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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Lügen geschichte

In einer Stadt bei einem Wirte blieben zwei reiche Barone und ein armer Adliger über Nacht. Sie hatten am Abend nichts zu tun und wollten Karten spielen. Aber im ganzen Hause gab es kein Kartenspiel. Da einigten sie sich folgendermaßen: »Wenn einer von uns dreien gut lügen kann und die andern ihn einen Lügner nennen, dann wird dieser gewinnen.« Nach kurzer Zeit setzten sich alle an den Tisch, ein jeder legte einen Haufen Geld vor sich hin, und sie fingen an zu lügen. Einer von den reichen Baronen sagte: »Bei uns wächst der Kohl so groß, daß unter einem Blatt ein ganzes Korps Soldaten stehen kann.« —»Das ist schon möglich«, sagte der andre Herr und der arme Adlige. Der andre Herr log weiter: »Bei uns wächst der Roggen derartig, daß drei Gespann Pferde kaum eine einzige Ähre fortfahren können.« — »Das stimmt«, entgegnete der arme Adlige. »Ich sah ja selbst, wie sich ein Roggenhalm vom Felde auf den Weg gelagert hatte. Er war so groß, daß ich nicht weiterfahren konnte. Ich mußte vom Wege abbiegen.« Nun kam die Reihe auch an den armen Adligen, daß er lügen sollte. »Als ich noch klein war«, hub er an, »pflegte ich zu Hause die Bienen zu hüten. Früh am Morgen trieb ich sie hinaus und am Abend wieder heimwärts. Immer zählte sie dann der Vater nach und sah, ob sie auch alle vollzählig waren. Einmal, als ich sie wieder heimwärts getrieben hatte, zählte der Vater die Bienen wieder nach, und zufällig fehlte eine. Da jagte er mich aus dem Hause, sie zu suchen. Ich streifte lange Zeit umher und konnte die Biene nicht finden. Schon wollte ich heimkehren, denn ich dachte, die Biene wäre nun auch schon nach Hause zurückgekehrt. Sieh! da hörte ich in einem Tale ein lautes Geschrei. Ich fliege einen Hügel hinauf und blicke mich um -fünf Wölfe zerreißen meine Biene. Ich laufe eiligst hinzu und verscheuche die Wölfe. Aber es ist schon zu spät. Meine Biene lebt nicht mehr. Was sollte ich jetzt tun? Ich fürchtete mich heimzukehren. Denn als mich mein Vater hinausjagte,



Bd_02-279-Maerchen aus Littauen Flip arpa

die Biene zu suchen, hatte er mir angedroht: >Wenn du die Biene nicht findest, komm nicht nach Hause, sonst geht es dir schlecht!< Wohin sollte ich mich begeben? Ich hatte eine kleine Axt bei mir. Mit ihrer Hilfe baute ich mir einen kleinen Kahn und setzte mich hinein. Dann schwamm ich durch einen See und wußte selbst nicht, wohin. Ich fuhr nach dem andern Teil des Sees hinüber, da sah ich -meine kleine Axt war aus dem Kahn gefallen. Denn der Kahn hatte an dem einen Ende ein Loch, und an dem andern war er leck. Da konnte sie leicht herausfallen. Ich brannte sofort den See an. Und als er ausgebrannt war, fand ich in der Asche den Axtstiel. Die Axt selbst fand ich nicht mehr. Aus dem Axtstiel machte ich mir eine Leiter und stieg mit ihr nach dem Himmel hinauf. Dort ging ich spazieren und fand zwei prächtige Hüte, die wer weiß wer verloren hatte. Sie paßten mir so gut, daß ich es nicht lassen konnte, sie mit mir zu nehmen. Ich wollte nunmehr zur Erde herabklettern, da sah ich - meine Leiter war nicht mehr da. Von den Hirten, die ihre Herden auf die Weiden trieben, war sie eingerissen worden. Doch fand ich dort ein Fäßchen. Ich setzte mich darauf und ließ mich ganz langsam zur Erde hinabrollen.« Nach diesen Worten schwieg der verarmte Adlige.

Da erinnerten sich die reichen Barone, daß er aus dem Himmel zwei prächtige Hüte mitgebracht hätte, und sie fragten ihn, wo er sie hingelegt hätte. Da gab ihnen der arme Adlige folgende Antwort: »Als ich vom Himmel zur Erde hinabrollte, fand ich deine Eltern, wie sie am Rande eines Gebüsches die Schweine hüteten. Beide standen ohne Hüte ganz zusammengekauert unter einer Tanne. Denn es war sehr kalt, und es regnete heftig. Ich hatte solches Mitleid mit ihnen, daß ich ihnen sofort die Hüte gab.« Als die beiden reichen Barone diese Worte hörten, riefen sie aus: »Geh weg, du Lügner! Wir haben niemals Schweine gehütet, noch taten das unsere Eltern.« Der arme Adlige sagte kein Wort mehr dazu, er häufte das Geld der reichen Barone zusammen und steckte es in seine Tasche.


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