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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Die sieben Königssöhne

Ein König hatte sieben Söhne, von denen war der älteste fünfundzwanzig, der jüngste nur sieben Jahre alt. Aber trotz seines jugendlichen Alters hatte dieser allein mehr Mut als alle seine sechs Brüder miteinander. Einmal war der Vater auf den Gedanken gekommen, seine sechs ältesten Söhne in die Fremde zu schicken, den jüngsten jedoch seiner Jugend wegen zu Hause zu behalten. Aber der Jüngste war damit nicht einverstanden, er sagte: »Wenn du mich nicht mitläßt, Vater, so wirst du schon sehen, daß meine Brüder nicht mehr heimkommen. Wie soll denn ohne mich etwas Rechtes zustande kommen?«

Als der Vater das hörte, wurde er anderen Sinnes und ließ ihn mitziehen. Alle sieben Brüder rüsteten nun ein Schiff und fuhren über See in fremde Länder. Auf dem Meere steuerten die älteren Brüder das Schiff nach links, aber der jüngste sprach: »Nach links darf man nicht fahren,



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wir müssen rechts halten; wenn ihr nicht auf mich hört, so werdet ihr schon sehen, daß wir uns verirren.«

Aber die älteren Brüder werden wohl dem jüngsten folgen! Sie steuerten nach links. Jedoch der jüngste hatte recht: am dritten Tage war das Schiff so in der Irre, daß die Fahrer nicht mehr wußten, wo Morgen und wo Abend ist. Sie wandten das Schiff heute in diese Richtung, morgen in jene, es nützte alles nichts. So geht ein Tag und ein zweiter dahin, eine Woche und eine zweite, ein Jahr und ein zweites, bis sie sieben Jahre umhergeirrt waren. Im siebenten Jahr traf die Brüder ein neues Unglück: das Brot ging ihnen aus. Als der jüngste Bruder das merkte, rief er einem der älteren zu: »Steig doch auf den Schiffsmast und spähe, ob irgendwo Land zu sehen ist.«

Ein Bruder steigt hinauf und sperrt die Augen auf: es sei nichts zu sehen. Ein zweiter steigt hinauf und sperrt die Augen auf: es sei nichts zu sehen; alle sechs steigen hinauf, aber sehen konnte keiner was. »Das ist doch wunderbar!«ruft der jüngste, »ich muß wohl selbst hinauf und mich überzeugen.«Er steigt hinauf, schaut und späht, da auf einmal ruft er: »Ach, ihr Pfuscher, ihr seht und wißt nichts. Ich sehe natürlich etwas. Da ist ja Land. Freilich muß man scharf zusehen, denn im Augenblick erscheint es nicht größer als eine Fliege!«

Jetzt wendet er das Schiff nach jener Richtung, und siehe da! Nach drei Tagen erreichen die Brüder die Küste und finden eine wildfremde Stadt. Der König dieser Stadt kommt den Brüdern entgegen und nimmt sie freundlich auf, wie man eben Königssöhne aufnimmt. Der König ladet gleich alle sieben in sein Schloß, läßt ihnen gute Speisen und Getränke vorsetzen und nötigt sie zu essen. Er selbst aber hatte sich am Ende des Tisches niedergelassen und genoß kaum einen Bissen. Als der jüngste Bruder das bemerkte, fragte er: »Weshalb leistest du deinen Gästen nicht Gesellschaft? Du siehst doch, König, wie wir zugreifen; will es dir denn heute gar nicht schmecken?« — »Weder schmeckte es mir gestern, noch heute. Was soll ich darüber sagen, Brüderchen? Seit meine sieben Töchter verlorengegangen sind, will mir nichts mehr schmecken.«

»Ist es schon lange her, daß sie dir verlorengingen?« — »Sieben Jahre werden es sein. Die jüngste war damals sieben Jahre alt, und als sie um



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die Mittagszeit mit ihren Schwestern ins Freie ging, da verschwanden alle sieben. Ich habe zwar dem, der sie wiederfände, mein halbes Reich versprochen, aber alles umsonst.«

»Wenn nun wir sieben Brüder deine sieben Töchter wiederfänden, was würdest du uns dafür versprechen?«fragte der jüngste Bruder. »Liebe Brüder, ich würde sie euch gleich zu Frauen geben, dir als dem jüngsten die jüngste und so der Reihe nach, bis dem ältesten Bruder die älteste zufiele.«

»Gut, dann wollen wir sie suchen gehen. Gib uns nur für wenigstens sieben Jahre Nahrungsmittel auf den Weg.«

Am nächsten Morgen war das Schiff gerüstet. Die Brüder zogen die Segel auf und fuhren ab.

Auf dem Meere steuerten die älteren Brüder nach links, aber der jüngste sagte: »Nach links darf man nicht fahren, wir müssen nach rechts halten; wenn ihr nicht auf mich hört, werdet ihr schon sehen, daß wir uns verirren.»

Aber die älteren Brüder werden wohl dem jüngsten folgen! Sie steuerten nach links. Aber der jüngste hatte recht: am dritten Tage war das Schiff so in der Irre, daß die Fahrer nicht mehr wußten, wo Morgen und wo Abend ist.

Die älteren wollten das Schiff wieder drehen, aber der jüngste sagte: »Was dreht ihr, fahrt doch geradeaus, komme, was da wolle.« So vergeht ein Tag und ein zweiter, es vergeht eine Woche und eine zweite, ein Jahr und ein zweites, bis abermals sieben Jahre verstrichen sind. Im siebenten Jahre fängt das Brot an auf die Neige zu gehen. Was nun? Als der jüngste Bruder das merkt, ruft er einem der älteren zu: »Steig doch auf den Schiffsmast und spähe aus, ob denn nirgends Land zu sehen ist. Ein Bruder steigt hinauf und sperrt die Augen auf: es sei nichts zu sehen; ein zweiter steigt hinauf und sperrt die Augen auf: es sei nichts zu sehen. Alle sechs steigen hinauf, aber sehen konnte keiner was. »Das ist doch wunderbar!« ruft der jüngste; »ich muß wohl selbst hinauf und mich überzeugen.« Er steigt hinauf und späht, ja, in der Ferne sieht man Land, so groß wie eine gute Männerfaust anzusehen. Jetzt wendet er das Schiff nach jener Seite, und siehe da! Nach drei Tagen erreichen die Brüder mitten im Meer einen hohen, abschüssigen



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Felsen. Der jüngste Bruder machte eine lange Strickleiter, warf sie über eine Felszacke, und alle stiegen hinauf. Oben fanden die Brüder einen schönen Apfelgärten, und jenseits des Gartens sahen sie ein weites unbebautes Land. Sechs Brüder blieben im Garten, sich an den Früchten zu laben, aber der jüngste ging allein auf das unbebaute Land. Da tritt ihm, wie aus dem Boden gewachsen, ein gewaltiger Riese mit einer großen, balkendicken Keule entgegen und sagt: »Wie bist du, Knirps, hier in das Gebiet meines Herrn geraten? Hinaus mit dir, auf der Stelle hinaus!« Aber der jüngste Bruder geht nicht. Wie er nicht geht, stößt ihn der Riese bis an die Knie in den Boden. Da läuft dem jüngsten Bruder die Galle über; er zieht sein Schwert und haut dem Riesen ein Bein bis an die Knie ab. Der Riese stürzt in seinem Schmerz zu Boden und ruft: »Hau nicht mehr.«

»Gut«, antwortet der jüngste Bruder, »aber dann mußt du zweierlei versprechen: erstens meine sechs Brüder dort im Garten nicht anzurühren, sodann mir zu sagen, was weiterhin in diesem Lande zu sehen ist.«

»Deine Brüder werde ich nicht anrühren, was aber weiterhin in diesem Lande Gutes zu sehen ist, das wird dir mein zweiter Bruder sagen, dem du bald begegnen wirst.«

