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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Von den drei Brüdern, die sich ganz ähnlich sahen

Ein Vater hatte drei Söhne, und alle waren untereinander so ähnlich, daß man sie auf keine Weise unterscheiden konnte. Ihr Vater hatte eine alte Stute, die schenkte ihm drei schwarzbraune Fohlen, die alle gleich



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aussahen. Als die Brüder erwachsen waren, beschlossen sie, in die Welt zu gehen, um ihr Glück zu suchen. Alle drei steckten ihre Messer in die Erde und schwuren einander, wenn eins von den Messern rot würde, so wollten sie nach dem suchen, dessen Messer rot geworden war. Also gut. Alle setzten sich auf ihre Pferde und ritten nach allen Seiten in die Ferne. Auf ihrem Wege begegneten alle einem Löwen, der sie hat, er wolle ihr Gefährte sein. Sie nahmen ihn mit. Darauf trafen sie einen Bären, den machten sie auch zu ihrem Gefährten. Sie ritten weiter und trafen einen Wolf; noch ein Stück weiter trafen sie einen Fuchs und schließlich einen Hasen, und alle machten sie zu ihren Gefährten. Lange Zeit waren sie so geritten, und jeder von ihnen dachte daran, bei der Rückkehr nachzusehen, ob alle Messer noch sauber wären.

Der Jüngste war nach Osten geritten. Der gelangte auf seinem Ritt in eine große Stadt. Dort standen alle Häuser in Trauer. Er fragte nun, weshalb hier alles so finster blicke. Da sagten sie ihm, der Königstochter drohe der Tod, denn ein Drache wolle sie verschlingen. Der jüngste Bruder hieß Jurgis. Dieser Jurgis brachte sein Gewehr gut instand und ritt mit allen seinen Tieren an den Meeresstrand, wo am nächsten Morgen die Königstochter erscheinen mußte, damit sie der Drache verschlingen könne. Schon dämmerte der Morgen. Viele Könige gaben der Königstochter das Geleit, die als erste allein in ihrem Wagen fuhr. Halben Wegs gingen alle diese Herren mit. Dann kehrten sie um, denn sie wollten den schrecklichen Tod nicht sehen. Die Königstochter fuhr also nach dem Meeresstrand, stieg aus dem Wagen und kniete nieder. Da schlich aus dem Meere ein Drache mit sechs Häuptern heraus. Jurgis schoß auf das Ungestüm. Einen Kopf schoß er ab. Er sah aber, daß er ihn nicht besiegen konnte, und daher rief er seine Tiere zu Hilfe. Die stürzten alle auf ihn los und zerrissen ihn. Da fiel die Königstochter ihm um den Hals und bat ihn, mit ihm zu ihren Eltern zu fahren. Jurgis schlug es aber ab und sagte, ein andermal würde er zu ihr kommen. Dann ritt er seines Wegs. Da sagte der Kutscher zur Königstochter: »Tu jetzt, was du willst! Sagst du nicht, daß ich dich errettet habe, so mußt du sterben: sagst du aber, ich habe dich errettet, dann will ich dein Mann sein.«Die Königstochter sah, daß sie in großer Not war. Daher



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versprach sie, das zu sagen, was der Kutscher wünschte. Also gut. Sie kehrten zu den Eltern heim. Die wußten nicht, was sie vor lauter Freude tun sollten. Sie veranstalteten einen großen Ball. Sie wußten ja nicht, wie sie dem Kutscher danken sollten. Schließlich mußte der König seine Tochter dem Kutscher zur Frau geben. Bald sollte auch die Hochzeit sein und kurz vor der Hochzeit ein Ball. Auf dem Ball erschien auch Jurgis. Der König wußte nicht, weshalb, und Jurgis sagte auch nichts darüber. Alle hatten sich zum Mahle niedergesetzt, ebenso die Königstochter, Jurgis und der Kutscher. Bei der Unterhaltung sprachen sie auch: »Wir wollen doch überlegen, wenn dieser, der sich mit der Königstochter vermählen will, sie nicht befreit hat, wie man ihn bestrafen muß!« Der zweite: »Man muß ihn totschießen.« Der dritte: »Man muß ihn ins Gefängnis sperren«, und der Kutscher sagte: »Das soll und darf alles nicht geschehen. Man soll ihn vielmehr zur Stadt hinausführen auf das Brachfeld und ihn mit zwölf Paar Rossen zerreißen lassen.« Da fiel die Königstochter Jurgis um den Hals und sagte: »Seht her, dieser hier hat mich befreit und nicht der Kutscher.« Der Kutscher hatte sich also selbst gerichtet und ward von den Rossen in Stücke gerissen. Jurgis vermählte sich aber mit der Königstochter.

