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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Der starke Bruder und die treulose Schwester

Es waren einmal zwei Geschwister, eine Tochter und ein Sohn. Vater und Mutter waren ihnen früh gestorben, und man hatte sie beide einem Herrn übergeben. Als sie erwachsen waren, da wurde das Mädchen bei der Frau Hauptmagd, der Junge aber beim Herrn Kutscher. Sie liebten einander so sehr, daß sie ganz unzertrennlich waren. Eines Tages sagte der Herr zum Kutscher: »Da du mir so gut dienst, so will ich dir ein Gespann geben; fahr und sieh dich in der Welt um.« Da fuhren alle beide, Bruder und Schwester, aus, sich in der Welt umzusehen. Wie sie so fuhren, führte sie der Weg immer durch einen großen Wald, bis er sich zuletzt im Dickicht verlor. Der Bruder stieg aus dem Wagen, löste die Glocke von der Femerstange und sagte zur Schwester: »Bleib hier, ich will den Weg suchen gehen, und wenn ich ihn gefunden habe, werde



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ich mit der Glocke klingeln, dann fahr du nach der Richtung, woher der Klang kommt.«Der Bruder ging, und das Mädchen blieb mit Pferd und Wagen im Walde. Mit Gottes Hilfe gelang es dem Bruder auch wirklich, einen Weg zu finden, an dessen Rande auf einem Wegweiser geschrieben stand: »Zwei Werst von hier steht ein Räuberschloß, in dem wohnen zwölf Räuber, die täglich auf Raub ausgehen.« Darüber freute er sich sehr und ging zum Schloß. Dort angekommen, bewunderte er die mächtigen Mauern und trat durch das Tor ein. Drinnen fand er Hausgerät jeder Art, aber keine menschliche Seele. Er nahm sich eine Flinte und einen Bohrer und stieg auf den Boden. Oben angelangt, bohrte er sich über dem Bett der Räuber ein Loch und wartete wohlgemut, daß die Räuber sich zur Ruhe begeben würden.

Bald danach kam ein vierschrötiger Kerl, aß und legte sich ins Bett. Als er eingeschlafen war, schoß der Bruder ihn tot. Nach einer kleinen Weile kamen drei Räuber auf einmal und legten sich in dasselbe Bett; sie schoß er auch tot und so einen nach dem andern. Als der letzte eintrat, stieg er vom Boden herab und sagte: »Ergib dich im guten, sonst erschieße ich dich wie deine Brüder.« Der Räuber ergab sich im guten, und der Bruder führte ihn in die zwölfte Kammer und fesselte ihn an die Wand.

Dann stieg er auf den Turm und läutete seiner Schwester. Als seine Schwester angefahren kam, erzählte er ihr den ganzen Vorfall. Einige Tage danach sagte der Bruder zur Schwester, sie solle zu Hause bleiben und möge sich in allen Kammern nach Belieben aufhalten, nur die zwölfte solle sie nicht betreten; er werde auf die Jagd gehen.

Der Bruder ging, und die Schwester blieb zu Hause. Wohl ging sie von Kammer zu Kammer, doch die Zeit wurde ihr lang. Da kam es ihr in den Sinn, daß sie doch auch in die zwölfte Kammer gehen sollte, um zu sehen, was denn dort wäre. Sie ging hinein und fand den Räuber an die Wand gefesselt. Der Räuber bat sie flehentlich, ihn zu befreien. Die Schwester erhörte seine Bitten und befreite ihn. Als er freigekommen war, sagte er, jetzt könnte er sie töten, aber wenn sie verspräche, seine Frau zu werden, dann wollten sie beide den Bruder töten und glücklich miteinander leben. Die Schwester fragte: »Wie wollen wir ihn denn töten?« Der Räuber sagte: »Stell dich krank, und wenn er heimkommt,



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so sage, hier sei ein Bettler gewesen, der habe gesagt, du solltest dir Wolfsmilch verschaffen, dann werdest du gesund werden. Wenn aber der Bruder Wolfsmilch holen geht, werden ihn die Wölfe zerreißen.« Der Schwester gefiel der Rat. Danach ließ der Räuber sich wieder fesseln. Als der Bruder heimkam, fand er seine Schwester krank und fragte sie, welche Arznei ihr helfen würde. Die Schwester erwiderte, da sei heute ein Bettler gekommen, der habe gesagt, daß bei einer solchen Krankheit Wolfsmilch sehr heilsam sei. Der Bruder ging sogleich in den Wald, und es gelang ihm, Wolfsmilch zu finden, dazu ein junges Wölflein, das er auch mit nach Hause nahm. Als er seiner Schwester die Wolfsmilch eingegeben hatte, da sagte sie, der Bettler habe sie betrogen. Die Wolfsmilch nütze gar nichts. Da sei heute ein Jude gekommen und habe gesagt, die Wolfsmilch sei nichts wert, aber Bärenmilch sei gut. Der Bruder ging wieder in den Wald, und es gelang ihm, Bärenmilch zu finden und auch einen jungen Bären mitzubringen. Als er ihr die Bärenmilch eingegeben hatte, da sagte sie, der Teufelsjude habe sie schön angeführt; aber eben erst sei ein alter Doktor fortgegangen, der habe gesagt, daß für solch ein Leiden Fuchsmilch gut sei.

Der Bruder ging sehr betrübt fort, aber kaum war er in den Wald gekommen, da begegnete er einer Füchsin, die mit ihrem Jungen daherlief. Sobald ihn die Füchsin bemerkt hatte, kam sie auf ihn zu. Er nahm das Füchslein und melkte die Füchsin. Dann ging er eilends (mit der Fuchsmilch und dem Füchslein) heim. Als er zu seiner Schwester kam, sagte sie: »Der Quacksalber hat sich über mich lustig gemacht, aber als du fort warst, da kam eine Jungfer, die sagte, hier unter unserer Wohnung sei ein kleiner Pfad, der führe zu einem Keller. In dem Keller auf einem Tisch lägen Kringel, von denen bring mir einen, dann werde ich gesund.« Der Bruder begab sich geradeswegs zum Keller, und seine Tiere folgten ihm. Während er ging, rief ihm eine Stimme zu: »Geh schnell in den Keller, wirf eine Kopeke auf den Tisch und komm wieder heraus!«Der Bruder ging in den Keller, nahm einen Kringel, warf eine Kopeke auf den Tisch und ging hinaus. Wie er aber zur Türe hinaustrat, schnappte sie zu, und seine Tiere blieben darin. Zur Schwester gekommen, gab er ihr den Kringel, aber sie sagte: »Der wird mir wahrscheinlich gar nichts nützen, ich werde sterben müssen; komm, daß ich dir



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zum letztenmal den Kopf kratze.« Der Bruder legte seinen Kopf in den Schoß der Schwester und schlief bald ein. Als er eingeschlafen war, schnitt ihm die Schwester seine langen Haare ab, und da verließ ihn seine große Kraft. Als die Schwester das getan hatte, da kam der Räuber mit einem großen, langen Messer aus der Kammer herbeigeeilt und wollte den Bruder erstechen. Aber der bat, er möge ihm noch erlauben, zu Gott zu beten, dann könne er ihn erstechen. Als der Bruder gebetet und der Räuber sein Messer geschliffen hatte, da waren auch die Tiere des Bruders zur Hand. Er wies auf den Räuber, da stürzten sich alle Tiere auf einmal auf ihn und rissen ihn in Stücke.

Sobald sich der Bruder von seinem Schreck erholt hatte, ging er zur Schwester und sagte: »Dafür, daß du mich getäuscht hast und töten wolltest, sollst du deine Strafe erhalten. Komm mit mir zu den großen Birken, dort will ich dich strafen.« Die Schwester folgte ihm betrübt, und als sie bei den Birken angekommen waren, die so zusammengewachsen waren, daß sich in der Mitte eine Öffnung befand, da hob der Bruder seine Schwester in die Höhlung zwischen die Birken, stellte ein großes Gefäß mit Wasser und ein zweites mit Kohlen vor sie hin und sagte: »Wenn du dies verzehrt hast, sollst du deiner Qual ledig sein.« Nachdem er das gesagt hatte, ging er mit seinen Tieren davon. Danach gelangte er in eine Stadt, die war so still, daß er keinerlei Geräusch vernahm. Da bemerkte er, daß eine Küchentür offenstand, und trat durch sie in die Küche, wo er ein Mädchen fand. Das fragte er, was denn da los sei, weshalb es so still sei. Das Mädchen begann nun in schrecklicher Furcht zu erzählen: In einem Häuschen hause ein neunköpfiger Drachen; dem müsse man jeden Monat einen Menschen und vier Schafe geben, sonst komme er und vertilge die ganze Stadt. Heute habe man gelost, und das Los sei auf die Königstochter gefallen, und um zehn Uhr bringe man sie dem Drachen, dann werde mit allen Glocken geläutet und auf Hörnern geblasen. Als das Mädchen so erzählt hatte, begab er sich zum Drachen, dabei mußte er an drei Wachen vorbei. Als er zur ersten kam, fragte sie ihn, wohin er wolle. Er erwiderte: »Da und dahin, laßt mich nur durch.« Die Wache gehorchte und ließ ihn hindurch. Nachdem er die erste Wache passiert hatte, ging es durch die beiden andern noch leichter. Als er zu dem Häuschen gelangte, bebte ihm zwar



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das Herz, aber er faßte Mut und ging hinein. Eingetreten, hieb er sofort dem Drachen mit seinem Schwert einen Kopf herunter, schnitt ihm die Zunge aus und steckte sie in seinen Sack; aber den Kopf selbst trugen die Tiere hinaus, und ebenso tat er mit allen übrigen Köpfen. Als er sein Werk beendet hatte, legte er sich auf das Lager des Drachen zur Ruhe. Um zehn Uhr wurde unter Glockengeläute und Hörnerschall die Königstochter herangeführt. An dem Häuschen angelangt, stieß man die Königstochter hinein, und dann flohen alle mit Geschrei davon. Die Arme verlor vor Angst das Bewußtsein, aber der Bruder sagte: »Fürchte dich nicht, den Drachen habe ich erschlagen, schau, hier sind seine Zungen in meiner Hand, und wenn du versprichst, mein Weib zu werden, so werde ich dir die Freiheit geben.«

Sie versprach es, sein Weib zu werden, und ging aus dem Häuschen auf ihr Schloß. Als sie zur ersten Wache gelangte, da hatte der wachhabende Soldat alle Köpfe in einen Sack gesammelt und sagte zu ihr: »Wenn du mein Weib zu werden versprichst, so lasse ich dich am Leben, sonst töte ich dich.« Sie versprach sein Weib zu werden.

Der König veranstaltete eine Hochzeit, und Gäste wurden geladen und an den Hochzeitstisch gesetzt. Da trat der Bruder mit seinen Tieren an das Fenster und schickte den Fuchs hinein, damit er dem Bräutigam die Nase abrisse. Der kluge Fuchs tat es. Da ließ der König alle Hunde auf ihn hetzen und schickte nach dem Arzt. Der verband dem Bräutigam die Nase, und alle fuhren zur Kirche. Unterwegs trat ihnen der Retter entgegen und fragte die Braut: »Wo ist der Bräutigam?«Als der betrügerische Bräutigam ihn sah, entfloh er. Der König aber veranstaltete mit dem echten Bräutigam eine neue Hochzeit. Als sie Hochzeit gefeiert hatten, erinnerte sich der Bruder seiner Schwester und fuhr nach ihr. Als er bei den Birken anlangte, da fand er wohl noch etwas Leben in ihr, aber sie war schwarz wie eine Krähe und völlig ausgehungert, denn sie hatte weder Kohlen gegessen, noch Wasser getrunken. Der Bruder führte sie auf sein Schloß und erhob sie zu einer Kammerfrau.

Aber in jener Stadt war ein Zauberer. Mit dem besprach sich die Schwester, wie sie den Bruder töten könnten. Der Zauberer ersann einen Anschlag: Man müsse einen Wolfszahn vergiften, und wenn sie ihm dann das Bett mache, solle sie den Zahn auf das Kopfkissen legen. Und



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wenn er sich schlafen lege, werde sich der Zahn ihm in den Rücken bohren, und er werde daran sterben. Die Schwester folgte dem Rat, und der Bruder starb. Als er gewaschen war und auf der Bahre lag, da ließ man zum letztenmal die Tiere herein, ihn zu beschnuppern. Der Fuchs schnüffelte sofort den Wolfszahn auf und zog ihn heraus, aber da war er auf der Stelle tot. Dem Fuchs zog der Wolf den Zahn heraus und dem Wolfe der Bär.

Nun gab es niemanden mehr, der dem Bären den Zahn herausgezogen hätte, so nahm man ihn und warf ihn zum Fenster hinaus. Dann wurde die Schwester festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Den Zauberer nahm man auch fest, und als der Tag des Gerichts gekommen war, da hing man ihn am linken Beine auf, und der Schwester legte man eine Schlinge um die Zunge und hängte beide an einen Galgen. Aber der Bruder lebt noch heute glücklich mit der Königstochter.


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