Der jüngste Bruder ging weiter. Da tritt ihm, wie aus dem Boden gewachsen, ein zweiter gewaltiger Riese mit einer großen, baumdicken Keule entgegen und sagt: »Wie bist du, Knirps, hier in das Gebiet meines Herrn geraten? Hinaus mit dir, auf der Stelle hinaus!« Aber der jüngste Bruder geht nicht. Wie er nicht geht, stößt ihn der Riese bis zum halben Leib in den Boden. Da wird es dem jüngsten Bruder heiß ums Herz: er zieht sein Schwert und haut dem Riesen ein Bein bis zur Hälfte ab. Der Riese stürzt in seinem Schmerz zu Boden und ruft: »Hau nicht mehr. «

»Gut«, antwortet der jüngste Bruder; »aber dann mußt du mir zweierlei versprechen: erstens meine sechs Brüder dort im Garten nicht anzurühren, sodann mir zu sagen, was weiterhin in diesem Lande zu sehen ist.« —»Deine Brüder werde ich nicht anrühren, aber was weiterhin in diesem Lande Gutes zu sehen ist, das wird dir mein dritter Bruder sagen, dem du bald begegnen wirst.«



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Der jüngste Bruder geht weiter. Da tritt ihm, wie aus dem Boden gewachsen, ein dritter gewaltiger Riese mit einer großen, baumdicken Keule entgegen und sagt: »Wie bist du, Knirps, hier in das Gebiet meines Herrn geraten? Hinaus mit dir, auf der Stelle hinaus!«

Aber der jüngste Bruder geht nicht. Wie er nicht geht, stößt ihn der Riese bis an die Achselhöhlen in den Boden. Jetzt kommt dem jüngsten Bruder das Blut ins Kochen; er zieht sein Schwert und haut dem Riesen das eine Bein gänzlich ab. Der Riese stürzt in seinem Schmerz zu Boden und ruft: »Hau nicht wieder!«

»Gut, aber dann mußt du mir zweierlei versprechen: erstens meine Brüder dort im Garten nicht anzurühren, sodann mir zu sagen, was weiterhin in diesem Lande zu sehen ist.«

»Deine Brüder werde ich nicht anrühren, und von diesem Lande kann ich dir so viel erzählen: »Das Land ist verzaubert, und sein Gebieter ist ebenfalls im Stall in einen Hengst verzaubert. Zu diesem Hengst mußt du zuallererst gehen, wenn du in diesem Lande etwas erreichen willst.

Wenn du in den Stall trittst, so wird sich zuerst der Hengst sehr wild gebärden. Aber sei nicht bange, geh durch den Stall bis ans andere Ende, dort wirst du drei Abteile sehen, ein eisernes, ein silbernes und ein goldenes. Alle drei Abteile sind voll Hafers. Nimmst du nun Hafer aus dem eisernen Abteil und schüttest ihn dem Hengste vor, so wird er gleich ein wenig ruhiger werden; nimmst du von dem Hafer aus dem silbernen Abteil und schüttest ihn hin, so wird er schon ganz zahm werden; nimmst du aber Hafer aus dem goldenen Abteil und schüttest ihn hin, so wird der Hengst frommer als ein Lamm werden. Er wird sogleich mit dir zu sprechen anfangen und dir alles sagen, was du zu tun hast. Weiter weiß ich dir nichts zu sagen.«

Der jüngste Bruder begab sich zum Hengst und tat alles aufs Haar, wie er belehrt worden war. Ja, genau; der Hengst fing zuletzt zu sprechen an und sagte: »Junge, du bist, wie ich sehe, stark und mutig. Bist du denn nicht drei starken Riesen begegnet?«

»Natürlich bin ich ihnen begegnet, aber die armen Tröpfe habe ich bezwungen. Der dritte hat mich zuletzt gelehrt, wohin ich gehen solle, was ich zu tun habe.«



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Hast du wirklich die Riesen bezwungen? Nun, dann wirst du den Drachen, der dies Land beherrscht, auch bezwingen. Der Drache wohnt in jener Burg. Er hat neun Köpfe und eine ungeheure Kraft. Der hat mich selbst in einen Hengst verzaubert und einem Könige sieben Töchter geraubt, die dort in der Burg gefangengehalten werden. In die Burg geh um die Mittagszeit, dann schläft der Drache. Schleich recht leise hinein und bewaffne dich mit meinem Schwert, das dort an der Wand hängen wird; mit deinem eigenen versuch es nicht. Außerdem wirst du neben dem Drachen zwei Gefäße sehen: in dem zur Rechten ist Kraftwasser enthalten, zur Linken Ohnmachtswasser. Die beiden Gefäße vertausche: das Kraftwasser stelle, nachdem du selbst einen Schluck getrunken hast, nach links, und das Ohnmachtswasser nach rechts. Ist das alles getan, so versetz mit meinem Schwert dem Drachen einen Streich, so kräftig du irgend kannst.«