Eine Nacht nach der Hochzeit schlief er bei der Königstochter. Da sah Jurgis in einem Walde einen hellen Feuerschein. Er sprang aus dem Bett und sagte, er wolle dorthin reiten. Seine Gattin aber wollte ihn nicht ziehen lassen. Er gehorchte ihr nicht, sondern ließ sein schwarzbraunes Roß satteln und ritt hinaus mit allen seinen Tieren. Er ritt an ein Feuer und sah dort eine alte Frau sitzen, die vor Kälte zitterte. Jurgis fragte sie: »Was wärmst du dich nicht am Feuer?« Die Alte antwortete: »Das ist mir verboten. Gib mir, mein Lieber, Haare von allen deinen Tieren und von dir. Dann wird es mir gestattet sein, mich am Feuer zu wärmen.« Jurgis gab sie ihr. Die Alte nahm die Haare und warf sie ins Feuer. Da begann ein warmer Regen zu fallen, und Jurgis mit allen seinen Tieren ward zu Stein. Auch seine anderen Brüder wanderten durch die Welt. Der zweite Bruder dachte bei sich: >Ich will nach Hause reiten und sehen, ob alle Messer noch rein sind.<Er ritt also zu den Messern, die in der Erde steckten. Da sah er, daß das Messer des jüngsten Bruders rot geworden war, und er sagte zu sich: >Vielleicht ist er noch in der



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Welt am Leben. Ich werde in die Ferne reiten und ihn suchen.< Und er ritt von dannen. Lange war er geritten und endlich zu einer großen Stadt gekommen. Die ganze Stadt hatte Trauer angelegt. Er traf aber einen Mann aus dieser Stadt. Den fragte er, was hier geschehen wäre. Da tat er ihm kund, hier habe ein König gelebt, der die Königstochter befreit hätte. »Gott weiß allein, wohin er verschwunden ist. Er ist schon länger als ein halbes Jahr fort.« Da ritt er zur Königin. Als sie ihn sah, fiel sie ihm um den Hals, küßte ihn und sprach: »Mein teurer Schatz, wo warst du so lange Zeit verschwunden?« Er war nämlich seinem Bruder so völlig ähnlich, daß die Königin ihn für ihren Mann hielt. Der wußte nicht, was er tun oder sagen sollte, und wollte wieder davonreiten. Die Königstochter aber ließ ihn nicht. Eines Abends aber schlief er bei ihr, da sah er im Walde ein Feuer. Plötzlich stand er auf und wollte zum Feuer reiten. Aber die Königstochter ließ ihn nicht. Trotzdem ritt er mit allen seinen Tieren von dannen. Er kam zu dem Feuer und fand dieselbe alte Frau dort. Und es geschah alles genau so wie beim ersten.

Inzwischen war der älteste Bruder zu den Messern zurückgekehrt und hatte gefunden, daß zwei davon rot geworden waren. Er ritt daher schnell von dannen, um seine Brüder zu suchen. Er ritt lange Zeit und kam endlich zu der Stadt, die in Trauer war. Er fragte: »Was ist hier in der Stadt geschehen?« Da taten sie ihm kund, es habe hier ein König gelebt, der hätte die Königstochter befreit, dann wäre er ein halbes Jahr verschwunden gewesen, dann aber wäre er wiedergekommen, und seitdem ist er wieder schon länger als ein Jahr fort.

Dem ältesten Bruder stieg eine Ahnung auf, und er ritt zu der Königstochter. Als diese ihn sah, fiel sie vor Freude fast in Ohnmacht.

»Wo bist du so lange gewesen, mein teurer Schatz?« Der Bruder antwortete: »Ich war hier und dort und besuchte meine Leute.« Und er schlief eine Nacht bei der Königin. Er nahm aber ein Schwert mit und legte es zwischen die Knie. Kaum aber hatte er das Feuer im Walde gesehen, da sprang er aus dem Bett, setzte sich schnell auf sein Roß und ritt wie der Wind nach dem Feuer. Er fand dort eine alte Frau sitzen, die vor Kälte zitterte. Der Bruder fragte: »Warum wärmst du dich nicht?« Sie erwiderte: »Mir ist es verboten. Wenn du mir aber von deinein



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und deiner Tiere Haar gibst, dann darf ich es.« Der Bruder sah bei der Hexe einen unscheinbaren Stock und sagte: »Ach, was hast du da für einen schönen Stock? Kannst du mir ihn denn nicht geben, damit ich ihn mir ansehen kann?«Da reichte ihm die Alte den Stock. Er schlug aber damit aus Leibeskräften auf die Hexe los und rief: »Wo sind meine Brüder?«Schließlich wies die Alte auf die Steine und sprach: »Sieh, das sind deine Brüder!« Da schlug sie der Bruder noch viel heftiger und verlangte, sie solle seine Brüder wieder lebendig machen. Da entgegnete die Alte: »Nimm hier das Gläschen, geh dorthin zu dem reißenden Flüßchen, schöpfe Wasser und besprenge damit die Steine!« Da sagte der Bruder: »Nein, geh du! Ich gehe nicht.« Und er gab ihr noch mehr mit dem Stock. Da machte die Alte seine Brüder und viele andere Menschen wieder lebendig. Der Bruder aber schlug die Alte, damit sie ihm auch das Gläschen gebe. Die Alte reichte es ihm. Der Bruder schöpfte Wasser damit, besprengte die Alte und schlug sie mit dem Stock. Da begann ein warmer Regen zu fallen, und die Alte ward zu Stein. Er selber aber schöpfte von dem Wasser und ritt mit seinen Brüdern in den Hof der Königstochter.

Als diese die drei Männer erblickte, von denen einer wie der andere aussah, wußte sie nicht, was sie tun sollte. Da ging der Jüngste, Jurgis, zu ihr heran, küßte sie und sagte: »Ich bin der Richtige.« Von da ab lebten alle Brüder lange in Eintracht. Jurgis ward König, und seine beiden Brüder hatten in seinem Reiche gleich die erste Stelle nach dem König. Als sie lange so gelebt hatten, kamen sie überein, ihre Eltern zu besuchen. Sie fuhren alle mit, auch die Königstochter und alle ihre Tiere. Auf dem halben Wege kamen sie zu einem Hof. Der stak ganz in der Erde. Nur ein einziges Dach war noch über der Erde. Sie gingen alle hinein und wollten um ein Nachtquartier bitten, aber sie fanden niemand. Alles war leer. Nur die schönsten Betten waren zurechtgemacht. Sie gaben auf nichts acht, legten sich hinein und schliefen. Nur der zweite Bruder schlief nicht. Er dachte bei sich: >Hier gibt es vielleicht nichts Gutes.<Und so gab er sich Mühe, die ganze Nacht über nicht einzuschlafen. Da hörte er, wie eine schöne Jungfrau in das Zimmer trat und sich mit einem Stein unterhielt, der unter dem Tisch lag: »Ach, wenn sie es wüßten, würden sie nicht hier schlafen! Denn heute



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nacht erscheint hier ein Gespenst. Das schleicht durchs Fenster und wird die Königstochter auffressen. Und weiter, wenn sie es wüßten, würden sie nach der Heimkehr zu ihren Eltern nichts von der ersten Mahlzeit essen, und wenn sie es wüßten, würden sie das Roß zureiten, und wenn es unvermutet alle Speisen umstürzt, dann würden sie glücklich sein.« Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, da nahm sie von dem Stein Abschied und verschwand. Der zweite Bruder sprang aber aus dem Bett, griff schnell zu seinem Schwerte und stellte sich ans Fenster. Es war nicht mehr weit von Mitternacht, da sah der zweite Bruder, wie ein ganz fürchterliches Gespenst seinen Kopf hineinsteckte. Er schlug ihm, krach, den Kopf ab. Ein Blutstropfen aber bespritzte die Hand der Königstochter. Der Bruder wollte ihn mit seinem Tuche abwischen. Das bemerkte aber im Schlaf der Mann der Königstochter. Er ergriff das Schwert und schlug seinem Bruder das Haupt ab. Als er am nächsten Morgen aufstand, sah er, daß der zweite Bruder mit abgeschlagenem Haupte in seinem Blute lag und ein Gespenst ohne Kopf am Fenster kauerte. Da fragte der älteste Bruder: »Was ist hier geschehen?« Jurgis erklärte: »Einer machte sich heute nacht bei meiner Frau zu schaffen, da ergriff ich das Schwert und hieb ihm den Kopf ab. Wer konnte wissen, daß das unser Bruder war?« Der älteste Bruder nahm sein Gläschen mit Wasser, rieb damit des Bruders Haupt ein, setzte es wieder auf den Nacken und schlug mit dem Stock der alten Hexe darauf. Da wurde er sogleich wieder gesund. Von diesem Hofe fuhren sie zu ihren Eltern. Schon fanden sie einen schönen Tisch gedeckt mit allerlei Weinen und den schönsten und allerschönsten Speisen. Der Tisch war aber draußen zwischen den vier Eichenbäumen gedeckt. Da ritt der Bruder nach den Worten der Jungfrau, die ihm in dem Hofe, der halbwegs zu seinen Eltern lag, erschienen war, das Roß zu, und unvermutet schlug es mit dem Hinterteil den Tisch um, und der ganze Tisch mit Speisen und Getränken fiel krachend zur Erde. So wurde - Gott sei Dank -alles zerschlagen. Darauf bereiteten sie andere Speisen und aßen sich satt. Sie nahmen dann ihre Eltern mit und kehrten in ihr Königreich zurück.


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