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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Der alte Vater Frost und sein junger Sohn

Der alte Vater Frost hatte einen Sohn, den Jungfrost. Dieses Söhnchen war ein solcher Prahlhans, daß man's einfach nicht beschreiben kann, auch wenn man es möchte. Wer ihm so zuhörte, der mußte glauben, es gebe auf der Welt keinen Klügeren und Stärkeren als ihn. Und eines Tags kam diesem Söhnchen, dem Jungfrost, ein Gedanke:

»Mein Vater ist schon alt. Er macht seine Sache schlecht. Ich bin jung und stark und kann die Menschen viel besser erfrieren lassen. Vor mir rettet sich keiner. Und niemand kann's mit mir aufnehmen, ich kriege sie alle unter!<

So machte sich der Jungfrost auf und suchte sich ein Opfer. Und wie er so auf dem Weg herumflog, sah er einen Schlitten daherkommen, mit einem wohlgenährten Roß davor und einem reichen Pan darin. Der war wohlbeleibt, trug einen guten warmen Pelz, und seine Füße waren in eine Decke eingehüllt.

Der Jungfrost sieht den Pan an und lacht sich eins.

>Oho<, denkt er, >ob du dich einmummelst oder nicht, vor mir gibt's sowieso keine Rettung. Der Alte, mein Vater, hätte dich vielleicht nicht gepackt, aber ich nehme dich so in Arbeit, daß dir der Atem vergeht! Kein Pelz und keine Decke helfen dir!<

Der Jungfrost flog den Pan an und begann ihm zuzusetzen: unter die Decke kroch er, drang in die Ärmel, schob sich hinter den Kragen, zwickte ihn an der Nase. Der Pan befahl seinem Diener, schneller zu fahren. »Sonst erfriere ich ja!« schrie er.



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Der Jungfrost rückte dem Pan noch mehr zu Leibe, zwackte ihn noch schmerzhafter an der Nase, ließ Finger und Zehen erstarren, sperrte ihm den Atem.

Der Pan versuchte es auf jede Art: rollte sich wie ein Igel zusammen, zog Arme und Beine an den Leib und schubberte hin und her auf seinem Platz.

»Hau zu«, schrie er, »fahr schneller!«

Dann hörte er auf zu schreien, er hatte die Stimme verloren.

So gelangte der Pan zu seinem Haus. Halbtot wurde er aus dem Wagen getragen.

Drauf flog der Jungfrost zu seinem Vater, dem alten Frost, und prahlte, was das Zeug hielt:

»Was ich für einer bin! Was ich für einer bin! Wie kannst du, alter Vater, dich mit mir messen! Sieh nur mal an, was für einen Pan ich zum Erfrieren blies! Schau nur, unter welch warmen Pelz ich schlüpfte. Du wagst dich nicht unter einen solchen Pelz! Du kannst nicht einen solchen Pan zum Erfrieren bringen!«

Da lächelte der alte Frost und sprach:

»Na, du bist doch ein Aufschneider! Noch ist's zu früh, dich deiner Kräfte und deiner Verwegenheit zu rühmen. Na schön, du hast einen dicken Pan fast erfrieren lassen, hast ihm unter dem Pelz geblasen, das stimmt schon. Aber ist das denn wirklich so eine große Sache? Sieh mal hin, dort fährt ein abgehärmtes Bäuerlein in einem zerlöcherten, abgeschaften Pelz. Und den Karren zieht eine Schindmähre. Siehst du?«

»Ich sehe!«

»Das Bäuerlein fährt in den Wald Holz hacken. Versuche doch mal, ihn erfrieren zu lassen. Wenn du das fertigbringst, glaube ich dir, daß du tatsächlich ein starker Kerl bist!«

»Na, das ist doch eine Kleinigkeit«, antwortete der Jungfrost. »Den mache ich im Nu zu einem Eiszapfen!«

Gleich wirbelte der Jungfrost hoch und flog dem Bauer nach, holte ihn ein, warf sich mit aller Eiseskälte auf ihn und blies bald von der einen, bald von der andern Seite an. Aber der Bauer fuhr unverdrossen weiter. Der Jungfrost zwickte ihn in die Beine. Da sprang der Mann von der Fuhre und lief neben dem Pferdchen her.



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>Nanu<, denkt der Frost. >Wart mal! Im Wald mache ich dich schon zu Eis.<

Der Bauer kam in den Wald, holte sein Beil hervor und begann Tannen und Birken abzuschlagen, daß die Späne nur so nach allen Seiten flogen.

Aber der Jungf rost ließ ihm keine Ruhe. Er packte ihn an den Händen, an den Füßen, schlüpfte unter seinen Kragen

Und je mehr der Frost sich mühte, um so kräftiger schwang der Bauer sein Beil, um so stärker hieb er auf die Bäume ein. Dabei geriet er so in Hitze, daß er sogar die Fäustlinge abstreifte.

Lange versuchte es der Jungfrost mit dem Bauern, bis er schließlich müde war.

>Na schön<, denkt er, >sowieso mache ich dich kalt. Ich packe dich bis auf die Knochen, wenn du nach Haus fährst.<

Er lief zum Karren, wo die Fäustlinge lagen, und kroch hinein. Da saß er nun und lachte sich ins Fäustchen.

>Will doch mal sehen, wie der Bauer seine Fäustlinge anzieht. Sie sind steinhart, keinen Finger kann man hineinstecken!<

Der Jungfrost saß also in des Bauern Fäustlingen, der aber fuhr emsig fort, das Beil zu schwingen.

Und er arbeitete so lange, bis die Fuhre bis oben hin mit Holz beladen war.

»So«, sagte er, »jetzt kann ich nach Hause fahren.«

Der Bauer nahm seine Fäustlinge, wollte sie anziehen, aber sie waren wie aus Eisen.

>Na, was wirst du jetzt machen?< spottete der Jungfrost im stillen.

Der Bauer aber, als er sah, daß die Fäustlinge steinhart waren, nahm kurzerhand sein Beil und schlug auf sie ein.

Der Bauer hieb mit dem Beilrücken auf die Fäustlinge, bum, bum, der

Frost darin aber wimmerte: »O weh, o weh!«

Und so stark verbläute der Bauer den Frost, daß der sich mehr tot als lebendig davonschlich.

Der Bauer fuhr heim, den Karren voller Holz, und trieb sein Pferdchen an.

Der Jungfrost aber humpelte stöhnend zu seinem Vater.



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Als der alte Frost ihn sah, fragte er grinsend:

»Warum kannst du dich denn kaum auf den Füßen halten, Söhnchen ehen?«

»Hab' mich zu Tode gequält, bis ich den Bauer zum Frieren brachte.«

»Aber warum denn, Jungfrost, mein Söhnchen, stöhnst du so kläglich?«

»Der Bauer hat mir die Hüften durchgewalkt.«

»Das wird dir, Jungfrost, ein Denkzettel sein. Mit den Pans, den Müßiggängern, kann man leicht fertig werden, aber der Bauer ist nie und nimmer unterzukriegen. Merk dir das!«


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