Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Abenteuer eines Königssohnes

Ein Königssohn fuhr einst über See und verirrte sich. Die Stürme trieben sein Schiff bald hierhin, bald dahin, nirgend jedoch war eine Küste zu erblicken. Darüber vergingen Monate. Da, an einem heiteren Tage, schaut der Königssohn auf und gewahrt in der Ferne etwas wie eine Insel. Voller Freude gibt er sogleich den Befehl, das Schiff nach jener Richtung zu steuern. Aber welch ein Wunder! Je mehr er sich der Insel nähert, um so deutlicher vernimmt er ein wunderbares Getöne. Er fährt dicht an die Insel heran: das wunderbare Getöne verstummt, und an der Insel anzulegen scheint unmöglich, denn sie ist ringsum von hohen, hohen Mauern umgeben.

Nichts zu machen, er fährt weiter. Er fährt und fährt, aber -ein neues Ungemach -die Schiffer sind jetzt so verwirrt, daß sie weder von der Insel loskommen, noch auch das Schiff in die alte Fahrrichtung lenken können. So irren sie lange Zeit, bis sie sich endlich mit Mühe und Not doch ein Stück an der Insel vorbeischleppen. Aber jenseits der Insel begibt sich ein neues Wunder: eine hohe Brücke, höher als die Mauern selbst, erstreckt sich von dieser Insel bis zu einer zweiten, entfernteren. So wie die Schiffer die Brücke gewahren, fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: jetzt wissen sie, was sie tun; sie wissen auch, wohin sie wohl fahren als einfach an der Brücke entlang bis zur zweiten Insel. Sie fahren also hin: die Brücke endet vor einem schönen Schlosse. Der



Bd_02-231-Maerchen aus Lettland Flip arpa

Königssohn befiehlt allen, das Schiff zu verlassen und sich ins Schloß zu begeben. Aber kaum berühren ihre Füße die Schwelle des Schlosses, da läßt sich von der ersten Insel her dasselbe wunderbare Getöne vernehmen. Der Königssohn stellt einen Teil seiner Leute an den äußeren Eingang, den anderen an die innere Tür und betritt selbst das Schloß. Er tritt in ein Zimmer, das ist leer; er tritt in ein zweites, das ist voll mit Schafen, und in der Mitte ist ein großes Schaf; er tritt in ein drittes; fast das ganze Zimmer ist von einem einzigen Fisch ausgefüllt: der Schwanz ist an der einen Seite der Tür, der Kopf an der anderen Seite, der Leib erstreckt sich durch das ganze Zimmer, und Augen hat er so groß wie ein Sieb. Der Königssohn zieht hurtig sein Schwert und bohrt dem Fisch die Augen aus. Der Fisch verwandelt sich augenblicklich in einen gewaltigen eisernen Riesen, der tastet nach dem Königssohn, um ihn zu ergreifen; aber der Königssohn schlüpft unter die Schafe. Das große Schaf begegnet dem Flüchtenden freundlich und flüstert ihm zu: »Versteck dich unter meinem Bauch, dann wird der eiserne Riese dich nicht ergreifen können. Wir alle waren einmal Menschen, aber dort auf der anderen Insel sind wir zu Schafen geworden.«Da der Riese so den Königssohn nicht fassen kann, bricht er in die Tür ein so großes Loch, daß nur ein Schaf hindurchschlüpfen kann, und läßt danach ein Schaf nach dem andern ins Freie. Zuletzt kommt auch das große Schaf an die Reihe; das kann nicht hinaus, die öffnung ist zu klein. Der Riese bricht ein doppelt so großes Loch heraus und läßt dann das Schaf ins Freie, ohne zu ahnen, daß der Königssohn unter dem Bauch des Schafes sitzt.

Sobald der Königssohn ins Freie gelangt war, eilte er mit seinen Leuten auf das Schiff und machte sich davon. Der Riese durchtastete das Zimmer der Schafe: da war nichts zu finden. Er tastete nochmals sein Zimmer ab: da war auch nichts; er betastete den Vorraum: wieder nichts; er eilt hinaus, da hört er jene auf dem Schiffe lärmen. In seiner Wut ergreift er Steine und schleudert sie auf gut Glück nach dem Schiffe hin. Jeder Stein, der auf das Schiff fällt, wird zu einem Gold klumpen, aber wer von den Leuten das Gold in die Hände nehmen will, der wird stumm.

Sie fahren also immer an der Brücke entlang bis an die ummauerte Insel.



Bd_02-232-Maerchen aus Lettland Flip arpa

Kaum sind sie dort, so verstummt das wunderbare Getöne. »Zum Henker!«ruft der Königssohn. »Einer soll die hohe Mauer ersteigen und nachsehen, was das für ein wunderbares Getöne ist.«

Mit großer Mühe klettert einer auch hinauf, aber kaum ist er oben, da klatscht er entzückt in die Hände, stößt einen hellen Jubelruf aus und springt auf der anderen Seite hinab. Da schickt er einen anderen, aber der klatscht ebenso in die Hände, stößt einen lauten Freudenruf aus und springt wie ein Schmetterling hinab.

Den dritten läßt er so nicht mehr fort, den knüpft er an einen Strick und läßt ihn dann hinaufklimmen. Der klimmt hinauf, will hinunterspringen, aber die anderen reißen ihn zurück auf das Schiff. Nun drängen sie alle um ihn, was er denn auf der anderen Seite Schönes gesehen habe. Aber er kann ihnen nichts erzählen, er ist vor Freude stumm geworden. Jetzt befiehlt der Königssohn weiterzufahren. Aber da fahre einer! Als die Brücke außer Sicht gekommen ist, da sind alle wieder wie von Sinnen. Die Ärmsten quälen sich drei Tage und drei Nächte ab, aber sie kommen nicht vom Fleck. Und als sich zuletzt zu aller übrigen Bedrängnis auch noch der Hunger einzustellen beginnt, da weiß der Königssohn keinen anderen Ausweg mehr als sein kostbarstes Kleinod, sein Schwert, dem Meere zu opfern und es um Hilfe anzuflehen. Er wirft sein Schwert in die Flut. Sogleich taucht aus der Meerestiefe ein würdiger Greis empor mit einem diamantenen Schwert in der Hand und sagt: »Nimm das Schwert und wirf es in die Luft!« Der Königssohn ergreift das Schwert und schleudert es in die Luft. Augenblicklich sind Schwert und Schiff von einem undurchdringlichen Nebel wie von einer Wolke umhüllt. Die Wogen heben sich, und das Schiff fliegt dahin, bis es vor dem Eingang zum Schlosse des Vaters anlegt.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt