Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Hundert Hasen

Vor langen Zeiten lebte einmal ein König, der hatte nur eine einzige Tochter. Die wollte er nur dem zur Frau geben, der drei schwere Arbeiten verrichten würde, wäre er auch der elendste Bettler. Viele versuchten's, keiner konnte es ausführen.

Unweit wohnte ein armer Mann, der drei Söhne hatte. Der älteste und klügste sagte: »Ich werde gehen und die Prinzessin gewinnen.«

Auf dem Wege traf er einen alten Bettler, dem sagte er nicht einmal Guten Morgen! Der Bettler fragte ihn: »Wo willst du hin, mein Sohn?« —»Was kümmert's dich!«brummelte der Bursche im Weitergehen. Der Alte sagte: »Dein Gang wird umsonst sein«, und ging davon. So geschah es auch. Der älteste und klügste kehrte unverrichteter Sache wieder heim.

Da sagte der zweite kluge Sohn, er wolle nun gehen und die Tochter des Königs gewinnen. Aber ihm ging es wie dem ersten. Da sagte der dritte Sohn, den sie den Dummen nannten: »Nun werde auch ich gehen, vielleicht gelingt es mir.«

»Dein Weg wird vergeblich sein«, sagte der Vater, »wo es nicht einmal den Klugen gelungen ist.«

Aber der jüngste Sohn kümmerte sich nicht darum und ging zum König. Auf dem Wege traf er den alten Bettler -das war der liebe Gott selber, der durch die Welt ging, die Werke der Menschen zu prüfen -, vor dem nahm er, wie es sich gehört, die Mütze ab und wünschte ihm einen guten Morgen. Der Alte bedankte sich und fragte, wohin er gehe. Der jüngste erzählte ihm alles und verschwieg nichts. Da gab ihm der Bettler ein Pfeifchen und sagte: »Heute wirst du hundert Hasen zu hüten bekommen, dann pfeife nur zu, so werden sie gehorchen.« So geschah



Bd_02-258-Maerchen aus Littauen Flip arpa

es auch. Als er zum König kam, war sein erstes Wort: »Wo ist deine Tochter? Ich will sie sehen, ob sie mir auch gefällt.« Als er sie erblickte, sagte er: »Sie gefällt mir, ihretwegen will ich die drei Arbeiten verrichten.

Der König gab ihm für den Tag auf, hundert Hasen zu hüten. Als man sie aufs Feld hinaustrug und losließ, liefen sie nach allen Seiten auseinander, es war auch kein Bein zu sehen. Der dumme Sohn ließ sie erst tun, was sie wollten, aber als alle fort waren, versuchte er, ob sie auch gehorchen würden. Er pfiff, und die Hasen waren wie der Blitz da; er zählte sie und vermißte nicht einen.

»Dann lauft wieder und freßt! Wenn's nötig ist, werde ich pfeifen!« sagte er zu den Hasen.

Ich weiß nicht, wer es gesehen hat und es dem Könige hinterbrachte. Der bekam Angst und sandte seine Frau, daß sie sich einen Hasen erbitte und erbettele'. Sie verkleidete sich als altes Weib, kam zu dem Jungen geschlichen und fragte, ob er ihr nicht einen einzigen Hasen geben wolle, sie brauche ihn nötig.

Er antwortete: »Weder verkaufen noch verschenken kann ich einen, sie gehören nicht mir.« Die Königin aber bettelte und bettelte: »Einen könntest du mir doch geben.«

Der Dumme hatte wohl gemerkt, wer sie war, und sagte endlich, er werde ihr einen Hasen geben, wenn sie ihn kräftig küssen werde. Sie sträubte sich und sträubte sich, aber als sie sah, daß sie anders nicht zu einem Hasen kam, küßte sie ihn. Den Hasen stopfte sie in den Kober und ging fröhlich davon, weil sie den Dummen betrogen glaubte. Der wartete, bis sie schon ganz nahe am Hause war, zog seine Pfeife und pfiff los, da sprang der Hase -bauz! — gegen den Deckel -hops! — aus dem Kober -heidi! zu seinem Herrn. Die Königin blieb mit offenem Munde stehen. Der Hase war weg.

Am Abend jagte der Dumme seine hundert Hasen heim und übergab sie dem König. Der bestellte ihn für morgen aufs Schloß. Auf dem Wege kam wieder der alte Bettler, gab ihm ein Trompetchen, um Pferde zusammenzutrompeten. Diesen Tag gab ihm der König auf, hundert Pferde zu hüten und abends in den Stall zu bringen. Als man sie auf dem Felde losließ, liefen die Pferde nach allen Seiten auseinander; niemand



Bd_02-259-Maerchen aus Littauen Flip arpa

hätte vermocht, sie wieder zusammenzutreiben. Der Dumme aber versuchte seine Trompete, und alle kamen gelaufen. Nun wollte der König wieder seine Frau schicken, ein Pferd zu erbetteln; die wollte aber nicht und sagte, sie fürchte sich vor Pferden, er möge lieber selber gehen. Da verkleidete sich der König, damit man ihn nicht erkenne, ritt zu dem Burschen aufs Feld und fragte ihn, ob er nicht ein Pferd verkaufen wolle.

»Verkaufen kann ich keins«, antwortete der.

»Aber vielleicht borgen?«

»Auch borgen nicht.«

»Vielleicht schenken?«

»Vielleicht schenken, aber nur, wenn du deinem Esel den Schwanz aufhebst und ihm einen Kuß darunter gibst.«

Der König verzog den Mund, aber es half nichts, er mußte den Esel unterm Schwanz küssen, sonst hätte er kein Pferd bekommen. Als er es aber getan hatte, setzte er sich froh auf das Pferd, ritt heim und verschloß es im Stalle. >Heute habe ich ihn sicher betrogen<, dachte er, >ein Pferd wird ihm am Abend fehlen.<

Der jüngste Sohn aber wußte nicht, daß der König schon längst zu Hause war, und trompetete, als das Pferd schon ein Weilchen im Stalle stand. Als es das Trompeten hörte und gegen die Tür sprang, ging die Tür mit einem Rucke auf, und der König, der auf das Gepolter ans Fenster lief, sah nur noch das Schweifende wehen. Am Abend jagte der Bursche alle Pferde heim und trieb sie in den Stall.

Am dritten Tage befahl der König, einen Sack ganz voll zu lügen, bis er sage: >Bindet zu!< Der Bursche steckte den Mund in den Sack, log und schwindelte, was er konnte, immer blieb der Sack leer; die Lügen hatten nicht einmal den Wert der Spreu. Da dachte er, den Sack mit der Wahrheit zu füllen, und fing an zu erzählen, wie er Hasen gehütet habe, da wäre die Königin zum Kaufen gekommen, er habe aber keinen gegeben, bevor sie ihn nicht selbst geküßt hätte. Dem König kam großes Lachen an, und er freute sich über den Schaden seiner Frau. Der Bursche erzählte weiter, wie es ihm ergangen war, als er die Pferde gehütet habe. Da sei der König selbst nach einem Pferd gekommen, er habe ihm aber keins gegeben, bevor er nicht den Esel . .



Bd_02-260-Maerchen aus Littauen Flip arpa

»Bindet den Sack nur zu, er ist schon voll!«schrie da der König, bevor er ausgeredet hatte. So gewann der jüngste Sohn die Prinzessin so leicht wie eine Mütze.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt