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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Die Teufelskünste

Ein Bauer hatte einen einzigen Sohn, den schickte er auf die hohe Schule. Als nun einmal ein Rabe auf dem Dach krächzte, da fragte er seinen Sohn, was der Rabe da krächze, er sei doch auf der hohen Schule gewesen, da müsse er es wissen. Der Sohn erwiderte: »Wie soll ich das wissen, ich war ja in keiner Rabenschule.« Da schickte der Bauer seinen Sohn noch ein Jahr in die Rabenschule. Gut.

Gegen Ende des Jahres kam ganz unerwartet ein Rabe ins Haus des Vaters geflogen: »Ich bin dein Sohn aus der Rabenschule, morgen mußt du mich abholen. Wir sind dort viele Schüler, alle in Raben verwandelt — wirst du mich denn auch in dem ganzen Rabenschwarm erkennen können? Wenn nicht, so muß ich dort bleiben und darf nicht nach Hause. Doch ich will dich lehren, wie du mich erkennen kannst: wir werden uns alle auf eine lange Stange setzen müssen; das erstemal werde ich der dritte von diesem Ende sein, das zweitemal der fünfte, und beim drittenmal wird eine kleine Fliege über mein Gesicht fliegen.« Mit diesen Worten flog der Rabe wieder fort. Am nächsten Tage fuhr der Vater in die Rabenschule, die Raben saßen schon auf der Stange, und nun sollte er seinen Sohn herausfinden. Der Vater zeigte: »Dort, der dritte ist es.«Gut, erraten. Jetzt mußten sich die Raben zerstreuen, durcheinanderfliegen und sich wieder auf der Stange sammeln, dann sollte er raten. Der Vater wies auf den fünften. Gut, erraten. Und wieder mußten sich die Raben mischen, jetzt sollte er raten. »Der da!« zeigte der Vater, denn er hatte bemerkt, wie eine kleine Fliege über das



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Gesicht des Sohnes flog. Jetzt erhielt der Sohn wieder seine menschliche Gestalt, und beide, Vater und Sohn, fuhren übers Meer heimwärts.

Auf dem Meere aber begann ein Rabe abermals auf der Spitze des Mastes zu krächzen. Da fragte der Vater den Sohn: »Jetzt bist du in der Rabenschule gewesen; sag mir also, was der Rabe dort gekrächzt hat.«

»Ach, Vater, wenn ich dir sagte, was der Rabe gekrächzt hat, würdest du mich ins Meer werfen - ich kann es dir nicht sagen.«

Ober diese Antwort geriet der Vater in Zorn und warf in seiner Wut den Sohn nun doch ins Meer, einerlei, ob er es sagte oder nicht. Doch der Sohn ertrank nicht, er schwamm als Fisch an die entgegengesetzte Küste und nahm wieder Menschengestalt an. Dort traf er einen Alten und nahm bei ihm Wohnung. Als er eine Zeitlang dort gewohnt hatte, sagte er einmal dem Alten: »Morgen werde ich ein schöner Vogel werden; trag mich in die Stadt und verkauf mich, nur gib den Käfig nicht mit fort.«

Gut. Am nächsten Tage trug der Alte den Vogel in die Stadt und begegnete der Königstochter. Als sie den lieblichen Gesang des Vogels vernahm, kaufte sie ihn für teures Geld, aber den Käfig gab der Alte nicht fort. Die Königstochter nahm den Vogel und ging, sich einen anderen Käfig kaufen. Aber während sie mit dem Verkäufer sprach, huschte der Vogel davon und war noch eher zu Hause als der Alte. Wieder nach einiger Zeit sagte der Sohn zum Alten: »Morgen werde ich mich in einen großen Stier verwandeln; führ mich in die Stadt und verkauf mich, nur den Strick gib nicht weg.« Gut. Der Alte verkaufte den Stier, gab aber den Strick nicht her. Der Käufer nahm den Stier und kaufte sich einen anderen Strick. Unterdessen aber entwischte der Stier und kehrte nach Hause zurück.

Nach einiger Zeit sagte der Sohn zum drittenmal zum Alten: »Morgen werde ich mich in ein Pferd verwandeln; führ mich in die Stadt und verkauf mich; nur den goldenen Zaum gib nicht her.«

Gut, er führte ihn fort. In der Stadt aber überkam den Alten eine große Geldgier, und so verkaufte er auch den goldenen Zaum. Und der Käufer war der Lehrer an der Rabenschule selbst. Als er das Pferd gekauft



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hatte, ritt er sogleich auf ihm nach Hause, brachte es in den Pferdestall und befahl dem Stall jungen, dem Pferd recht wenig Futter zu geben. Zum Glück gehorchte der Junge nicht, er fütterte das Pferd gut und ließ es eines Tages sogar ganz in Freiheit. Das Pferd lief eiligst davon, aber der Rabenlehrer setzte hinterher. Sie liefen und liefen bis an den Meeresstrand. Am Meeresstrande verwandelte sich das Pferd in einen Fisch, sein Verfolger aber wurde auch zu einem Fisch, und beide schwammen auf das andere Ufer zu.

Auf dem andern Ufer stand ein Königsschloß, und vor dem Schloß waren drei Königstöchter mit Waschen beschäftigt. Der erste Fisch sprang eiligst vor den Königstöchtern ans Ufer und verwandelte sich in einen schönen Diamantring. Die jüngste Königstochter bemerkte zuerst den Ring, steckte ihn an ihren Finger und eilte in die Stube. In der Stube aber verwandelte sich der Ring in den Sohn, und der erzählte ihr alles von A bis Z, was sich mit ihm ereignet hätte und was sich noch ereignen würde. Am Abend würden feine Herren ins Schloß kommen und musizieren, und unter ihnen werde der Rabenlehrer selbst sein; der werde sich für sein Spiel den Diamantring ausbitten, aber die Königstochter solle ihm den nicht geben.

Ja, so war es: am Abend kamen feine Spielleute und spielten so schön, daß man sich gar nicht satt hören konnte. Als sie geendet hatten, fragte sie der König, was für einen Lohn sie begehrten. »Wir wollen nichts anderes als den Diamantring der jüngsten Königstochter.« —Sie sollten ihn haben, erlaubte der König.

Aber die Königstochter wollte sich lieber zerreißen lassen, als den Ring hergeben, und so mußten die Spielleute mit leeren Händen abziehen. Nun verwandelte sich der Ring wieder in den Königssohn und sprach: »Morgen werden die Spielleute nochmals kommen, und wenn sie zu Ende gespielt haben, den Diamantring fordern. Wenn du dich dann gar nicht vor ihnen retten kannst, so wirf den Ring unter den Stuhl.«

Wirklich, so war es: am Abend fanden sich die gestrigen Spielleute wieder ein und spielten noch schöner. Als sie zu Ende waren, erbaten sie sich den Ring. Das Mädchen gab ihn nicht her. Da sie ihn nicht gab, wollten sie Gewalt anwenden. Da zog die jüngste Königstochter den Ring vom Finger und warf ihn unter einen Stuhl. Sogleich verwandelten



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sich die Spielleute in Raben und suchten den Ring zu erhaschen. Aber der Ring wurde zu einem Habicht. Da gab es einen großen Kampf, aber der Habicht verjagte die Raben.

Da verwandelte sich der Ring wieder in den Sohn, der heiratete die jüngste Königstochter, erbte vom König das Reich und lebte glücklich.


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