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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Von drei Königstöchtern, die zu Schwänen verwandelt wurden

Vor alten Zeiten lebte am Rande eines Waldes ein Waldwärter mit seiner Mutter. Dicht bei ihrer Hütte lag ein Teich; und es pflegten drei Schwäne ständig dorthin zu fliegen. Sobald sie ans Ufer kamen, legten sie sofort ihre Federn ab und wurden zu bildschönen Jungfrauen. Einmal kam der Waldwärter aus dem Walde und sah diese Jungfrauen, und die jüngste von ihnen gefiel ihm ganz besonders. Zu Hause erzählte er seiner Mutter davon und sagte, er möchte sich die jüngste zur Frau nehmen.

Die Mutter riet ihm, am Teichufer eine tiefe Grube zu graben, deren Oberfläche mit grünem Rasen zu bedecken und sich selber in die Grube zu setzen. Der Sohn tat das alles, grub sich eine Grube, setzte sich hinein und wartete, daß die Schwäne herbeiflögen. Die drei weißen Schwäne taten das auch und verwandelten sich in Jungfrauen. Die jüngste entfernte sich etwas von den andern, und als sie den Rasen betrat, fiel sie in die Grube. Der Waldwärter umarmte sie, ließ sie nicht los und sagte ihr, daß er sie heiraten wolle. Die Jungfrau sträubte sich nicht, bat ihn nur, daß er ihr Kleider bringe; denn sie war nackt. Der Waldwärter rief zu seiner Mutter, und diese brachte alsbald Kleider. Er zog sie ihr an und führte sie nach Hause. Ihre Federn aber band er in ein Tuch, legte sie in einen Schrank und schloß sie darin ein. Die Schrankschlüssel aber gab der Waldwärter seiner Mutter und wies diese an, sie niemals herauszugeben. Die Jungfrau erzählte, daß sie eine Königstochter sei, und die beiden andern Schwäne ihre Schwestern. Der Waldwärter hielt mit ihr Hochzeit, und sie lebten sehr glücklich.



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Die Königstochter besaß einen Ring. Den drehte sie herum, und alsbald stand an der Stelle der elenden Hütte der schönste Hof, und um ihn herum die schönsten Gärten. Nach einem Jahr wurde ihnen ein Sohn geboren. Der wuchs rasch heran. Als einmal der Waldwärter in den Wald gegangen war, bat die Frau ihre Schwiegermutter, sie möge ihr doch ihre Federn zeigen, denn sie spüre ein großes Verlangen danach und möchte sie sehen.

Die alte Frau dachte sich: »Sie hat ja schon einen Sohn und wird nicht wegfliegen. Sie gab ihr also die Federn. Die Königstochter nahm sie, verwandelte sich sogleich in einen Schwan, hob sich in die Lüfte und flog in das Reich ihres Vaters.

Als der Waldwärter nach Hause kam, fand er nichts mehr vor, weder seine Frau noch den Hof, noch auch die Gärten. Mit ihr zusammen war alles verschwunden. Da nahm er seinen Sohn und zog in die Welt, seine Gemahlin zu suchen. Er wanderte und wanderte und fand an einem Waldesrand ein totes Tier. Darum standen ein Löwe, ein Windhund, ein Greif und eine Ameise. Alle vier Tiere vermochten es nicht, dieses tote Tier unter sich zu teilen. Als sie nun den Waldwärter kommen sahen, baten sie ihn inständig, er möge es ihnen teilen. Er teilte der Ameise das Gehirn zu, dem Windhund Leber und Lunge, dem Löwen die Brust und dem Greifen den Rücken. Die Tiere freuten sich über diese Teilung sehr und versprachen ihm ihre Hilfe, wenn er sie mal brauchen werde. Da erzählte ihnen der Waldwärter, daß er nach seiner Gattin suche. Der Greif sagte ihm, sie befände sich sehr weit von hier hinter vielen Ländern und Meeren und lebte dort unter einem Glasberge. Sofort ließ der Löwe den Waldwärter sich auf seinen Rücken setzen, der Windhund lief voraus und suchte den Weg, und die Ameise hatte sich die ganze Zeit untern Schwanz des Löwen gehängt. Als sie über das Meer mußten, nahm der Greif sie alle auf seinen Rücken und flog mit ihnen hinüber.

So kamen sie in ein Königreich und fragten nach dem Glasberg, aber niemand hatte dort je davon gehört. Im zweiten Königreich erzählten die Leute, sie hätten wohl von einem solchen Berg gehört, wüßten aber nicht, wo er läge. Die Leute im dritten Königreich sagten, sie wüßten einen solchen Berg, aber er wäre so weit, daß weder sie noch ihre Kinder



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dahin kämen. Die Tiere aber trugen den Waldwärter abwechselnd weiter und weiter.

Am Ende erreichten sie auch den Berg, aber er war sehr glatt, und es war ganz unmöglich hinaufzukommen. Nur die Ameise fand beim Umherlaufen ein kleines Loch. Durch dieses Loch kroch sie in den Berg, um zu sehen, ob die Frau des Waldwärters dort wäre. Am Tor fand sie einen Hund mit neun Köpfen liegen, der aber sah die Ameise nicht. Sie lief nun mitten in den Berg, sah sich überall um, und als sie zurückkehrte, sagte sie allen Bescheid. Sogleich hieb der Greif mit seinem ehernen Schnabel ein größeres Loch in den Glasberg, und der Löwe riß es mit seinen Krallen so groß, daß sie alle hineinkriechen konnten. Der Löwe und der Windhund sprangen nun auf den neunköpfigen Hund los, zuallererst aber hackte der Greif ihm die Augen aus. Als sie den neunköpfigen Hund zerrissen hatten, gingen sie miteinander in den Hof des Schlosses. Dann schickte der Waldwärter die Ameise in dieses hinein, daß sie seine Frau herausriefe.

Die Ameise schlich hinein und fand das Gesinde des Königs beim Mittagsmahl. Sie kroch der Königstochter auf die Füße und bepißte sie. Diese lief hinaus, sah ihren Mann mit ihrem Sohne, verwunderte sich sehr und fragte, warum sie der neunköpfige Hund nicht zerrissen habe. Da führte sie der Waldwärter ans Tor und zeigte ihr den zerrissenen neunköpfigen Hund.

Die Königstochter kehrte zur Mitte des Berges zurück und sagte zu ihrem Vater: »Was würden wir mit meinem Manne tun, wenn er jetzt käme?«Da antwortete der König: »Wenn er so stark wäre, daß er hierherkommen könnte, würden wir ihn gerne aufnehmen. Aber er kann nicht hierherkommen; denn der neunköpfige Hund würde ihn sofort zerreißen.« Aber die Tochter wollte ihren Vater noch weiter auf die Probe stellen, wartete wieder ein Weilchen und fragte: »Lieber Vater, muß denn mein Mann wirklich getötet werden?«

Da antwortete der König wieder: »Wozu denn ihn töten? Wenn er käme, würden wir uns freuen, und du bliebest seine Gattin. Könnten wir nur auf irgendeine Art den neunköpfigen Hund erschlagen, der uns im Glasberge gefangenhält und dich und deine zwei Schwestern in Schwäne verwandelt hat!« Da öffnete die Königstochter die Tür und



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ließ ihren Mann mit seinem Sohn und den Tieren zusammen eintreten. Wie freuten sich alle, als sie erfuhren, daß der Neunköpfige tot wäre! Vor Freude tranken sie allerlei Getränke. Von da ab lebte der Waldwärter bei seinem Schwiegervater und blieb König.


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