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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Das silberne, goldene und diamantene Roß

In uralten Zeiten hatte ein Mann drei Söhne, zwei von ihnen waren klug, der dritte dumm. Die klugen gingen täglich auf die Jagd, aber der Dumme lag zu Hause auf dem Ofen, wo ihn die Katze fütterte.

Und jedesmal, wenn die Klugen Jagdbeute heimbrachten, stibitzte sie die Katze und brachte sie dem Dummen auf den Ofen. Eines Tages aber gerieten die Brüder in Zorn und schlugen die Katze tot. Jetzt hätte der Dumme Hungers sterben müssen, hätte ihm der Vater nicht täglich ein Stückchen Brot hingeworfen. Aber auch dieses Glück genoß er nicht lange - der Vater starb.

Sterbend hatte er seinen Söhnen eingeschärft, daß ein jeder eine Nacht an seinem Grabe Wache halten sollte. Aber dem ältesten Bruder behagte es nicht zu wachen, er gab dem Dummen ein Stück Brot und schickte ihn hin. Der Dumme ging zum Grabe, setzte sich hin und fing an zu weinen. Da tat sich das Grab auf, der Vater kam heraus, tröstete seinen Dummen, schenkte ihm einen silbernen Apfel und sprach:

»Mein Sohn, wenn du einmal einen Wunsch hast, so schwenke diesen Apfel und sprich: >Ich brauche das und das!<Dann wirst du es sogleich bekommen, und zwar wird es aus reinem, feinem Silber sein. Aber ich bitte dich, zeig den Apfel nicht deinen Brüdern.«Danach ging der Vater wieder in sein Grab, das Grab schloß sich, und der Dumme kehrte nach Hause zurück und legte sich wieder auf den Ofen schlafen. In der nächsten



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Nacht schickten die klugen Brüder wieder den Dummen, um das Grab des Vaters zu bewachen, und gaben ihm ein noch kleines Stück Brot mit. Diesmal bekam der Dumme vom Vater einen goldenen Apfel. In der dritten Nacht gaben ihm die klugen Brüder überhaupt kein Brot mit, und der Dumme bekam einen diamantenen Apfel. Danach begab sich der Vater in sein Grab, und der Dumme eilte nach Hause, legte sich auf den Ofen und schnarchte, daß die Fensterscheiben klirrten und der Kalk von der Decke fiel.

Nach einiger Zeit ließ der König des Landes für seine schöne Tochter einen hohen Glasberg errichten. Als der Berg fertig war, setzte er seine Tochter auf die Spitze des Berges und ließ bekanntmachen, er wolle sie dem zur Frau geben, der dreimal zu ihr hinaufritte.

Nun versuchten diese und jene den Ritt; auch die Brüder des Dummen sattelten ihre Braunen. Als der Dumme das sah, wollte er mit ihnen hin, aber die Brüder schrien ihn an: »Was will solch ein Dummkopf dort machen? Geh lieber aufs Feld und lies Steine.« Er ging hin und las und las - bis die Klugen fort waren. Dann schwenkte er seinen silbernen Apfel und wünschte sich einen silbernen Anzug und ein Silberroß. Im Nu war alles zur Hand. Nun legte er sich die silberne Kleidung an und ritt los. Aber während er auf dem Silberroß ritt, ging Sonnenlicht vor ihm her und Nebel war hinter ihm. Als er seine Brüder einholte, zog er einem jeden von ihnen mit seiner silbernen Reitpeitsche einen tüchtigen Hieb über den Rücken, und dann galoppierte er auf den Berg zu. Um den Berg hatten sich unzählige Reiter eingefunden und bemühten sich, hinaufzukommen; einige von ihnen kamen zwar bis zur Hälfte, dann aber kollerten sie mitsamt ihren Pferden Hals über Kopf hinunter. Da auf einmal erstrahlte heller Sonnenglanz, und der Sonne folgte ein Silberroß mit einem silbernen Reiter, und dem Reiter folgte Nebel, der denen, die ihm nachschauen wollten, allen Glanz und alle Herrlichkeit verhüllte. Und der Dumme ritt wie der Blitz auf den Berg, küßte die Königstochter und ritt ebenso wieder zurück. Alle rissen vor Erstaunen den Mund so weit auf wie das Rigaer Stadttor, aber merkten nicht, konnten nicht klug daraus werden, was eigentlich geschehen war. Heimgekehrt, schwenkte der Dumme wieder den silbernen Apfel, und alsbald war das Silberroß und das silberne Gewand verschwunden, und



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er selbst ging wieder aufs Feld, Steine zu lesen. Als die klugen Brüder heimgeritten kamen, fragte sie der Dumme, sie möchten ihm auch etwas erzählen, wie sie dort geritten wären; aber sie antworteten: »Ein solcher Dummkopf wie du braucht das nicht zu wissen.« Der Dumme sprach: »Wie, meint ihr etwa, ich wisse nichts? Ich bin auf das Dach der Badstube gestiegen und habe alles gesehen. Ich sah einen silbernen Reiter, ich sah, wie er jedem von euch mit einer silbernen Reitgerte eins auf die Schultern brannte -, alles habe ich gesehen.«

Die Klugen gerieten darüber in argen Zorn und rissen die Badstube bis auf den Grund nieder.

