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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Die wunderbare Handmühle

Ein armes elternloses Mädchen war allein geblieben wie ein Lamm und als Pflegekind in eine böse Wirtschaft gekommen, wo es keinen anderen Freund hatte als den Hofhund, dem es zuweilen eine Brotrinde gab.



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Das Mädchen mußte vom Morgen bis zum Abend für die Bäuerin auf der Handmühle mahlen, und stand einmal die Mühle still, weil die müde Hand ausruhen wollte, so war gleich der Stock da, um das arme Kind anzutreiben. Des Abends waren die Hände der Waise so starr wie Klötze. Das Gnadenbrot, das die Waisen essen, mußte fast immer mit Schweiß und Blut bezahlt werden. Niemand hörte die Seufzer der Waisen und zählt die Tränen, die über ihre Wangen rollen.

Eines Tages, als das arme Mädchen wieder die schwere Mühle drehte und traurig war, weil die Frau ihr nichts zu essen gegeben hatte, humpelte ein einäugiger Bettler in zerlumpten Kleidern heran. Es war kein wirklicher Bettler, sondern ein Zauberer aus Finnland, der sich, um nicht erkannt zu werden, in einen Bettler verwandelt hatte.

Der Bettler setzte sich auf die Schwelle, sah sich die schwere Arbeit des Kindes an, nahm ein Stück Brot, steckte es dem Kinde in den Mund und sagte:

»Mittag ist noch weit, iß etwas Brot zur Stärkung.«

Die Waise nahm den trockenen Bissen, und er schmeckte ihr besser als Weißbrot, auch fühlte sie gleich ihre Kräfte wachsen.

»Du Arme«, sagte der Bettler, »dir müssen wohl von dem ewigen Drehen die Hände recht müde sein?«

Das Mädchen sah den Alten ungewiß an, wie um zu forschen, ob seine Frage mitleidig oder spöttisch gemeint sei. Da es aber fand, daß sein Antlitz einen liebreichen und ernsthaften Ausdruck hatte, erwiderte sie: »Wer kümmert sich um die Hände einer Waise? Das Blut dringt mir unter den Nägeln hervor, und der Stock fährt mir über den Rücken, wenn ich nicht soviel arbeiten kann, wie die Frau verlangt.«

Der Bettler ließ sich erzählen, was für ein Leben das Kind hatte. Als die Waise alles gesagt hatte, wie es die Frau mit ihr trieb, nahm der Alte aus seinem Sacke ein altes Tuch, gab es ihr und sagte:

»Wenn du dich heute abend schlafen legst, binde dies Tuch um deinen Kopf und seufze aus der Tiefe des Herzens: >Süßer Traum, trage mich dahin, wo ich eine Handmühle finde, die von selbst mahlt, so daß ich mich nicht mehr abmühen muß!«

Die Waise barg das Tuch an ihrer Brust und dankte dem Alten, der sich nun entfernte.



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Als sich das Waisenkind abends schlafen legte, band es das Tuch um den Kopf und sprach unter Seufzern und Tränen seinen Wunsch, obgleich es selber nicht viel Hoffnung darauf setzte. Dennoch schlief es leichteren Herzens ein als sonst. Ein wunderbarer Traum führte das Mädchen in weite Ferne und ließ es viel seltsame Dinge erleben. Zuletzt kam es tief unter die Erde -da mochte wohl die Hölle sein, denn alles sah schauerlich und fremd aus. Die Hoftore standen weit offen, und kein lebendes Wesen rührte sich. Als das Mädchen weiterging, hörte es ein Geräusch wie von einer Handmühle. Dem Geräusch folgend, ging das Mädchen schüchtern weiter, bis es in einer Kammer einen großen Kasten fand, aus dem das Geräusch drang. Das Mädchen war aber nicht stark genug, den Kasten auch nur anzuheben, geschweige denn von der Stelle zu bringen.

Da sah es im Stall ein weißes Pferd an der Krippe, und es zog das Pferd hinaus und spannte es mit Stricken vor den Kasten. Dann setzte es sich auf den Deckel des Kastens, nahm eine lange Rute und fuhr nach Hause. Als es am andern Morgen erwachte, stand der Traum so lebendig vor ihm, als wäre es wirklich auf dem Kasten gefahren. Es öffnete die Augen - da stand der Kasten wirklich neben seinem Lager. Es sprang auf, nahm einen halben Scheffel Gerste, der vom Abend nachgeblieben war, schüttete es in die Öffnung, die es im Deckel des Kastens fand, und siehe da: Die Mühle fing augenblicklich an zu lärmen! Es dauerte nicht lange, so war das fertige Mehl im Sack . . . Jetzt hatte die Waise ein leichtes Leben; die Mühle im Kasten mahlte alles, was man ihr bot, und das Mädchen hatte weiter keine Mühe, als das Getreide oben hineinzuschütten und das Mehl unten herauszunehmen. Den Deckel des Kastens durfte es aber nicht öffnen, das hatte ihm der Bettler streng verboten, es würde sein Tod sein.

Die Frau merkte bald, daß der Kasten dem Waisenkind beim Mahlen half; sie beschloß daher, das Mädchen aus dem Hause zu jagen und dafür den Mahlkasten zu behalten, der kein Futter verlangen würde. Zuerst aber wollte sie sehen, was es mit der wunderbaren Mühle für eine Bewandtnis habe.

Die Begierde, das Geheimnis zu erfahren, peinigte die Frau bei Tag und Nacht. An einem Sonntagmorgen schickte sie darum das Waisenkind



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zur Kirche und sagte, sie selbst wolle das Haus hüten. Ein so freundliches Anerbieten hatte die Waise noch niemals vernommen. Vergnügt zog sie ein reines Hemd an, schlüpfte schnell in ein sauberes Kleid und machte sich eilig auf den Weg.

Die Wirtin wartete hinter der Tür, bis das Mädchen verschwunden war, nahm dann einen halben Scheffel Getreide und schüttete es auf den Deckel, damit der Kasten es mahle; aber der Kasten tat es nicht. Erst als eine Handvoll durch die Öffnung des Deckels rutschte, begann er zu lärmen. Nun versuchte die Frau den schweren Kastendeckel zu heben, und nach vieler Mühe ging er endlich so weit auf, daß sie den Kopf hineinstecken konnte, aber - o weh! —eine lichte Lohe schlug aus dem Kasten heraus und verbrannte die Habgierige, daß nichts weiter von ihr übrigblieb als ein Häuflein Asche.

Nach einiger Zeit wollte der Mann eine andere Frau nehmen, da fiel ihm die Waise ein, die nun groß und erwachsen war, so daß er nicht erst anderswo auf die Freite zu gehen brauchte. Die Hochzeit wurde still gefeiert, und als sich die Nachbarn am Abend entfernt hatten, ging der Mann mit seiner jungen Frau zu Bette. Als diese den andern Morgen in die Kammer ging, war der wunderbare Kasten verschwunden, ohne daß man die Spur eines Diebes fand. Obgleich nun überall gesucht und nah und fern angefragt wurde, ob der Kasten irgend jemand zu Gesicht gekommen sei, hat man doch bis auf den heutigen Tag nichts entdeckt. Die wunderbare Handmühle, die einst ein Traum aus der Tiefe der Erde heraufgeholt hatte, mußte wohl auf ebenso wunderbare Weise dahin zurückgekehrt sein.


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