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Musäus Deutsche Volksmärchen

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

Innerhalb der Reihe jener Märchensammlungen, die im deutschen Bereich dem großen Werk der Brüder Grimm zeitlich vorausgingen, gebührt den »Volksmärchen der Deutschen« eine sehr besondere Beachtung, die 1. K. A. Musäus - ein Zeitgenosse des Weimarer Ministers Goethe, während der Jahre 1782 bis 1787 herausgebracht hat. Zumindest einige davon haben sehr früh schon im Volke Wurzel gefaßt und sind zu wahrhaften Volksmärchen geworden. Musäus selber, der stadtbekannte Professor in Weimar, hat berichtet, daß Bauern und Handwerksburschen, alte Soldaten, Spinnstubenfrauen und wohl auch Kinder sie ihm erzählt haben. Zusätzlich hat er sich der emsigen Lektüre alter Kalender, Volksbücher und Schatzgräberscharteken hingegeben und mit Eifer in alten Chroniken gekramt und darin studiert. Wieland hat eine Anzahl dieser Märchen in späteren Ausgaben überarbeitet, dabei aber keine besonders glückliche Hand bekundet. Zu größter Volkstümlichkeit gelangten die alten Legenden vom Berggeist Rübezahl im schlesischen Riesengebirge, denen Ludwig Richter und etliche von dessen Schülern durch prächtige und urwüchsige Holzschnitte zu phantasievoller Bebilderung verhalfen. Es sind Geschichten von Geistern und Gespenstern, Schatzgräbergeschichten und solche von Baumgeistern, Nymphen und Elfen, von Wunschgaben und Zauberkünsten, gesättigt von vielerlei Spuk und zum Teil ungemein grauser und krauser Mythologie, von Bären, Adlern und riesigen Fischungeheuern, von verführerischen und auch diebischen Prinzessinnen. Musäus hat vielerlei eigene Erfindungskraft besonders in die Legendenkette um Rübezahl, aber auch in die liebliche Mär von der altböhmischen Herzogin Libussa sowie in lockerer und loser Ausspinnung in die Geschichten um Rolands Knappen und das zwischen Grausen



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und scharmanter Liebelei schwebende Märchen von den Tierschwägern und den Töchtern des egoistischen und sinnlos verschwenderischen Grafen eingeflochten (»Bücher der Chronika der drei Schwestern«). In der Sage vom Grafen Heinrich von Hallermünd und seiner jungschönen Gemahlin Jutta vermengen sich Kunde von tatendurstiger und opfermutiger Ritterheroik mit romantischem Frauensehnen und Jenseitsgeträume, jugendlich verschwärmter Pagenliebelei und rächendem Gespensterspuk (»Liebestreue«).

Musäus entstammte einer weitverzweigten alten thüringischen Familie der langeingesessenen Bildungsschicht, war der einzige Sohn des Landrichters Johann Christoph Musäus und kam in Jena zur Welt. Unter seinen Vorfahren sind zahlreiche Theologen gewesen, und seine besten Lehrjahre hat er unter der gestrengen und sparsamen Zucht eines Oheims zugebracht, bei dem er »täglich seinen vollen Napf heilsamer Katechismusmilch zu leeren hatte und dazu den Pumpernickel lateinischer Sprichwörter oder die Kartoffelmast aus dem Vokabeltroge verkäute«. Nachher ist er Student der Theologie geworden, allezeit ein fleißiger Kollegbesucher und ein lustiger und witziger Geselle gewesen. Seiner Tanzfreudigkeit wegen ist er bei den Bauern des Dorfes, in dem er als Pfarrer vorgesehen war, in starken Verruf gekommen. Er sattelte kurzentschlossen um, warf sich mit sprühender Genialität auf die Schriftstellerei und gewann schon früh eine Anstellung als Pagenhofmeister in Weimar.

