Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Von den drei Brüdern und dem Frühling

In einem kleinen Häuschen wohnte eine alte Frau mit ihren drei Söhnen. Im Herbst schlachteten sie ein Schwein, dessen Fleisch sie einsalzten und räucherten. Die Söhne sagten nämlich zur Mutter: »Koch uns



Bd_02-297-Maerchen aus Littauen Flip arpa

jetzt das Fleisch noch nicht, sondern laß es liegen bis zum Frühling!« Denn da hatten sie schwer zu arbeiten. Die Mutter kochte ihnen also nichts von dem Fleisch, und sie fasteten, damit sie nur Fleisch hätten, wenn sie pflügen müßten. Eines Morgens fuhren alle drei in den Wald, und die Mutter blieb allein zu Hause. Siehe, da kam zu ihr ein Mann, der war ganz abgebrannt. Der sagte, er sei Frühling - so war nämlich sein Name -, und bat sie, sie möge ihm was zu essen geben. Die Mutter hörte, daß er Frühling hieß, und gab ihm das ganze Fleisch. Der Abgebrannte dankte ihn und fuhr fröhlich von dannen.

Am Abend kamen die Söhne heim. Die Mutter rühmte sich sogleich vor ihnen, daß sie bereits das ganze Fleisch dem Frühling gegeben habe. Als die Söhne das gehört hatten, wurden sie sehr böse, und die beiden ältesten sagten: »Wir wollen unsre Mutter totschlagen! Denn durch ihre Schuld werden wir im Frühling, wo wir viel arbeiten müssen, vor Hunger verrecken.«Der jüngste aber sagte: »Nein, schlagt sie nicht tot! Wartet, ich will in der Welt umherwandeln, und nur wenn ich keine Dümmere finde als unsre Mutter, dann könnt ihr sie totschlagen.« Die beiden ältesten Brüder willigten ein und sagten: »Geh!« Er wanderte in die Welt hinaus.

Der jüngste Bruder ging also seines Wegs und kam in ein Dorf. Da gewahrte er, wie eine Frau ihr Huhn schlug. »Warum prügelst du denn das arme Hühnchen so durch?«fragte er sie. — »Siehst du denn nicht, sie hat so viele Küken ausgebrütet, und sie hat nicht eine einzige Zitze, womit sie diese nun ernähren kann?« schrie das böse Weib. Da lachte der Wandrer und schritt weiter, um noch Dümmere zu suchen. Als er einige Meilen gegangen war, gewahrte er, wie eine Alte ihre Kälber verprügelte. »Warum verprügelst du sie so?«fragte er sie. —»Sieh doch hin! Ich habe ihnen eine Leiter hingestellt. Sie sollen auf das Dach klettern und sich an dem Moos, was dort grünt, satt fressen. Aber die dummen Kälber wollen nicht gehen.«Da schüttelte er den Kopf und ging weiter. Er hatte nun Durst und trat in eine Hütte. Da mußte er sich wieder wundern. Eine Alte eilte fortgesetzt aus der Stube in den Flur, nahm in der Stube einen Löffel mit Brei und eilte in den Flur nach Milch, und so lief sie ohne Aufhören hin und her. »Weshalb, liebe Frau, bringst du denn die Milch nicht in die Stube und stellst sie auf den Tisch?« Die



Bd_02-298-Maerchen aus Littauen Flip arpa

Alte gehorchte, trug die Milch herbei und stellte sie auf den Tisch. Aber den Brei brachte sie in den Flur, und wieder lief sie fortgesetzt hin und her. Da ließ er sie und ging in einen Hof. Er kam zuerst zu den Schweinekoben. Siehe, da lief ein Schwein an der Tür auf und ab und grunzte. Als er jetzt die Herrin aus dem Hause kommen sah, machte er dem Schwein eine Verbeugung bis zur Erde. Die Herrin sah ihn sich verbeugen und fragte: »Was willst du denn von dem Schwein?« —»Herrin«, erwiderte er, »ich bat es, es solle so gnädig sein, bei uns Trauzeuge zu sein.« Da fiel die Herrin vor lauter Lachen fast in Ohnmacht, weil bei einem Bauern Schweine Trauzeugen sein könnten. Die Herrin sagte, sie habe nichts dagegen, es solle nur gehen. »Du mußt ihm aber noch ein Pferd und einen Wagen geben; denn es ist nicht schön für einen Trauzeugen, zu Fuß zu gehen«, fiel der Wandrer ein. — »Schön!« sagte die Herrin, und sie ließ an den Wagen den allerschlechtesten Klepper anspannen. Er bat sie aber noch weiter: »Es ist nicht schön für einen Trauzeugen, allein zu fahren, er muß wenigstens noch vier Stiefbrüderchen bei sich haben.« — »Was für Stiefbrüderchen?«fragte die Herrin. —»Nun, kleine Schweinchen, so vom halben Jahr, oder auch noch größere.« Die Herrin lachte und ließ noch vier kleine Schweinchen als Stiefbrüderchen mitfahren. Der Wanderer dankte ihr und fuhr von dannen. Er war kaum vom Hofe, da kam der Herr nach Hause. Die Herrin erzählte ihm lachend, sie habe eben ein Schwein mit vier kleinen zu einem Bauern zur Hochzeit geschickt. Denn bei ihnen herrschte die Sitte, daß Schweine Trauzeugen sein könnten. Der Herr merkte sofort, daß der Fremde seine Frau betrogen hatte. Er ließ daher sein bestes Pferd satteln, um ihn zu verfolgen. Der Jüngling hatte inzwischen die Schweine in einen Wald gefahren und sie geschlachtet. Dann spannte er das Pferd aus und fuhr dem Herrn entgegen. Der Herr traf und fragte ihn: »Hast du nicht einen mit Schweinen fahren sehen?« —»Ja«, sagte der Jüngling. »Wenn du es wünschst, werde ich ihm nachsetzen. Aber gib mir dazu dein Roß! Denn mit meinem Klepper kann ich ihn nicht einholen. Und leih mir deinen Pelz! Denn mich friert.« Der Herr gab ihm alles. Er aber setzte sich auf das gute Roß, stob davon und kehrte nicht wieder. Der Herr wartete lange, aber umsonst. Dann kehrte er nach Hause zurück. Inzwischen war auch der jüngste Bruder heimgekehrt



Bd_02-299-Maerchen aus Littauen Flip arpa

und hatte viel Fleisch mitgebracht, und er erzählte seinen Brüdern, daß es noch dümmere Leute gäbe als ihre Mutter. Die beiden freuten sich über das Fleisch, und der jüngste sagte zu ihnen: »Ihr seht doch beide, wie gut es uns geht. Wir haben jetzt mehr Fleisch und wissen, daß unsre Mutter nicht die Dümmste auf der Welt ist. Daher haben wir kein Recht, sie totzuschlagen.«


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt