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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Die Sonnentochter

Vor Zeiten jagte einmal ein Mann auf einer Turkutschanka durch die eisigen Schneefelder des Nordens. Plötzlich erblickte er vor sich einen Hügel, auf dem ein Mensch saß, der seinen Kopf nicht gegen die grimmige Kälte geschützt hatte und doch nicht fror. Da fuhr er mit seiner Turkutschanka an den Sitzenden heran. Der fragte ihn: »Wohin fährst du?«

»Ich jage auf Geheiß des Zaren durchs Land«, antwortete der Mann auf der Turkutschanka. »Die Alten sagen, daß es eine launische Sonnentochter gäbe. Die soll ich suchen und zu meiner Frau machen, damit bei uns immer die Sonne scheint. Warum aber sitzest du hier so ohne Mütze? Was bist du für ein Mensch?«

»Ich bin einer, der alles sieht und alles hört, was es in der Welt zu sehen und zu hören gibt«, erwiderte der Mann.



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»Das trifft sich gut! Ich werde dich brauchen können! Steig ein, laß uns zusammen weiterfahren«, sagte der Mann auf der Turkutschanka. Und so fuhren sie und fuhren, bis sie schließlich auf einem Hügel einen Menschen sitzen sahen, der in seinen Händen einen Bogen und zwei Pfeile hielt.

»Heda, Brüderchen! Was bist du für ein Mensch?«fragten sie ihn. »Ich bin einer, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlen.«

»Das trifft sich gut! Wir werden dich brauchen können. Steig auf, laß uns zusammen weiterfahren. Wir sind unterwegs, die launische Sonnentochter zu suchen«, sagten die beiden auf der Turkutschanka; und so fuhren die drei zusammen weiter.

Sie fuhren und fuhren, bis sie schließlich am Rande einer Ebene einen Mann sahen, der sich aufrichtete und sogleich wieder duckte, als fürchte er sich vor etwas. Die drei fuhren heran und fragten ihn: »Heda, Brüderchen, was bist du für ein Mensch?«

Der Mann antwortete leise:

»Still, still, seht ihr denn nicht die wilde Rentierkuh mit ihrem Kälbchen dort? Die will ich greifen. Ich kann so schnell laufen wie der Wind, aber weil das dem Zaren dieses Landes nicht gefällt, hat er mir ein Bein gefesselt, damit ich nicht allzu flink bin. Nun vergnüge ich mich hier, die Rentierkuh zu fangen.«

»Das trifft sich gut«, riefen die Männer auf der Turkutschanka. »Zeig uns deine Kunst!« Der Gefesselte jagte davon und ergriff die Rentierkuh am Bein.

»Du bist ein geschickter Mann«, riefen die drei. »Wir werden dich brauchen können. Steig auf, laß uns zusammen weiterfahren. Wir sind unterwegs, die launische Sonnentochter zu suchen.«

Und so fuhren die vier zusammen weiter. Sie fuhren und fuhren, bis sie schließlich an zwei hohe Berge kamen, zwischen denen ein Mensch saß, der Schnee auf der Nase hatte. Die vier fragten ihn:

»Heda, Brüderchen, was bist du für ein Mensch? Warum liegt auf deiner Nase Schnee?«

»Ich bin einer, dem an Stärke niemand gleichkommt«, sagte der Mann.

»Wenn ich mit meiner Nasenspitze diese beiden Berge berühre, verschwinden sie, als wären sie nie gewesen.«



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»Das trifft sich gut«, sagten die Männer auf der Turkutschanka. »Zeig uns deine Kunst!«

Der Mann drehte seinen Kopf nach rechts und nach links und berührte mit seiner Nasenspitze die beiden Berge. Sogleich waren sie verschwunden.

»Du bist ein starker Mann«, riefen da die vier. »Wir werden dich brauchen können. Steig auf, laß uns zusammen weiterfahren. Wir sind unterwegs, die launische Sonnentochter zu suchen.«

Und so fuhren die fünf zusammen weiter.

Sie fuhren und fuhren, bis sie plötzlich vor sich einen hohen Felsen aufragen sahen, dessen Spitze einer riesigen Nadel glich. Oben aber, auf der äußersten Spitze des Felsens, saß ein barhäuptiger Mann. Seine Haare waren schneebedeckt.

»Was für ein wunderlicher Mann!« sagte einer der fünf.

Sie fuhren dicht an den Felsen heran und riefen: »Heda, Brüderchen! Was bist du für ein Mensch? Warum sitzest du dort oben?«

»Ich bin einer, der Schneestürme machen kann«, antwortete der Mann. »Wenn ich meinen Kopf schüttele, kommt ein gewaltiger Sturm auf, und Schnee bedeckt das Land.«

»Das trifft sich gut«, sagten die Männer auf der Turkutschanka. »Zeig uns deine Kunst!«

Der Barhäuptige schüttelte seinen Kopf, und es begann ein so gewaltiges Schneetreiben, daß die Gefährten angstvoll schrien:

»Hör auf! Es ist genug! Du bringst uns um!«

Sogleich hörte der Mann auf, seinen Kopf zu schütteln, und der Schneesturm legte sich.