Nachdem ihn die Herzogin Anna Amalia zum Professor am Gymnasium ernannt hatte, verehelichte er sich mit Juliane Krüger, deren Vater Stadtratskämmerer in Wolfenbüttel war. Zwischen der launigen und leicht erregbaren Frau Professor und dem humorvollen, stark zur Bequemlichkeit neigenden Herrn Gemahl hat es mancherlei und mitunter stürmische Auseinandersetzungen gegeben. An der um haben die beiden ein kleines Gartenhäuschen bewohnt und dort auch zwei muntere Knaben großgezogen. Zum kärglichen Gehalt wurde durch literarische und andere gelehrsame Arbeiten sowie mit ausgedehnten Privatstunden ein zusätzliches Einkommen gewonnen. Vor der Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres hat er sich nach vorangegangenen Unternehmungen literarischer Zeitmoden der Erschließung deutscher Volksmärchen zugewandt, von denen auch seine Frau meinte, »daß das ein ganz lukrativer Artikel werden könnte«.



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Auf mancherlei Wanderungen im thüringischen Land bei Sonne, Regen und Wind -wobei ihn stets der Regenschirm und ein über der Schulter getragenes Bündel Wäsche oder für daheim sorglich eingekauftes »Zeug«begleiteten - und Besuchen bei Landleuten, dazu geselligem Erzählen mit Handwerksburschen hat er seinem Volke die »Zunge gelöst«. Sein Sinn war einer romantischen Welt zugewandt. Wie sein Neffe Kotzebue erzählt hat, »versammelte er öfters eine Menge von alten Weibern mit ihren Spinnrädern um sich her, setzte sich in ihre Mitte und ließ sich von ihnen geschwätzig vorplaudern, was er nachher so reizend nachplauderte. Auch Kinder rief er oft von der Straße herauf, ließ sich Märchen erzählen und bezahlte jedes Märchen mit einem Dreier.«Er hat sich wohl auch mal einen alten ausgedienten Tambour von der Straße geholt, ihn mit Branntwein traktiert und dessen Märchen gelauscht. Auch hat er in alten Büchern nach Material gesucht, aber immer mit den überlieferten Stoffen frei nach eigenem Gutdünken gewaltet. Das Wunderbare der Märchenwelt lockte ihn.

Mit dem überlegenen Lächeln und aller Selbstsicherheit des gebildeten und aufgeklärten Mannes des 18. Jahrhunderts schwelgte er in buntem und wirrem Aberglauben und kindhaften Fabeleien und steuerte sein gut Teil Rationalismus und humorvollen Spott und Satire bei. Seine hervorstechende Absicht war es, »die Märchen noch zehnmal wunderbarer zu machen, als sie ursprünglich sind«. Er schuf einen Märchengarten mit Feenschlössern darin; und als ihm die Nixen der um eines Tages das geliebte Kanapee seines Gartenhäuschens beinahe davongeschwemmt hatten, realisierte er schließlich einen schon lange gehegten Plan und kaufte sich ein Stück Land, darauf er ein eigenes Gartenhaus errichtete. Die Herzogin selber hat's ihm gönnerhaft möbliert. Dort hat er häufig seinen so sehr geliebten »Coffee« geschlürft und dabei eines ums andere seiner Volksmärchen aufgezeichnet. Das tat er sommers und winters und brachte es mit der Zeit auf mehrere gehaltvolle Bände.

Während seiner letzten Lebensjahre hat er auch regelmäßig ein »Gartenjournal« geführt und darin sauber vermerkt, was alles im bunten Wechsel der Jahreszeiten an Blumen, Gemüsen und Bäumen im Gärtchen gepflanzt und gesetzt worden ist, was ihn an häuslichen Sorgen bedrückt hat und welche Besucher empfangen, welche festlichen und frugalen Mahlzeiten gehalten wurden. Merkwürdigerweise sind



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Goethe und er einander fremd geblieben, während immerhin kein anderer als Goethe selber Lavater, den berühmten Verfasser der »Physiognomik«, zu ihm geführt hat, dem er ins Stammbuch notierte: »Mein Herz strebt Dir entgegen voll reiner Liebe«, während Lavater ihn zum Abschied zweimal küßte. Wieland dagegen schwärmte von dem »schönen Hexenmeister - mit schwarzem Augenpaar und Götterblicken, gleich mächtig zu töten und zu entzücken«.