(Am folgenden Tage wiederholte sich dasselbe mit dem Goldroß, und diesmal sagte der Dumme, er habe alles vom Dach des Viehstalls gesehen. Da rissen die Brüder den Viehstall nieder. Als der Dumme dann am dritten Tage mit seinem Diamantroß hinaufritt, drückte ihm die Königstochter ein Siegel auf die Stirn. Heimgekehrt, gaben die Klugen ihm gar kein Abendessen, so wütend waren sie.) Als dann mit Tagesanbruch die klugen Brüder sich noch reckten und gähnten und die blauen Striemen auf ihrem Rücken betasteten, die ihnen der glänzende Reiter auf gebrannt hatte, fuhr der König mit seiner Tochter bei der Tür vor und fragte die klugen Brüder, ob hier nicht jemand wohne, der mit dem Siegel des Königs bezeichnet sei. Nein, einen solchen gebe es nicht. — Nun, ob denn außer ihnen niemand dort wohne?

o ja, da wohne wohl noch so ein Halbnarr, aber der sei mit dem ersten Tageslicht aufs Feld gegangen, um Steine zu lesen. — Sie sollten ihn heimrufen! —Sie rufen ihn, und siehe da! er hat das Siegel auf der Stirn, und nun führte der König den Dummen aufs Schloß und richtete die Hochzeit aus.

Aber nach der Hochzeit lag der Dumme bloß in seiner Stube und war auf keine Weise herauszubringen, tu, was du willst! Und ein mächtiger König aus der Nachbarschaft, der beim Ritt auf den Glasberg alle seine Pferde zuschanden geritten und sich selbst beim Fallen die Nase gebrochen hatte, fing mit dem Schwiegervater des Dummen einen Krieg an und hatte schon in kurzer Zeit den dritten Teil seines Reiches erobert. Infolge dieser Not war der König ganz verzweifelt und spornte alle seine Untertanen an, sich zu halten und nicht nachzulassen. Da kam



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auch die Frau des Dummen in sein Zimmer gelaufen, er solle doch dem Vater zu Hilfe kommen. Der aber antwortete gähnend: »Was soll ich Dummkopf da machen?«

Mit diesen Worten legte er sich brummend wieder schlafen. Aber kaum war seine Frau aus dem Zimmer, da stieg er aus dem Bett, hob den Grundbalken des Schlosses auf, schlüpfte ungesehen in den Garten, schwenkte den silbernen Apfel und wünschte sich: »Hätte ich doch ein Silberroß, silberne Rüstung und ein silbernes Schwert!«

Im Augenblick war alles zur Stelle. Nun bestieg er das Silberroß und sprengte, vor sich die Sonne, hinter sich den Nebel, daß es nur so stäubte, zum Schlachtfeld, hieb dem feindlichen Könige den Kopf ab und zerstreute alle Gegner wie Spreu. Dann ritt er nach Hause, schwenkte den silbernen Apfel, damit Roß und Rüstung verschwänden, hob den Grundbalken auf und kroch wieder in sein Zimmer, um zu schlafen.

Bald trat seine Frau voller Freude ins Zimmer und erzählte, ihr Vater habe gesiegt, ein silberner Reiter habe ihm geholfen. Jener aber knurrte: »Was geht das mich an?« und schlief weiter. Jetzt überfielen aber den alten König zwei noch ergrimmtere Könige, das waren Freunde des erschlagenen Königs, und eroberten schon die Hälfte des Reiches. Diese bekämpfte der Dumme ebenso ganz allein, auf seinem Goldroß reitend. Zum drittenmal fielen drei Könige in das Reich des Schwiegervaters. Sie bekämpfte der Dumme, auf seinem Diamantroß reitend. Diesmal jedoch wurde er etwas am Fuße verwundet. Der Schwiegervater verband, ohne seinen Schwiegersohn zu erkennen, den verwundeten Fuß mit seinem Schnupftuch, der Dumme aber ritt wie der Blitz davon und schwenkte im Garten den diamantenen Apfel, worauf das Pferd verschwand; er selbst aber konnte, da er lahmte, den Grundbalken nicht mehr aufheben, sondern mußte sich daselbst im Garten im Gebüsch schlafen legen. Aber der Schwiegervater fand ihn am nächsten Tage, als er im Garten herumging, und war unendlich froh, daß er einen so mächtigen Schwiegersohn hatte, der ganz allein sechs Königreiche erobert hatte.

Dann veranstaltete der alte König ein großes Gelage und machte auf dem Gelage bekannt, daß er sein Reich seinem mächtigen Schwiegersohn



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abtreten werde, die sechs neuen Reiche aber, die sein Schwiegersohn erobert hatte, wolle er seinen drei Söhnen geben, jedem zwei. Aber die Söhne, große Starrköpfe, waren damit nicht zufrieden: lieber solle einer alle sechs Reiche haben und das des Vaters noch obendrein, und die anderen sollten gar nichts haben; man solle losen: wer gewinne, der gewinne.

»Gut«, sagte der Vater, »so will ich auf meine Art losen lassen: ich habe einen Schafbock, einen Stier und eine Stute; die will ich loslassen, und wer sie fängt, dem sollen die Reiche gehören.«

Am ersten Tage also ließ er den wilden Schafbock los. Die Königssöhne durften sich in seiner Nähe nicht sehen lassen, er hätte sie zu Tode getrampelt. Aber der Dumme ging gegen Abend zum Schafbock, packte ihn an den Hörnern und zog ihn ohne Mühe nach Hause. Da kam der älteste Königssohn voller Wut herausgelaufen: »Was will ein Dummkopf wie du mit dem Schafbock machen? Gib ihn lieber mir.« —»Gern, wenn du mir den kleinen Finger deiner rechten Hand gibst, so will ich dir den Schafbock geben.«Jener schnitt sich den Finger ab und gab ihn dem Dummen, der Dumme aber gab ihm den Schafbock.

Am nächsten Tage ließ der König den bösen Stier hinaus. Die Königssöhne durften dem Stier nicht zu nahe kommen, er hätte sie mit seinen langen Hörnern aufgespießt. Aber gegen Abend schwenkte der Dumme seinen goldenen Apfel und wünschte sich einen goldenen Strick; den warf er dem bösen Stier um den Hals und führte ihn wie einen Ziegenbock heim. Da kam der zweite Königssohn herausgelaufen: »Wo willst du Dummer mit einem so großen Stier hin? Gib ihn lieber mir!« —»Gern, gibst du mir den Daumen deiner rechten Hand, so gebe ich dir den Stier.«

Jener schnitt sich den Daumen ab und gab ihn dem Dummen, der Dumme aber gab ihm den Stier.

Am dritten Tage ließ der König die schreckliche Stute los. Die zerriß jeden Menschen mit ihren Zähnen. Die Königssöhne durften sich nicht in ihrer Nähe sehen lassen, sie feuerte und biß wie toll um sich. Aber am Abend schwenkte der Dumme seinen diamantenen Apfel und wünschte sich einen diamantenen Hengst: der Hengst erschien und bändigte die Stute so lange, bis der Dumme ihr den Zaum auflegte.



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Dann ritt er nach Hause und begegnete dem jüngsten Königssohn; der sagte: »Wo willst du Dummer mit der schrecklichen Stute hin, gib sie mir!« — »Gern, wenn du dir einen Streifen Haut aus dem Rücken schneiden läßt.«Jener ließ sich einen Streifen Haut aus dem Rücken schneiden und gab ihn dem Dummen, der Dumme aber überließ ihm die Stute.

Am vierten Tage rief der König alle seine Söhne und seinen Schwiegersohn zusammen und fragte, wie es ihnen gegangen sei.

Die Söhne zeigten ihm, der eine den Schafbock, der zweite den Stier, der dritte die Stute, die sie eingefangen hätten, ihnen zusammen gehöre das Reich. Aber der Dumme legte dem König den kleinen Finger des ältesten Sohnes, den Daumen des mittleren, den Streifen aus dem Rücken des jüngsten vor und berichtete ihm wahrheitsgemäß, daß seine Söhne keine Heuschrecke gefangen hätten, sondern der eine hätte den Schafbock gegen seinen kleinen Finger, der zweite den Stier gegen seinen Daumen, der dritte die Stute gegen einen Streifen aus seinem Rücken eingetauscht. Darauf übergab der König alle Reiche dem Dummen, seinen Söhnen aber nichts, und von nun an herrschte der Dumme sehr klug - er war kein Dummkopf mehr.



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MÄRCHEN AUS LITAUEN


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