»Komm mit uns«, riefen die fünf. »Wir sind unterwegs, die launische Sonnentochter zu suchen. Wir werden dich brauchen können.«

Der Barhäuptige willigte ein. So fuhren die sechs zusammen weiter. Und sie fuhren und fuhren, bis sie schließlich zu einem großen See kamen.

An dem Ufer des Sees saß ein Mann, der seine Lippen weit vorgeschoben hatte, als wollte er trinken.

Die sechs riefen ihn an:



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»Heda, Brüderchen! Was bist du für ein Mensch, und warum sitzest du hier?«

»Ich bin einer, der einen großen See austrinken kann, auch diesen hier. Und die beiden Fische, die darin schwimmen, verschlucke ich noch dazu«, antwortete der Mann. Als die sechs auf der Turkutschanka das hörten, sagten sie:

»Das trifft sich gut! Zeig uns deine Kunst!«

Der Mann schob seine Lippen noch weiter vor, schlürfte das Wasser des Sees in sich hinein und verschluckte auch noch die beiden Fische, die darin herumschwammen. Die sechs Reisegefährten sahen einander verwundert an und sagten:

»Willst du nicht mit uns fahren, Brüderchen? Wir werden dich brauchen können. Wir sind unterwegs, die launische Sonnentochter zu suchen.«

Der Mann willigte ein. Und so fuhren die sieben zusammen weiter. Sie fuhren und fuhren, bis sie schließlich an ein gläsernes Haus kamen, durch dessen dicke Wände sie nicht hindurchschauen konnten und dessen Türen fest verschlossen waren.

Da blickte der Allessehende und Alleshörende in das Haus hinein und sah darin ein schönes junges Mädchen sitzen. Der, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlten, ergriff seinen Bogen und schoß auf eine der verschlossenen Türen des gläsernen Hauses. Die Pfeile zersplitterten das Schloß. Die Tür sprang auf, und die sieben Männer traten ein. Das Innere des Hauses war aus golden leuchtendem Glas, das ein strahlendes Licht verbreitete. Ein schönes Mädchen saß darin, mit kupfernem Schmuck behangen.

»Woher kommt ihr, und was wollt ihr?«fragte es die sieben Männer.

»Wir sind unterwegs, die launische Sonnentochter zu suchen«, antworteten sie. »Kannst du uns nicht einen Rat geben, wo wir sie finden können?«

»Das kann ich wohl tun«, sagte das schöne Mädchen. »Ich kenne die Sonnentochter und weiß, wo sie zu finden ist. Doch bevor ich euch den rechten Weg weise, will ich ein Mahl bereiten.«

Es ging hinaus und kam nach einer Weile mit einem Arm voll Holz zurück, das aussah wie rotes Kupfer. Und es ging abermals hinaus und



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kam zurück mit einem Arm Voll Holz, das aussah wie Eisen. Nun zündete das Mädchen auf der Herdstelle ein Feuer an und warf das kupferrote und das eisenfarbene Holz hinein. Von der Herdstelle stieg Rauch auf, Flammen schlugen empor, und die sieben Männer waren wie blind. Als sich der Rauch ein wenig verzogen hatte, war das Mädchen verschwunden. Nur sein höhnisches Lachen und Rufen schaute noch von weit her zu den Männern herüber: »Seht doch die sieben, sie wollen mich, die Sonnentochter, fangen! Ha-ha-ha-ha!«

Das Feuer wurde größer und größer, und die Kleider der Männer begannen zu brennen. Da versuchte der Mann, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlten, das Feuer zu löschen. Das Feuer aber verlöschte nicht, es loderte nur noch heller auf.

Nun versuchte der Mann, der das wilde Rentier am Bein ergriffen hatte, das Feuer mit seinen Händen zu ersticken. Das Feuer aber erstickte nicht. Die Flammen wurden größer und größer, und eine Nebelwolke stieg aus ihnen auf. Jetzt trat der Mann mit dem schneebedeckten Haar an das Feuer heran. Er schüttelte den Kopf, und ein gewaltiger Schneesturm durchtobte das gläserne Haus. Die Nebelwolke stieg hoch, begann zu wachsen und senkte sich langsam wieder herab. Da wurde das Feuer kleiner und kleiner.

»Nun bin ich an der Reihe«, rief der Mann, der den See mit den beiden Fischen in sich hineingeschlürft hatte. Er sprang zur Herdstelle und spie so lange Wasser in die knisternde Glut, bis das Feuer gänzlich erloschen war. Eilig wollten die sieben das gläserne Haus verlassen, aber die Tür hatte sich schon wieder fest geschlossen. Diesmal gelang es jedoch auch dem Mann mit den Pfeilen nicht, die Tür zu öffnen. Seine Pfeile prallten mit verbogenen Spitzen zurück.

Da berührte der Mann, der Berge zertrümmern konnte, mit der Spitze seiner schneebedeckten Nase die Wand des gläsernen Hauses. Das Haus zerbrach in zwei Hälften, und die sieben Männer traten ins Freie. Der Allessehende und Alleshörende hielt sogleich Ausschau nach der Sonnentochter. »Weit weg von hier erblicke ich die Launische«, rief er.

»Sie glaubt sich in Sicherheit und lacht über uns.«

Kaum hatte der Schnelläufer das gehört, da jagte er ihr auch schon nach.



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Wieder hielt der Allessehende und Alleshörende Ausschau.

»Unser Läufer kann die Sonnentochter nicht einholen«, sagte er. »Die schwere Eisenkugel an seinem Bein hält ihn zurück.«

Sogleich spannte der Mann, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlten, seinen Bogen, legte an und durchschoß das Schloß an der Kette der schweren Eisenkugel. Die Kugel blieb liegen, und der Läufer stürmte mit doppelter Geschwindigkeit davon.

Der Allessehende und Alleshörende verfolgte ihn weiter mit seinen Blicken. Plötzlich rief er: »Oh, oh, ein Unglück ist geschehen. Ich sehe den Läufer ratlos am Ufer eines großen Sees stehen, während am jenseitigen Ufer die Sonnentochter sitzt und ihn auslacht. Zauberkraft muß ihr geholfen haben, das große Wasser zu überspringen.«

Da ging der Mann, der als erster auf der Turkutschanka gesessen hatte und daher von den übrigen »der Erste« genannt wurde, an seinen Schlitten. Er spannte sein geflecktes Rentier aus, legte ihm einen goldenen Sattel auf den Rücken und sprach zu dem Mann, der den See ausgetrunken hatte:

»Sitz auf und reite zu unserem Läufer! Hilf ihm, über den See zu kommen

Der Mann tat, wie ihm geheißen. Er ritt an den See, legte sich auf die Erde, schob die Lippen weit vor und schlürfte das Wasser des Sees in sich hinein. Sofort setzte sich der Läufer in Bewegung, und schon nach wenigen Augenblicken hatte er die Sonnentochter eingeholt.

Die Männer hoben das Mädchen auf das gefleckte Rentier und kehrten mit ihm zu den wartenden Gefährten zurück.

Nun fuhren die sieben mit der Sonnentochter in ihrer Mitte den Weg zurück, den sie gekommen waren.

An der Stelle, wo der Mann gesessen hatte, der große Seen leer trinken konnte, sprach der Erste zu ihm:

»Ich danke dir, daß du mir geholfen hast. Steige nun aus und geh heim zu den Deinen. Die beiden Fische aber, die du damals verschluckt hast, wirf wieder ins Wasser. Sie werden sich vermehren und den Menschen zur Nahrung dienen. Du aber sollst der Herr allen Wassers sein.«

Sie fuhren weiter und kamen zu der Stelle, wo der Mann mit dem schneebedeckten Haar gesessen hatte. Der Erste sprach zu ihm:



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»Ich danke dir, daß du mir geholfen hast. Steige nun aus, bleibe hier und sei der Herr aller Schneestürme. ((Und wieder fuhren sie weiter und kamen dorthin, wo der Mann gesessen hatte, der mit seiner Nasenspitze Berge zertrümmern konnte.

»Ich danke dir, daß du mir geholfen hast«, sagte der Erste zu ihm. »Steige nun aus, bleib hier und sei der Herr der Berge. Sorge für die Tiere, die dort leben. Schicke etliche davon zu den Menschen, damit sie ihnen dienen und Nahrung geben.«

Und weiter fuhren sie und kamen dorthin, wo der Schnelläufer gehockt hatte. Der Erste sprach zu ihm: »Ich danke dir, daß du mir geholfen hast. Steige nun aus, bleibe hier und sei der Herr der wilden Rentiere. Schütze sie, damit sie sich vermehren können und den Menschen zur Nahrung dienen.«

Und wieder fuhr die Turkutschanka weiter, und die Gefährten kamen dorthin, wo der Mann gesessen hatte, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlten. Der Erste sagte zu ihm: »Ich danke dir, daß du mir geholfen hast. Steige nun aus, geh heim zu den Deinen und bringe den Menschen das Glück in der Jagd.«

Und weiter ging die Fahrt bis zu der Stelle, wo der Allessehende und Alleshörende in die Turkutschanka gestiegen war. Da sagte der Erste zu ihm:

»Auch dir danke ich, daß du mir geholfen hast. Steige nun aus, bleibe hier und wache über die Neugeborenen, daß sie klare Augen und helle Ohren bekommen.«

Und weiter fuhr die Turkutschanka. Sie fuhr und fuhr, bis der Erste mit der Sonnentochter in sein Heimatland kam. Dort lebten sie fortan glücklich zusammen. Von der Zeit an war die Sonnentochter nie mehr launisch, und die Sonne strahlte über diesem Lande zur Freude aller Menschen.


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