Im Herbst 1787 hat ein sanfter Tod Musäus ohne vorangegangene längere Krankheit aus seinem Garten-, Zauber- und Märchenreich heimgeholt.

Die vorliegende Auswahl seiner »Volksmärchen der Deutschen« muß rein aus Raumgründen auf manches gewichtige Stück verzichten und wendet sich vornehmlich an Liebhaber, die an altem und gepflegtem Volksgut Freude und Gefallen haben. Sie stellt die Stücke nach dem Wortlaut der ursprünglichen Auflagen dar und verzichtet auf sonderliche Anmerkungen und wissenschaftliche Kommentare.

Musäus gehört an gewichtigem Platz zum Kreis jener Männer des 18. Jahrhunderts, die als Vorläufer und Schrittmacher von Jacob und Wilhelm Grimm den gebildeten Deutschen jener Tage das Märchen wieder ins Bewußtsein gehoben haben, und unser Band möchte dazu beitragen, von ihm Aufgezeichnetes als echte Volksmärchen und Stücke deutschen Volksguts in ihrer ursprünglichen Form lesbar und vertraut zu halten.

1782 schrieb Musäus selber in seiner in Gestalt eines »Vorberichts an Herrn David Runkel, Denker und Küster an der St.-Sebalds-Kirche in -«gehaltenen Einleitung:

»Volksmärchen sind keine Volksromane oder Erzählungen solcher Begebenheiten, die sich nach dem gemeinen Weltlaufe wirklich haben zutragen können; jene veridealisieren die Welt und können nur unter gewissen konzentuellen Voraussetzungen, welche die Einbildungskraft, solang sie ihrer bedarf, als Wahrheit gelten läßt, sich begeben haben. Ihre Gestalt ist mannigfaltig, je nachdem Zeiten, Sitten, Denkungsart, hauptsächlich Theogonie und Geisterlehre jedes Volkes auf die Phantasie gewirkt hat. Doch dünkt mich, der Nationalcharakter veroffenbare sich darin ebensowohl, als in den mechanischen Kunstwerken jeder Nation. Reichtum an Erfindung, Üppigkeit und Überladung an seltsamen Verzierungen zeichnen die morgenländischen Stoffe



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und Erzählungen aus; Flüchtigkeit in der Bearbeitung, Leichtigkeit und Flachheit in der Anlage die französischen Feereien und Manufakturwaren; Anordnung und Übereinstimmung und handfeste Komposition die Gerätschaft der Deutschen und ihrer Dichtungen.

Volksmärchen sind aber auch keine Kindermärchen; denn ein Volk, weiß Er wohl, bestehet nicht aus Kindern, sondern hauptsächlich aus großen Leuten, und im gemeinen Leben pflegt man mit diesen anders zu reden als mit jenen. Es wär also ein toller Einfall, wenn Er meinte, alle Märchen müßten im Kinderton der Märchen meiner Mutter Gans erzählet werden. Ob Er gleich Seinem Amt und Beruf nach mit dem Orgelton nichts zu schaffen hat, wie Ihm im Göttinger Taschenkalender fälschlich beigemessen wird: so weiß ich doch, daß Er überhaupt viel auf guten Ton hält. Darum merk Er zu beliebiger Notiz, daß ich den Ton der Erzählung, soviel möglich, nach Beschaffenheit der Sache und dem Ohr der Zuhörer, d. h. einer gemischten Gesellschaft aus groß und klein, zu bequemen bemüht gewesen bin. Hab ichs Ihm, werter Herr Runkel, damit zu Danke gemacht, so ist mirs angenehm, wo nicht, so tut mirs leid. Wenn Er sich inzwischen den Erzähler als Komponisten denkt, der eine ländliche Melodie mit Generalbaß und schicklicher Instrumentalbegleitung versieht: so hoff ich, wird schon alles recht sein.«

K. R.


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