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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Tschuinis

Es war einmal ein Mann, der hatte einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hieß Tschuinis. Nun baute der Vater ein neues Wohnhaus, und als es eben fertig war, sprach der Alte zu seiner Frau und seinen Kindern: »Heute ziehen wir in unser neues Haus, und morgen früh soll



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jeder seinen Traum erzählen, den ersten, den er im neuen Bau geträumt hat.«

Am Morgen erzählten alle ihre Träume, nur Tschuinis wollte und wollte den seinigen nicht erzählen. Der Vater suchte ihm gütlich zuzureden - es half nichts; er versuchte es mit Schlägen - es half nichts; zuletzt wurde der Vater blau vor Zorn und befahl den Knechten: »Führt den Verstockten in den Wald und hängt ihn auf!«

Die Knechte führten Tschuinis fort, um ihn zu hängen. Aber es traf sich, daß gerade um diese Zeit ein Herr vorbeifuhr, der fragte die Leute, weshalb sie den Jüngling hängen wollten. Sie antworteten: »Tschuinis hat einen Traum gehabt, will ihn aber seinem Vater nicht erzählen.« —

»Hängt ihn nicht, verkauft ihn mir für hundert Taler.« Gut. Bei dem Herrn ging es Tschuinis ganz vortrefflich. Nun hatte aber einmal der Herr eine größere Anzahl Gäste, die bekamen beim Sitzen Langeweile. >Wartet<, dachte da der Herr, 'ich will meinen Tschuinis rufen, der soll erzählen, was er bei seinem Vater geträumt hat.<

Tschuinis wurde gerufen, aber, ihr mögt ihn totschlagen, er erzählte den Traum nicht. Er habe ihn seinem Vater nicht erzählt, und jetzt solle er ihn gar einem beliebigen anderen erzählen. Der Herr wird blau und rot und brüllt ihn an: »Du Lausbub, habe ich dich deshalb gekauft, daß du mich zum Dank in Wut bringst? —Knechte, fort mit ihm an den Galgen!«

Die Knechte führten Tschuinis fort, um ihn zu hängen. Aber gerade um jene Zeit traf es sich, daß ein Königssohn am Galgen vorbeiging. Erfragte die Leute, warum sie den Jüngling hängen wollten. Sie sagten: »Tschuinis hat bei seinem Vater einen Traum gehabt, aber er will ihn dem Herrn nicht erzählen.«

»Hängt ihn nicht, verkauft ihn mir für zweihundert Taler.« Gut. Beim Königssohn ging es Tschuinis ganz herrlich. Ja, was noch mehr war, die Königstochter, die Schwester des Käufers, gewann Tschuinis lieb. Nun hatte der König einmal eine größere Anzahl Gäste, die bekamen beim Sitzen Langeweile. »Wartet«, rief da der Königssohn; »ich will meinen lieben Tschuinis rufen, der soll den Traum erzählen, den er bei seinem Vater gehabt hat.«

Er ruft Tschuinis, aber, schlagt ihn tot, er erzählt ihn nicht. Er habe ihn



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seinem Vater nicht erzählt, da solle er ihn gar einem beliebigen anderen erzählen. Der Königssohn wird blau und rot und brüllt ihn an: »Du Lausbub, habe ich dich deshalb gekauft, daß du mich zum Dank in Wut bringst? Knechte, schleppt ihn in den Wald an den Galgen!«

Die Knechte führten Tschuinis, um ihn aufzuhängen. Aber wie will man ihn hängen? Die Königstochter fällt ihm um den Hals und will und will es nicht zulassen. Man solle ihn lieber in den Kerker werfen, wenn er schon gestraft werden müsse. So wird Tschuinis in den Kerker geworfen. Aber am Kerker war ein kleines Fensterchen, durch das reichte die Königstochter Tschuinis heimlich Speise.

Nach einiger Zeit begibt sich der Königssohn fort in ein anderes Königreich, um zu freien. Aber das war so weit, daß er kaum nach einem Jahr an Rückkehr denken konnte. Am folgenden Tage erzählte die Königstochter ihm durchs Fenster, wohin der Bruder gezogen sei und was für Absichten er habe.

