in den Odergrund hinabflossen, und daß diese melancholische Zeitkürzung auf geheimen Liebesgram deute, wissen alle, die sich auf die Symbolik der Liebe verstehen. Der Gnome sah wohl, daß bei dem sorgfältigsten Bestreben, durch tausend kleine Gefälligkeiten sich in der schönen Emma Herz zu stehlen, ihr keine Liebe abzugewinnen war. Desungeachtet ermüdete seine hartnäckige Geduld nicht, durch die pünktlichste Erfüllung ihrer Wünsche ihren spröden Sinn zu überwinden. Seine gänzliche Unerfahrenheit in der Liebe redete ihm ein, die Schwierigkeiten, die sich seinem Verlangen entgegenstellten, möchten wohl in den Roman irdischer Liebe gehören; denn er bemerkte sehr fein und richtig, daß dieser Widerstand auch einen gewissen Reiz habe und sehr geschickt sei, den hoffenden Triumph dereinst desto mehr zu verherrlichen. Aber der Neuling in der Menschenkunde hatte keine Gedanken von der wahren Ursache dieser Widerspenstigkeit seiner Herzensgebieterin; er vermutete, daß ihr Herz so frei und unbefangen sei wie das seine, und war der Meinung, dieses noch unberührte Grundstück gehöre nach allen Rechten ihm als dem ersten Besitznehmer zu.

Doch das war ein großer Irrtum! Ein junger Grenznachbar an den Gestaden der Oder, Fürst Ratibor, hatte den süßen Minnetrieb in dem Herzen der holden Emma bereits angefacht und zur Ausbeute ihre erste



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Liebe davongetragen, welche, wie behauptet wird, unzerstörbarer sein soll als das Grundwesen der vier Elemente. Schon sah das glückliche Paar dem Tage der Vollziehung ihrer Gelübde entgegen, da die Braut mit einem Male verschwand. Diese peinliche Nachricht verwandelte den liebenden Ratibor in einen rasenden Roland; er verließ seine Residenz, zog menschenscheu in einsamen Wäldern umher, klagte den Felsen sein Unglück und trieb all den Unfug eines modernen Romanhelden, den der boshafte Amor schikaniert. Die treue Emma seufzte unterdessen ihren geheimen Gram in dem anmutigen Gefängnis aus, verschloß aber ihre Herzgefühle so fest in den aufwallenden Busen, daß der spähende Gnome nicht enträtseln konnte, was für Empfindungen sich darinnen regten. Lange schon hatte sie darauf spekuliert, wie sie ihn überlisten und der lästigen Gefangenschaft entrinnen möchte. Nach mancher durchwachten Nacht spann sie endlich einen Plan aus, der des Versuchs würdig schien, ihn auszuführen.

Der Lenz kehrte in die gebirgischen Täler zurück, der Gnome ließ das unterirdische Feuer in seinem Treibhaus abgeben, und die Rüben, die durch die Einflüsse des Winters in ihrem Wachstum nicht waren gehindert worden, gediehen zur Reife. Die schlaue Emma zog täglich einige davon aus und machte damit Versuche, ihnen allerlei beliebige Gestalten zu geben, dem Anschein nach, sich damit zu belustigen; aber ihre Absicht ging weiter. Sie ließ eines Tages eine kleine Rübe zur Biene werden, um sie abzuschicken, Kundschaft von ihrem Geliebten einzuziehen: »Fleug, liebes Bienchen, gegen Aufgang«, sprach sie, »zu Ratibor, dem Fürsten des Landes, und sumse ihm sanft ins Ohr, daß Emma noch für ihn lebt; aber eine Sklavin ist des Fürsten der Gnomen, der das Gebirge bewohnt, verlier kein Wort von diesem Gruße und bring mir Botschaft von seiner Liebe!«Die Biene flog alsbald von dem Finger ihrer Gebieterin, wohin sie beordert war; aber kaum hatte sie ihren Flug begonnen, so stieß eine gierige Schwalbe auf sie herab und verschlang zu großem Leidwesen des Fräuleins die Botschafterin der Liebe mit allen Depeschen. Darauf formte sie vermöge des wunderbaren Stabes eine Grille, lehrte ihr gleichen Spruch und Gruß: »Hüpfe, kleine Grille, über das Gebirge, zu Ratibor, dem Fürsten des Landes, und zirpe ihm ins Ohr, daß die getreue Emma begehrt Entledigung ihrer Banden durch seinen starken Arm.« Die Grille flog und hüpfte, so schnell sie konnte, auszurichten, was ihr befohlen war; aber ein langbeiniger



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Storch promenierte eben an dem Wege, darauf die Zirpe zog, erfaßte sie mit seinem langen Schnabel und begrub sie in das Verlies seines weiten Kropfes.

Diese mißlungenen Versuche schreckten die entschlossene Emma nicht ab, einen neuen zu wagen, sie gab der dritten Rübe die Gestalt einer Elster: »Schwanke hin, beredsamer Vogel«, sprach sie, »von Baum zu Baume, bis du gelangst zu Ratibor, meinem Sponsen, sag ihm an meine Gefangenschaft und gib ihm Bescheid, daß er meiner harre mit Roß und Mann, den dritten Tag von heute, an der Grenze des Gebirges im Maientale, bereit, den Flüchtling aufzunehmen, der seine Ketten zu zerbrechen wagt und Schutz von ihm begehrt.« Die zwiefarbige Aglaster gehorchte, flatterte von einem Ruheplätze zum anderen, und die sorgsame Emma begleitete ihren Flug, so weit das Auge trug.

Der harmvolle Ratibor irrte noch immer melancholisch in den Wäldern herum, die Rückkehr des Lenzes und die wiederauflebende Natur hatten seinen Kummer nur gemehrt. Er saß unter einer schattenreichen Eiche, dachte an seine Prinzessin und er seufzte laut: »Emma!« Alsbald gab das vielstimmige Echo ihm diesen geliebten Namen schmeichelhaft zurück; aber zugleich rief auch eine unbekannte Stimme den seinigen aus. Er horchte auf, sah niemanden, wähnte eine Täuschung und hörte den nämlichen Ruf wiederholen. Kurz darauf erblickte er eine Elster, die auf den Zweigen hin- und widerflog, und ward inne, daß der gelehrige Vogel ihn bei Namen rief. »Armer Schwätzer«, sprach er, »wer hat dich gelehrt, diesen Namen auszusprechen, der einem Unglücklichen zugehört, welcher wünscht von der Erde vertilgt zu sein wie sein Gedächtnis?« Hierauf faßte er wütig einen Stein und wollte ihn nach dem Vogel schleudern, als dieser den Namen Emma hören ließ. Dieser Talisman entkräftete den Arm des Prinzen, frohes Entzücken durchschauerte alle seine Glieder, und in seiner Seele bebt's leise nach, Emma! Aber der Sprecher auf dem Baume begann mit der dem Elstergeschlecht eigenen Wohlredenheit den Spruch, der ihm gelehrt war. Fürst Ratibor vernahm nicht sobald diese fröhliche Botschaft, so wurd's hell in seiner Seele, der tödliche Gram, der die Sinne umnebelt und die Federkraft der Nerven erschlafft hatte, verschwand; er kam wieder zu Gefühl und Besinnung und forschte mit Fleiß von der Glücksverkünderin nach den Schicksalen der holden Emma; doch die gesprächige Elster konnte nichts als mechanisch ihre Lektion ohne



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Aufhören wiederholen und flatterte davon. Schnellfüßig wie Hasael eilte der auflebende Waldmisanthrop zu seinem Hoflager zurück, rüstete eilig das Geschwader der Reisigen, saß auf und zog mit ihnen hin ans Vorgebirge seiner guten Hoffnung, das Abenteuer zu bestehen.

Fräulein Emma hatte unterdessen mit weiblicher Schlauheit alles vorbereitet, ihr Vorhaben auszuführen. Sie ließ davon ab, den duldsamen Gnomen mit tötendem Kaltsinn zu quälen, ihr Auge sprach Hoffnung, und ihr spröder Sinn schien beugsamer zu werden. Solche glückliche Aspekte läßt ein seufzender Liebhaber nicht leicht ungenutzt; der geistige Philogyn empfand vermöge seiner geistigen Empfindsamkeit gar bald diese scheinbare Sinnesänderung der holden Spröden. Ein holdseliger Blick, eine freundliche Miene, ein bedeutsames Lächeln setzten sein entzündbares Wesen in volle Flammen, wie elektrische Funken einen Löffel voll Weingeist. Er wurde dreister, erneuerte sein Liebesgewerbe, das lange geruht hatte, bat um Erhörung und wurde nicht zurückgewiesen. Die Präliminarien waren so gut wie unterzeichnet, das Fräulein begehrte nur jungfräulichen Wohlstands halber noch einen Tag Bedenkzeit, den ihr der wonnetrunkene Gnome bereitwillig zugestand.

Den folgenden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, trat die schöne Emma, geschmückt wie eine Braut, hervor, mit all dem Geschmeide belastet, das sie in ihrem Schmuckkästlein gefunden hatte, ihr blondes Haar war in einen Knoten geschürzt, den eine Myrtenkrone überschattete, der Besatz ihres Kleides funkelte von Juwelen, und da ihr der harrende Gnome auf der großen Terrasse im Lustgarten entgegenwandelte, bedeckte sie züchtiglich mit dem Ende des Schleiers ihr schamhaftes Angesicht. »Himmlisches Mädchen«, stammelte er ihr entgegen, »laß mich die Seligkeit der Liebe aus deinen Augen trinken und weigere mir nicht länger den bejahenden Blick, der mich zum glücklichsten Wesen macht, das jemals die rote Morgensonne bestrahlt hat!« Hierauf wollt er ihr Antlitz enthüllen, um sein Glück aus ihren Augen zu lesen: denn er erdreistete sich nicht, ein mündliches Geständnis von ihr zu erpressen. Das Fräulein aber machte ihre Schleierwolke noch dichter um sich her und entgegnete gar bescheidentlich also: »Vermag eine Sterbliche dir zu widerstehen, Gebieter meines Herzens? Deine Standhaftigkeit hat obgesiegt. Nimm dies Geständnis von meinen Lippen; aber laß mein Erröten und meine Zähren diesen Schleier



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auffassen.« — »Warum Zähren, o Geliebte?« fiel da der beunruhigte Geist ein. »Jede deiner Zähren fällt wie ein brennender Naphthatropfen mir aufs Herz, ich heische Lieb um Liebe und will nicht Aufopferung.« —»Ach!« erwiderte Emma, »warum mißdeutest du meine Tränen? Mein Herz lohnt deine Zärtlichkeit; aber bange Ahndung zerreißt meine Seele. Das Weib hat nicht stets die Reize einer Geliebten, du alterst nimmer; aber irdische Schönheit ist eine Blume, die bald dahinwelkt. Woran soll ich erkennen, daß du der zärtliche, liebevolle, gefällige, duldsame Gemahl sein werdest, wie du als Liebhaber warest?« Er antwortete: »Fordere einen Beweis meiner Treue oder des Gehorsams in Ausrichtung deiner Befehle; oder stelle meine Geduld auf die Probe und urteile daraus von der Stärke meiner unwandelbaren Liebe.« — »Es sei also!« beschloß die schlanke Emma, »ich heische nur einen Beweis deiner Gefälligkeit. Gehe hin und zähle die Rüben all auf dem Acker, mein Hochzeitstag soll nicht ohne Zeugen sein, ich will sie beleben, daß sie mir zu Kränzeljungfrauen dienen; aber hüte dich, mich zu täuschen, und verzähle dich nicht um eine, denn das ist die Probe, woran ich deine Treue prüfen will.«

So ungern der Gnome in diesem Augenblicke von seiner reizenden Braut schied, so gehorchte er doch sonder Verzug, begab sich rasch an sein Geschäft und hüpfte so hurtig unter den Rüben herum, wie ein französischer Lazarettarzt unter den Kranken, die er auf den Kirchhof zu spedieren hat. Er war durch diese Geschäftigkeit mit seinem Additionsexempel bald zustande; doch um der Sache recht gewiß zu sein, wiederholte er die Operation nochmals und fand zu seinem Verdruß einen Unterschied in der Rechnung, der ihn nötigte, zum drittenmal den Rübenpöbel durchzumustern. Aber auch diesmal ergab sich eine neue Differenz, und das war eben nicht zu verwundern: ein Mädchenideal kann den besten arithmetischen Kopf verwirren.

Die verschmitzte Emma hatte ihren Paladin nicht so bald aus den Augen verloren, als sie zur Flucht Anstalt machte. Sie hielt eine saftvolle, wohlgenährte Rübe in Bereitschaft, die sie flugs in ein mutiges Roß mit Sattel und Zeug metamorphosierte, rasch schwang sie sich in den Sattel, flog über die Heiden und Steppen des Gebirges dahin, und der flüchtige Pegasus wiegte sie, ohne zu straucheln, auf seinem sanften Rücken hinab ins Maiental, wo sie dem geliebten Ratibor, der der Kommenden ängstlich entgegenharrete, sich fröhlich in die Arme warf.