Am nächsten Tage, genau um die Mittagszeit, begab sich der jüngste Bruder in die Burg, bewaffnete sich mit dem Schwert des Hengstes, vertauschte die beiden Gefäße und fiel dann über den Drachen her, indem er ihm mit einem Streich sechs Köpfe abhieb. Der Drache fuhr sofort mit Gebrüll auf, um mit seinen übrigen drei Köpfen noch rechtzeitig das Kraftwasser zu ergreifen und dann seinen Gegner zu verschlingen. Doch es mißlang ihm: in der Hitze ergriff er das Ohnmachtswasser. Zwar versuchte der Unhold das falsche Getränk wieder auszuspeien, aber es half ihm nichts; mit seiner Kraft war es zu Ende, und der jüngste Bruder raubte ihm auch seine letzten Köpfe wie Mützen. Und kaum war das Ungetüm zu Fall gebracht, da zeigte sich überall neues Leben: eine Stadt tauchte empor, es wimmelte von Menschen und Vieh. Bei diesem Anblick geriet er in Schreck und eilte in den Stall zum Hengste. Aber der Hengst war über die Maßen froh und sprach: »Du bist ein ganzer Mann! Ich danke dir, daß du mein Land, meine Stadt, mein Volk, meinen Besitz und mich selbst befreit hast. In dreimal neun Tagen werde ich wieder Menschengestalt und die Herrschaft über dies Land gewinnen. Geh jetzt in die Burg, Bruder, nimm mein Schwert zum Andenken, und dann tu, was dir selbst genehm ist, ob du nun bei mir wohnen bleiben oder dich in deine Heimat begeben willst.«

»Nein, Freund, ich werde lieber die sieben Königstöchter mit mir nehmen



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und in meine Heimat gehen, denn im Vaterhause ist es doch am besten.«

»Gut, gut, vergiß nur nicht mein Schwert.«

Der jüngste Bruder nahm nun die wiedergefundenen Königstöchter mit sich und eilte zu seinen Brüdern ans Meer. Die sieben Königstöchter waren über die Maßen froh, aber die Brüder zuckten nur die Achseln und wunderten sich. Gerade waren sie alle vom Felsen aufs Schiff hinabgestiegen, da fuhr sich der jüngste Bruder an den Kopf: »Wo habe ich das Drachenschwert? Daß ich das vergessen konnte! Verdammt, ich muß es holen gehen, das darf ich nicht dalassen.«

Der jüngste Bruder lief nach seinem Schwert, aber die übrigen Brüder warteten nicht auf ihn. Sie besprachen sich so: »Wollen wir nur fortfahren, mag er bleiben. Wollen wir unserem Schwiegervater sagen, daß wir seine Töchter gerettet haben; dann wird wenigstens einer von uns sechsen die jüngste Schwester zur Frau haben. Und soviel wir wissen, ist die jüngste die Erbin des Reiches. Tun wir nicht so, so nimmt sich der jüngste Bruder den Rahm, und uns bleiben nur die Molken. Und wie würde er sich noch brüsten; er allein habe sie gerettet, wir hätten im Garten gefaulenzt, Obst gegessen und uns vor den Riesen gefürchtet. Also so ist's recht, anders geht es nicht. Nur müssen wir der jüngsten Schwester einschärfen, daß sie dasselbe aussagt wie wir. Sie muß versprechen, zu schweigen.«

Gesagt, getan. Die Brüder fuhren fort, der jüngste ist betrogen. Der Arme kam wohl mit dem Drachenschwert zurück, aber von den Brüdern war nichts mehr zu hören, noch zu sehen. Was nun? Jetzt heißt es zum Hengste eilen. Er kommt hin, der Hengst sagt: »Ich sagte dir doch, du sollest nicht vergessen, gleich das Schwert zu nehmen. Geh jetzt hinaus, da wirst du linker Hand einen Apfelbaum mit goldenen Äpfeln sehen. Pflücke drei Äpfel und bringe sie mir; nur iß sie nicht selbst.«Der jüngste Bruder geht nach den Äpfeln. Aber die Äpfel sind gar so schön. Er denkt: >Wird der Hengst das wohl erfahren? Einen von den prächtigen Äpfeln muß ich versuchen.<

Drei Äpfel steckt er in die Tasche, den vierten pflückt er, um ihn zu verspeisen. Aber kaum hat er in den Apfel gebissen, da sind die Äpfel verschwunden und der Apfelbaum desgleichen. Ein neues Unglück. Er



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geht zum Hengst hinein, der Hengst sagt: »Weshalb hörst du nicht, was ich dir sage? So wirst du nicht nach Hause kommen. Geh wieder hinaus, rechter Hand wirst du einen anderen Apfelbaum mit ebensolchen Früchten sehen, aber jetzt iß nicht mehr von ihnen.«

Diesmal gehorcht der jüngste Bruder. Der Hengst nahm die Apfel und sprach: »Steig auf meinen Rücken, ich werde dich nach Hause tragen. Wir müssen sehr eilen, denn erstens ist die Zeit meiner Verzauberung bald um, und zweitens wäre es mir sehr lieb, wenn wir vor deinen verräterischen Brüdern nach Hause gelangen könnten.«

»In wieviel Tagen gedenkst du mich zum König, in das Schloß meines künftigen Schwiegervaters zu bringen?«

»In vier Tagen sind wir dort.« —»Nun, dann können wir nicht vor den Brüdern ankommen. Sie haben sehr günstigen Fahrwind; und wenn sie sich nicht verirren, sind sie in ein paar Tagen am Ziel. Das wäre sonst einerlei, nur fürchte ich, daß die Spitzbuben dem König seine jüngste Tochter wegschnappen. Das ist meine Sorge. Aber komme, was kommen soll.«

Mit diesen Worten bestieg der jüngste Bruder den Rücken des Hengstes und ritt durch die Luft wie der Wind. Unterwegs gab der Hengst die drei Äpfel dem jüngsten Bruder und sagte: »Wenn du müde bist, so wirf einen Apfel über die Schulter. Sogleich wird eine Königsstadt erscheinen, wo wir die Nacht über bleiben können. Nur auf eines gib acht: Am Morgen wird der König dir allerhand Schätze anbieten, aber nimm sie nicht, nimm ein altes Tuch, in das die Sachen eingebunden waren. Und noch eins: Wenn du den Apfel über die Schulter wirfst, vergiß nicht zu sagen: »Jetzt ist es Zeit, zur Ruhe zu gehen.«

Gegen Abend fühlte sich der jüngste Bruder müde. Er holte einen goldenen Apfel heraus, warf ihn sich über die Schulter und sagte: »Es ist Zeit, zur Ruhe zu gehen.«Sofort erschien eine große Stadt, und der König kam selbst dem Reiter entgegen, um ihn zu sich einzuladen. Am Morgen schenkte der König seinem Gast allerhand Sachen, aber der Gast bedankte sich und nahm nichts anderes an als ein altes, altes Tüchlein und ritt davon. Unterwegs fragte ihn der Hengst: »Hast du das Tüchlein bekommen?« —»Ja.« —»Nun, dann ist es gut. Verwahr es nur sorgfältig, zu seiner Zeit wirst du es brauchen. Und wenn du dich heute



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wieder müde fühlst, so wirf den zweiten Apfel über die Schulter und sprich: >Jetzt ist es Zeit, zur Ruhe zu gehen!< Sogleich wird eine Königsstadt erscheinen, wo wir über Nacht bleiben können. Nur auf eines gib acht: Am Morgen wird der König dir ebensolche Kostbarkeiten anbieten, aber nimm sie nicht, nimm einen alten Leuchter.«