Tschuinis ißt, ißt und denkt. Zuletzt sagte er: »Wenn dein Bruder auch mein Gegner ist, so verlangt es mich doch, ihn zu retten, denn die, die er zu heiraten gedenkt, ist eine Hexe, das hat mir ein Traum verraten.« Als die Königstochter das hörte, eilte sie zu ihrem Vater, rang die Hände und erzählte ihm alles. Der Vater dachte, seine Tochter habe den Verstand verloren. Aber sie umarmte den Vater: »Ich habe nicht den Verstand verloren, Tschuinis hat es mir gesagt.«

»Wie konnte denn Tschuinis auf einmal auftauchen, der ist ja im Kerker Hungers gestorben und verfault?«

»Er ist nicht verfault und nicht verhungert, ich habe ihm Nahrung gegeben.«

»Wahrhaftig, dann hast du ein besseres Herz als ich und dein Bruder. Wollen wir zu Tschuinis gehen; wenn er meinen Sohn rettet, so will ich ihm alles geben, was sein Herz irgend begehren mag.«

Nun ließ man Tschuinis aus dem Kerker heraus, richtete ihm ein Bad, wusch ihn und geleitete ihn auf die weite Reise. Alle kehrten zurück, nur die Königstochter begleitete Tschuinis noch ein Stückchen und hängte ihm ein kleines Seidenbändchen um den Hals. Unterwegs traf Tschuinis zwei, die miteinander kämpften. »Weshalb liegt denn ihr einander so schändlich in den Haaren?«



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»Ja, mein Lieber, so streiten wir schon drei Jahre um unseres Großvaters Pantoffel. Wer in sie hineinschlüpft und nur einen Schritt tut, der kommt, wohin er will.«

»Deshalb lohnt es sich doch nicht zu streiten. Hört einmal, ich werde diese Scheibe werfen, und wer von euch beiden sie zuerst fängt, dem sollen die Pantoffel gehören.«

Gut. Während sie aber der Scheibe nachlaufen, ist Tschuinis schon in den Pantoffeln auf und davon. Nachdem er ein Stück gegangen ist, begegnet er abermals zweien, die miteinander kämpfen.

»Weshalb liegt denn ihr einander so schändlich in den Haaren?« »Ja, mein Lieber, so streiten wir schon sechs Jahre um unseres Großvaters Rock. Wenn man den Rock anzieht, wird man unsichtbar.«

»Deshalb lohnt es sich doch nicht zu streiten. Hört einmal, ich werde diese Scheibe werfen, und wer von euch beiden sie zuerst fängt, dem soll der Rock gehören.«

Gut. Während sie aber der Scheibe nachlaufen, hat Tschuinis schon den Rock angezogen und ist auf und davon. Nachdem er ein Stück gelaufen ist, begegnet er wieder zweien, die miteinander kämpfen. »Weshalb liegt denn ihr einander so schändlich in den Haaren?«

»Ja, mein Lieber, so streiten wir schon neun Jahre um unseres Großvaters Handmühle. Dreht man die Steine dieser Mühle ein klein wenig nach rechts, so fliegt die Mühle so schnell durch die Luft, daß man selbst eine Hexe einholen kann; dreht man aber die Steine nach links, so schrumpft die Mühle so zusammen, daß man sie in die Tasche stecken kann.«

»Deshalb lohnt es sich nicht zu streiten. Hört, ich werde diese Scheibe werfen, und wer von euch beiden sie zuerst fängt, dem soll die Mühle gehören.«

Gut. Aber während sie hinter der Scheibe her sind, dreht Tschuinis den Mühlstein nach links, steckt die Mühle in die Tasche und ist auf und davon.

Er eilt zu der Hexe, zieht den Rock an, um nicht gesehen zu werden, und geht hinein. Der Königssohn ißt mit der Hexe zu Mittag. Nach der Mahlzeit gehen beide in eine andere Stube. Tschuinis verspeist indessen die Reste der Mahlzeit und horcht, was die beiden sprechen.



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Was werden sie wohl sprechen? Sie sprechen von der Hochzeit. Sagt die Hexe: »Ich will das Geschirr und die Reste unserer Mahlzeit abtragen, und dann wollen wir Hochzeitsschuhe besorgen gehen. Wir gehen jeder einen anderen Weg, die Schuhe zu suchen: habe ich die hübscheren, so mußt du in meinem Lande wohnen bleiben; hast du die hübscheren, so folge ich dir in dein Land.«

Die Hexe nahm das Geschirr vom Tisch und war höchst erstaunt, wer wohl die Reste der Mahlzeit gegessen haben mochte. Dann gingen beide fort, die Schuhe zu suchen. Die Hexe lachte vor Vergnügen, jener war bis zu Tränen betrübt. Tschuinis folgte ungesehen der Hexe. Die Hexe verschafft sich wunderschön glänzendes Leder und gibt es einem Schuster, damit die Schuhe zum nächsten Mittag fertig wären. Gut. Danach begibt sich Tschuinis zum Königssohn, um zu sehen, was für ein Leder der sich besorgt hat. Das war ein Leder, schlimmer als eine alte Pferdehaut.

»O weh, Königssohn, du wirst wohl in diesem Lande hocken bleiben. Du ahnst nicht, was deine Hexe für ein prächtig glänzendes Leder hat, und wie sieht das deinige aus!«

»Was für eine Hexe, was für eine Hexe?«fragte der Königssohn.

Tschuinis gab sich nun zu erkennen und erzählte alles haargenau, indem er ihm einschärfte, nur ja der Hexe hier nichts zu sagen, sondern erst, wenn er daheim bei seinem Vater wäre. Dann nahm Tschuinis das alte Leder, zog den unsichtbar machenden Rock an und eilte zum Schuhmacher. Der Schuhmacher hatte die Prachtschuhe schon fertig. Aber während der Schuhmacher sich dort noch zu schaffen macht, stibitzt Tschuinis die Prachtschuhe fort, verbirgt sie unter seinem Rock und legt an ihre Stelle das Leder des Königssohnes.

Des Morgens übergibt Tschuinis dem Königssohn die Prachtschuhe und sagt: »Zeig der Hexe nicht zuerst deine Schuhe, sonst wird sie deren Glanz ihren Schuhen aus der Pferdehaut anzaubern, sie soll zuerst die ihrigen zeigen.«

Der Königssohn befolgte den Wink, der Hexe mißlang ihr Anschlag. Nach dem Mittagessen gehen beide abermals in ein anderes Zimmer. Tschuinis verspeist unterdessen die Reste der Mahlzeit und horcht, was sie sprechen. Wovon werden sie wohl sprechen? Sie sprechen wieder



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von der Hochzeit. Sagt die Hexe: »Ich werde das Geschirr und die Reste der Mahlzeit abtragen, und dann wollen wir ein Hochzeitskleid besorgen gehen. Wir gehen jeder seinen Weg: Wenn mein Kleid schöner sein sollte, so mußt du in meinem Lande wohnen bleiben. Ist das deinige schöner, so werde ich dir in dein Land folgen.«

Die Hexe nahm das Geschirr vom Tisch und war höchst erstaunt, wer wohl die Reste der Mahlzeit verzehrt haben mochte. Dann gingen beide, ein Kleid zu suchen: die Hexe lachte vor Vergnügen, er aber war bis zu Tränen betrübt. Tschuinis folgt ungesehen der Hexe. Die Hexe verschaffte sich einen prächtig glänzenden Stoff und übergibt ihn dem Schneider, morgen bis Mittag müsse das Kleid fertig sein. Gut. Nun geht Tschuinis zum Königssohn, um zu sehen, was für ein Kleid der sich besorgt habe. Oh, was für ein Kleid, schlimmer als eine alte Hirtenjoppe! Tschuinis nimmt die alte Joppe, zieht sich seinen Rock über und eilt zum Schneider. Der hat das Prachtkleid schon fertig. Während sich aber der Schneider noch dort zu schaffen machte, schob Tschuinis das Prachtkleid unter seinen Rock und legte an die Stelle die Joppe des Königssohnes. Am nächsten Morgen gab Tschuinis dem Königssohn das Prachtkleid und sagte: »Zeig der Hexe nicht zuerst dein Kleid, sonst wird sie dessen Glanz ihrer Joppe anzaubern, sie soll zuerst das ihrige zeigen. «

Der Königssohn befolgte den Wink, der Hexe mißlang ihr Anschlag. Nach dem Mittagessen gehen beide in ein anderes Zimmer; Tschuinis verspeist unterdessen die Reste der Mahlzeit und horcht, was jene sprechen. Wovon werden sie wohl sprechen? Sie sprechen wieder von der Hochzeit. Sagt die Hexe: »Ich werde das Geschirr und die Reste der Mahlzeit abtragen, und dann wollen wir für die Hochzeit silbernes Haar besorgen gehen. Wir gehen jeder seinen Weg. Wenn ich mehr silberne Haare haben sollte als du, so mußt du in meinem Lande wohnen bleiben. Hast du mehr, so werde ich dir in dein Land folgen.«

Die Hexe nahm das Geschirr vom Tisch und war höchst erstaunt, wer wohl die Reste der Mahlzeit verzehrt haben mochte. Dann gingen beide, Haare zu suchen. Die Hexe war froh, er war traurig. Tschuinis folgte unsichtbar der Hexe auf den Fersen. Da plötzlich setzte sich die Hexe auf einen Eichenstumpf und schwang sich in die Lüfte. Tschuinis



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zieht schnell die Mühle aus der Tasche, dreht den Mühlstein auf die rechte Seite, steigt auf die Mühle und fliegt hinter der Hexe drein. Diese sieht Tschuinis nicht, Tschuinis aber sieht alles. Der Eichenstumpf fliegt blitzschnell durch die Luft und macht endlich weit, weit, mitten auf dem Meere halt. Die Mühle hält auch an, aber niemand sieht sie. Plötzlich fängt das Meer an zu rauschen und Wellen zu schlagen, und der Meeresalte hebt sein Silberhaupt aus den Wogen. Graps! reißt ihm Tschuinis eine Locke seines Silberhaares heraus. Die Hexe will dasselbe tun, aber sie kriegt bloß noch ein einzelnes Härchen zu fassen, denn der Meeresalte wird plötzlich, wohl aus Schmerz, ungebärdig und taucht unter das Wasser. Das Meer beginnt zu toben und zu rasen, und die beiden sind froh, mit heuer Haut davonzukommen.

Am nächsten Morgen übergibt Tschuinis dem Königssohn die silbernen Haare und sagt: »Zeig du der Hexe die deinigen nicht zuerst, sonst wird sie sie dir aus den Händen hexen, sie soll die ihrigen zuerst zeigen.«

Der Königssohn befolgte den Wink, und nun mußte die Hexe ihm in sein Land folgen.

Tschuinis setzte sich auf seine Mühle und war schon längst zu Hause, jene kamen erst im folgenden Jahre an. Nun wurde Hochzeit gehalten, nun wollte man in Herrlichkeit und Freude leben. Tschuinis erschien auch auf der Hochzeit, aber als Bettler verkleidet. Auf der Hochzeit nahm der alte König eine Trinkschale und wollte Tschuinis, dem Bettler, einen Trunk reichen. Der trank jedoch nicht, die Braut solle ihm den Trunk darreichen. Sobald nun die Braut, die Hexe, ihm die Schale brachte, löste Tschuinis sich sein seidenes Band vom Halse, band es an die Schale der Hexe und sagte: »Wenn die Braut jetzt die Schale zurücktragen kann, so ist sie keine Hexe, kann sie es nicht, so ist sie eine Hexe.«

Kaum waren diese Worte gesprochen, so verwandelte sich die Braut in ein Aschenhäuflein.

Jetzt heiratete der Königssohn Tschuinis' Schwester, und Tschuinis heiratete die Schwester des Königssohnes. Der alte König teilte sein Reich in zwei Hälften, die eine gab er Tschuinis, die andere seinem Sohne.



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Nach einer guten Weile besuchte Tschuinis seinen Vater und seine Mutter. Am Abend wusch der König -Tschuinis -seine Füße und ließ das Fußwasser daselbst in der Stube stehen. In der Nacht aber bekamen die beiden Alten im Schlafe heftigen Durst. Sie tranken von demselben Wasser, in dem der Sohn seine Füße gewaschen hatte. Der Sohn erwachte und sagte: »Sieh Vater, sieh Mutter, das war der Traum, den ich damals hatte und euch nicht erzählen wollte: ihr würdet das Wasser trinken, das mir nicht einmal taugen würde, nochmals meine Füße darin zu waschen.«


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