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Der geschäftige Gnome hatte sich indessen so in seine Zahlen vertieft, daß er von dem, was um und neben ihm geschah, nur wenig verspürte. Nach langer Müh und Anstrengung seiner Geisteskraft war's ihm endlich gelungen, die wahre Zahl aller Rüben auf dem Ackerfelde, klein und groß miteingerechnet, gefunden zu haben, er eilte nun froh zurück, sie seiner Herzensgebieterin gewissenhaft zu berechnen und durch die pünktliche Erfüllung ihrer Befehle sie zu überzeugen, daß er der gefälligste und unterwürfigste Gemahl sein werde, den jemals Phantasie und Kaprice einer Adamstochter beherrscht hat. Mit Selbstzufriedenheit trat er auf den Rasenplatz; aber da fand er nicht, was er suchte, er lief durch die bedeckten Lauben und Gänge; auch da war nicht, was er begehrte; er kam in den Palast, durchspähte alle Winkel desselben, rief den holden Namen Emma aus, den ihm die einsamen Hallen zurücktönten, begehrte einen Laut von dem geliebten Munde; doch da war weder Stimme noch Rede. Das fiel ihm auf, er merkte Unrat, flugs warf er das schwerfällige Phantom der Verkörperung ab wie ein träger Ratsherr seinen Schlafrock, wenn vom Turme der Feuerwächter Lärm bläst, schwang sich hoch in die Luft und sah den geliebten Flüchtling in der Ferne, als eben der rasche Gaul über die Grenze setzte. Wütig ballte der ergrimmte Geist ein paar friedlich vorüberziehende Wolken zusammen und schleuderte einen kräftigen Blitz der Fliehenden nach, der eine tausendjährige Grenzeiche zersplitterte; aber jenseits derselben war des Gnomen Rache unwirksam, und die Donnerwolke zerfloß in einen sanften Heiderauch.

Nachdem er die oberen Luftregionen verzweiflungsvoll durchkreuzt, seine unglückliche Liebe den vier Winden geklagt und seine stürmende Leidenschaft ausgetobt hatte, kehrte er trübsinnig in den Palast zurück, schlich durch alle Gemächer und erfüllte sie mit Seufzen und Stöhnen. Nachher besuchte er noch einmal den Lustgarten; doch diese ganze Zauberschöpfung hatte keinen Reiz mehr für ihn: ein einziger Fußtapfen der geliebten Ungetreuen, in den Sand gedrückt, den er bemerkte, beschäftigte seine Aufmerksamkeit mehr als die goldnen Äpfel an den Bäumen und die buntfarbige mosaische Ausfüllung der Buchsbaumschnörkel auf den Blumenstücken. Die Ideen des wonniglichen Genusses erwachten wieder an jedem Platze, wo sie vormals ging und stund, wo sie Blumen gepflückt oder ausgezupft, wo er sie oft unsichtbar belauscht, oft, mit der körperlichen Hülle umgeben, mit ihr trauliche



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Unterredung gepflogen hatte. Alles das würgte und knotete ihn so zusammen, preßt' und drückt' ihn dergestalt auf die Zirbeidrüse, daß er unter der Last seiner Gefühle in dumpfes Hinbrüten versank. Bald hernach brach sein Unmut in gräßliche Verwünschungen aus, nachdem er seiner ersten Liebe eine stattliche Parentation gehalten, und er vermaß sich höchlich der Menschenkunde ganz zu entsagen und von diesem argen betrüglichen Geschlecht weiterhin keinerlei Notiz zu nehmen. In dieser Entschließung stampfte er dreimal auf die Erde, und der ganze Zauberpalast mit all seiner Herrlichkeit kehrte in sein ursprüngliches Nichts zurück. Der Abgrund aber sperrte seinen weiten Rachen auf, und der Gnome fuhr hinab in die Tiefe bis an die entgegengesetzte Grenze seines Gebietes, in den Mittelpunkt der Erde und nahm Spleen und Menschenhaß mit dahin.

Während dieser Katastrophe im Gebirge war Fürst Ratibor geschäftig, die herrliche Beute seiner Wegelagerung in Sicherheit zu bringen, führte die schöne Emma mit triumphalischem Pomp an den Hof ihres Vaters zurück, vollzog daselbst seine Vermählung, teilte mit ihr den Thron seines Erbes und erbaute die Stadt Ratibor, die noch seinen Namen trägt bis auf diesen Tag. Das sonderbare Abenteuer der Prinzessin, das ihr auf dem Riesengebirge begegnet war, ihre kühne Flucht und glückliche Entrinnung wurde das Märchen des Landes, pflanzte sich von Geschlecht zu Geschlechte fort bis in die entferntesten Zeiten, und die schlesischen Damen nebst ihren Nachbarinnen zur Rechten und Linken und vom Aufgang zum Niedergang fanden so vielen Geschmack daran, daß sie das Beispiel der schlauen Emma noch oft benutzen und den unbehaglichen Ehekonsorten wegschicken, Rüben zu zählen, wenn sie den Buhlen beschieden haben. Und die Bewohner der umliegenden Gegenden, die den Nachbar Berggeist bei seinem Geisternamen nicht zu nennen wußten, legten ihm einen Spottnamen auf, riefen ihn Rübenzähler oder kurzab Rübezahl.


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