Gegen Abend fühlte sich der Bruder müde. Er holte einen goldenen Apfel heraus, warf ihn über die Schulter und sagte: »Jetzt ist es Zeit, zur Ruhe zu gehen.«

Sofort erschien eine große Stadt, und der König kam selbst dem Reiter entgegen, um ihn zu sich einzuladen. Am Morgen schenkte ihm der König allerhand Sachen, aber der jüngste Bruder nahm nur einen alten Leuchter an und ritt dann dankend davon. Unterwegs fragte der Hengst: »Hast du den Leuchter bekommen?« —»Ja.« —»Nun, dann ist es gut. Verwahr ihn nur sorgfältig, du wirst ihn seinerzeit brauchen. Und wenn du dich heute wieder müde fühlst, so wirf den dritten Apfel über die Schulter, indem du dieselben Worte sprichst. Sogleich wird eine Königsstadt erscheinen, wo wir über Nacht bleiben können. Nur auf das eine gib acht: am Morgen wird dir der König ebensolche Kostbarkeiten zum Geschenk anbieten, aber die nimm nicht, nimm nur einen verschimmelten Kuchen.«

Gegen Abend fühlte sich der jüngste Bruder müde. Er holte einen goldenen Apfel heraus, warf ihn über die Schulter und sprach: »Jetzt ist es Zeit, zur Ruhe zu gehen.« Sofort erschien eine große Stadt, und der König kam selbst dem Reiter entgegen, um ihn zu sich einzuladen. Am Morgen schenkte ihm der König allerhand Sachen, aber der jüngste Bruder nahm nur einen verschimmelten Kuchen an und ritt dann dankend davon.

Unterwegs fragte der Hengst: »Hast du den Kuchen bekommen?« — »Ja.« —»Nun, dann ist es gut, verwahre ihn nur sorgfältig, du wirst ihn seinerzeit brauchen.«

Am vierten Tage gegen Abend traf der jüngste Bruder im Schloß seines künftigen Schwiegervaters ein. Der Hengst trennte sich jetzt von ihm, indem er sagte: »Lebe nun wohl, ich muß zurückeilen, denn in wenigen Tagen ist meine Zeit um.«Der jüngste Bruder dachte nun, seine verräterischen Brüder beim König zu finden, aber keineswegs. Die hatten



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dank dem günstigen Fahrtwinde schon längst die Rückfahrt vollendet und hatten dem Könige die Ohren vollgelogen von ihren gewaltigen Heldentaten. Der König hatte dann auch tags zuvor einem jeden eine seiner Töchter zur Frau gegeben, und alle waren noch an demselben Morgen zu ihrem Vater nach Hause gefahren. Einer wollte wohl mit aller Gewalt dem Könige seine jüngste Tochter entlocken, aber diese ging und ging nicht zu ihm. Als der König das hörte, sagte er selbst auch: »Die jüngste gehört dem jüngsten Bruder, und wenn der jüngste Bruder nach eurer Aussage verloren ist, dann mag meine jüngste Tochter lieber bei mir bleiben.«

So geschah es denn auch. Aber wie groß war das Erstaunen, als an demselben Tage gegen Abend der jüngste Bruder erschien und dem Könige alles erzählte, wie es sich wirklich begeben hatte. Der Alte sprang vor Zorn schier in die Luft. »Solch eine Niedertracht! Wie konnte ich nur solchen Schuften meine Tochter geben! Was wird künftig erst aus ihnen werden, wenn sie jetzt schon so sind! Dir aber, du ehrlicher Junge, gebe ich hiermit meine jüngste Tochter, und nach meinem Tode sollst du der König dieses Reiches werden.«

Der jüngste Bruder nahm also die jüngste Königstochter zur Frau und gedachte bei seinem Schwiegervater zu leben. Aber in der nächsten Woche kam ihm plötzlich der Gedanke: »So geht es nicht, ich muß doch zu meinem Vater heim. Meine Brüder werden ihm auch die Ohren vollgelogen haben, und dann wird mein Vater, weil er den Lügnern Glauben schenkt, sich unnütze Sorgen um mich machen! Mag mein Frauchen hier bleiben, ich will meinen Vater besuchen gehen.« Der jüngste Bruder machte sich auf den Weg.

