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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Vom Leiden des Flachses

Es war einmal ein Bursche und ein Mädchen. Sie hießen Jonukas und Onute. Sie hatten sich beide so lieb, daß sie nicht ohne einander sein konnten. Aber nach einiger Zeit starb Jonukas, und Onute weinte und weinte. Und als sie ihm das letzte Geleit gegeben hatte, bat sie Gott, Jonukas möchte ihr wenigstens einst im Traum erscheinen.

Einmal erschien er ihr auch und sagte ihr im Traum: »Onute, morgen abend geh hinter die Scheune! Ich komme dann angeritten und nehme dich mit.« Am nächsten Abend machte sie sich fertig und ging hinaus, um auf ihn zu warten. Es dauerte nicht lange, da kam Jonukas angeritten: »Na, Onute, setz dich! Wir wollen fortreiten!« Onute gehorchte,



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setzte sich hinter ihn, und sie ritten fort. Sie ritten zu einem hohen Berg, und in dem Berg war ein Loch: »Onute, kriech in das Loch!« Onute erschrak sehr und zitterte: »Jonukas, du bist das hier gewöhnt, kriech du zuerst hinein!«

Als Jonukas hineingekrochen war, floh Onute. Jonukas setzte ihr nach. Onute flüchtete in eine Hütte. Dort schimmerte ein kleines Lichtchen. Mit Mühe war sie in den Vorraum gekommen und hatte die Tür verschlossen, ohne daß sie Jonukas erreicht hatte. Als sie in die Mitte des Zimmers kam, sah sie einen Toten auf einem Bette liegen, und eine alte Frau hielt die Totenwacht! »Mütterchen, hab Erbarmen«, schrie sie, »und verbirg mich!« Die Alte hieß sie hinter den Ofen kriechen. Dann setzte sie sich davor und schützte das Mädchen.

Jonukas aber stand am Fenster und rief: »Toter, gib die Lebende heraus!« Die Hände des Toten bewegten sich. Da schrie er wieder: »Toter, gib die Lebende heraus!« Die Beine des Toten bewegten sich. Schließlich rief er zum drittenmal: »Toter, gib die Lebende heraus!« Da richtete sich der Tote auf und kam herbei. Er ging zu der Alten und sagte: »Geh zur Seite, denn ich muß die Versteckte greifen und sie dem geben, der sie braucht.« Die Alte sagte: »Warte und dränge nicht so, höre zuerst des Flachses Qual! Dann kannst du ja . . .« —»Gut, Alte, aber erzähle schneller!« — »Hab ein wenig Geduld! Denn auch des Flachses Qual hört nicht auf einmal auf, sondern langsam quälen sie . . .« —»Ich sage, Alte, mach schneller!« — »Sofort, sofort! Also höre, wie sie den Flachs säten und ihn eggten, was erlitt er da für Qual! Wenn noch ein warmer Frühling kommt, geht es schneller, ist er aber kalt, so kriecht der Flachs mit der letzten Kraft aus der Erde, und kaum ist er aufgegangen, so bekommt er Stengel und Blätter, falls nicht eine Krankheit ihn erfassen sollte . . .« —»Alte, mach schneller!« —»Also, du Scheusal, sobald der Flachs aus der Erde hervorsieht, so hat es den Anschein, als könnte er wachsen. Sobald aber der Wind über ihn herfällt, schwankt er, biegt er sich und stößt die Köpfchen aneinander.« — »Schneller, Alte!« — »Wenn er also ein wenig gewachsen ist, findet sich allerlei Unkraut, und die Mädchen raufen den Flachs aus, treten und trampeln auf seinen Wurzeln herum und schleudern ihn nach allen Seiten.« — »Schneller, Alte!« —»Ist er dann mit Mühe und Not aufgewachsen, so



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wird er vom Winde umweht, von der Sonne bestrahlt und wird schließlich reif. Dann geht das ganze Gesinde des Bauern auf das Feld, rauft ihn aus der Erde, bindet ihn in Büschel und stellt ihn in Mandeln auf. Dann leidet er wieder viel, viel Qual, bis er ganz trocken wird, und wenn er trocken wird, fahren sie ihn nach Hause. Hier versammeln sich die Arbeiter, legen Bretter hin und schlagen, schlagen, schlagen das Gehirn heraus!« —»Schneller, Alte!« — »Ferner -sie fahren ihn auf das Feld und legen ihn auf den Wiesen auseinander. Dort peitscht ihn der Regen, quält ihn der Wind, und wenn er lange genug Qual geduldet, sammeln sie ihn auf der Wiese, heben ihn auf, binden ihn in Bündel und fahren ihn wieder in die Flachsstube. Dort legen sie ihn auf ein Stangengerüst und trocknen ihn, bis sogar alle seine Knöchlein zusammentrocknen. Dann versammeln sich wieder die Arbeiter und brechen die Knochen und brechen die Knochen. Darauf bleibt bei richtiger Bearbeitung allein nur noch die Haut zurück.« —»Schneller, Alte!« — »Nicht genug damit. Wenn sie ihn also nach Hause gefahren haben, dann schälen sie mit scharfen Brettern die Haut ab. Dann ziehen sie diese durch Drahtbürsten durch, so daß nicht ein Stückchen Körper gesund bleibt.« —»Schneller, Alte!« — »Dann drehen sie ihn wieder zu langen Fäden. Darauf spannen sie diese auf dem dazu verfertigten Webstuhl aus, die einen lang, die andern quer, schlagen sie dicht zusammen, schlagen sie dicht zusammen und machen ein Gewebe.« — »Schneller, Alte!« —»Nicht genug damit. Darauf breiten sie das Gewebe auf der Wiese aus, und es muß liegen bleiben, ob das Wetter so oder so ist. Es vermag kaum trocken zu werden, denn wieder gießen sie Wasser darauf und quälen es, wie sie können.« —»Schneller, Alte!« —»Oh, wenn das doch genug wäre! Dann nähen sie sich Kleider, tragen sie, bis sie zerreißen, und wenn sie zerrissen sind, verkaufen sie diese dem Juden. Der fährt sie in die Fabrik. Dort zermahlen sie die Knochen und Häute und machen Papier daraus. Darauf schreiben und schreiben die Schreiber allerlei Geschichten, und wenn sie es vollgeschrieben haben, zerreißen sie es und werfen es fort, und der Wind trägt es über alle Felder.« Da krähte der Hahn. Der Tote beschiß sich mit Teer, und Jonukas ging seines Wegs. Onute blieb leben, aber sie erschrak so, daß sie nach einigen Tagen starb.


Copyright: arpa, 2015.

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