Aber als die Brüder den Jüngsten kommen sahen, ergriffen sie ihn, führten ihn in den Wald und warfen ihn in eine tiefe, tiefe Bärengrube, damit er dort Hungers stürbe. Der Vater bekam von alledem nichts zu hören. Aber der jüngste Bruder starb nicht des Hungers. Er erinnerte sich seines Tuchs, seines Leuchters und seines Kuchens. Sobald er das Tuch auf den Boden warf, entstand in der Bärengrube ein prächtiges Schloß; sobald er den Leuchter auf den Tisch stellte, war das ganze Schloß hell erleuchtet, sobald er den Kuchen auf den Tisch legte, entstanden die köstlichsten Speisen und Getränke. So lebte er in der tiefen



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Grube einen Tag und noch einen, eine Woche und noch eine, einen Monat und noch einen: weder kam ihm irgendein Mensch zu Hilfe, noch konnte er selbst heraus. Seine junge Frau wartete einen Tag und noch einen, eine Woche und noch eine, einen Monat und noch einen: weder kam irgendeine Nachricht, noch kehrte ihr Mann selbst zurück. Wie lange sollte sie warten? Sie entschloß sich, ein Kriegsheer zu men und auf die Suche zu gehen. Sie zieht also mit dem Kriegsheer vor das Tor ihres Schwiegervaters und läßt den ältesten Sohn herauskommen.

Den fragte sie, wo er seinen jüngsten Bruder gelassen habe. Aber der zuckte die Achseln, er wisse gar nichts. Nun, wenn er nichts wisse, so solle der nächste Bruder herauskommen. Er kam und sagte dasselbe. Zuletzt rief sie alle sechs, auch sie wüßten gar nichts. Aber wer einmal lügt, dem glaubt man nicht; so war es auch hier. Die junge Verwandte erklärte jetzt kurz und bündig: »Damals habt ihr ebenso gesagt, ihr wüßtet nicht, wo der jüngste Bruder geblieben sei, und jetzt ist es das gleiche Unglück. Kriegsleute, nehmt sie fest und führt sie ins Gefängnis, dann wird es ihnen schon einfallen, wo ihr Bruder geblieben ist.«

Nun gab es einen Spaß. Kaum hatten die Frauen vernommen, daß ihre Männer ins Gefängnis müßten, da kamen alle sechs heraus und baten flehentlich, man möge sie gehenlassen, sie wollten sagen, wo der Bruder versteckt sei. Schön. Als nun alles erzählt war, da begaben sich das Kriegsheer, die sechs Betrüger mit ihren Frauen und der alte König selbst zur Bärengrube, um den jüngsten Bruder zu suchen. Keiner glaubte mehr, ihn am Leben zu finden. Aber dort angelangt, wunderten sich alle: in der Bärengrube stand ein Schloß, und im Schloß war der jüngste Bruder, frisch und gesund wie ein Rettich. Sein Frauchen vergoß, als sie ihn sah, Freudentränen, aber der alte Vater weinte bald aus Freude, bald aus Kummer. Wenn er seinen jüngsten Sohn ansah, überwältigte ihn die Freude, wenn er aber seine älteren Söhne, die Spitzbuben, anschaute, wußte er sich vor Kummer nicht zulassen. Zuletzt sagte der Alte: »Ihr sechs Taugenichtse, fort aus meinen Augen! Aber du, mein Söhnchen, sollst nach meinem Tode König werden. Du hast es verdient, daß es dir gutgehe.«

Als die sechs Brüder das hörten, wurden sie totenblaß. Sie umarmten



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den Vater und den jüngsten Bruder und baten sie um Vergebung. Der jüngste Bruder vergab ihnen gleich, aber der Vater wollte sich nicht erbitten lassen. Zuletzt trat auch der Jüngste für seine Brüder ein, und es gelang ihm mit Not und Mühe, den Vater zu versöhnen.

»Als Söhne«, sagte der Alte, »will ich euch wieder annehmen, aber mein Reich soll jedenfalls der Jüngste erben.«

So fielen dem Jüngsten zwei Reiche zu.


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