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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


6. ANEKDOTEN

Der Begriff der Anekdote muß hier etwas weit gefaßt werden; er umfaßt alle Geschichten, die in den vorhergehenden Gruppen keinen Platz gefunden haben. Da ist gleich die Geschichte



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von den drei Äpfeln (I, 214), eine Art Kriminalgeschichte, die als Rahmenerzählung zu der Novelle von den Wesiren Nûr ed-Dîn und Scheins ed-Dîn (oben S. 701) dient; sie geht auf ein indisches Vorbild zurück. Die Geschichte des Buckligen (I, 292) mit der des Barbiers von Baghdad und seiner Brüder ist eine große Sammlung von Anekdoten und längeren Erzählungen, die durch Einschachtelung zu einer Komödie großen Stils miteinander verbunden sind. Wir sahen oben 5. 670 bereits, daß die Geschichten der Brüder des Barbiers in der Stambuler Handschrift als selbständige Erzählung vorkommen. Die Rahmenerzählung wird nach China verlegt; in der Geschichte des christlichen Maklers finden sich so viele ägyptische Spuren, daß man sie nicht anders als in Ägypten entstanden denken kann (I, 300: Ardebb, Chân el-Dschâwali und Siegestor; 303f.: Chân Masrûr und die Straße Bain el-Kasrain; 308: Tor der Zuwaila und andere Kairiner Bezeichnungen). So bietet denn die Geschichte dieses Anekdotenzyklus die ähnlichen Schwierigkeiten wie die von 1001 Nacht als ganzem Werk; wir können jedoch wie dort einen Baghdader Grundstock annehmen, der in Ägypten erweitert wurde.

Die übrigen Anekdoten lassen sich in drei Gruppen einteilen, und zwar haben wir zuerst solche von Herrschern und ihren Kreisen, zweitens solche von freigebigen Leuten, drittens solche aus dem allgemein menschlichen Leben. Die Herrscher-Anekdoten beginnen mit Alexander dem Großen und enden mit den Mameluken-Sultanen. Eine Anekdote von Alexander findet sich III, 704. Auf ihn folgen die Perserkönige: König Kisra Anuscharwân und die junge Bäuerin (III, 489); Der gerechte König Anuscharwân (III, 706); Chosrau und Schirm und der Fischer (III, 494). Es wäre denkbar, daß diese persischen Anekdoten in den Hezâr Efsân gestanden



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haben und von dort ins Arabische übersetzt wurden; doch nötig ist diese Annahme nicht, da auch in anderen arabischen Büchern Erzählungen von Perserkönigen vorkamen, die als Quelle für Tausendundeine Nacht gedient haben mögen. Noch unter Perserkönigen lebten die Lachmiden, die arabischen Fürsten von el-Hîra; eine ihrer Prinzessinnen hieß Hind, und von ihrem Abenteuer mit 'Adt ibn Zaid handelt die Geschichte III, 543 —547; sie beruht in dieser Form vielleicht auf einer Ortslegende des Klosters von el-Hîra. Im »Buch der Lieder« (oben S. 677) wird das Abenteuer sowohl von 'Adt wie von einem anderen Dichter erzählt; es ist wohl aus zwei Versen des Dichters 'Adî herausgesponnen. Von den vier ersten Kalifen ist nur 'Omar J. vertreten; von ihm und einem jungen Beduinen handelt die Geschichte III, 512-518, der das Motiv der Bürgschaft zugrunde liegt; ferner wird 1 609, die berühmte Geschichte von ihm und der armen Frau erzählt. In die Zeit der omaijadischen Kalifen werden folgende Anekdoten versetzt: Von dem Beduinen und seiner Frau (IV, 660); Von Hind. der Tochter en-Nu'mâns, und el-Haddschâdsch (IV, 623; hier wird anachronistisch einem Mädchen aus der Zeit von el-Haddschâdsch der Name einer Lachmidenprinzessin beigelegt); Von dem Schreiber Jûnus und Walîd ihn Sahl (IV, 633); Von Hischâm ibn 'Abd el-Malik und dem jungen Beduinen (III, 93). Auch sonst werden die Omaijaden öfters genannt; so spielt die Geschichte von Ni'ma und Nu'm (oben S. 684) an ihrem Hofe, und die Geschichte von der Messingstadt ist von einer Rahmenerzählung umgeben, die uns nach Damaskus an ihren Hof versetzt. Solche »Einrahmungen«für Geschichten anderer Art sind häufig, in den meisten wird Harûn verwendet; aber die brauchen nicht besonders aufgezählt zu werden. Es ist auch bekannt, daß



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manche Anekdoten oder »Einrahmungen« von anderen Herrschern auf Harûn übertragen sind; dafür ließen sich viele Beispiele anführen. Harûn war für die späteren Geschlechter das Urbild eines großen und mächtigen Herrschers schlechthin, ebenso wie Salomo für die späteren Juden, und damit für Christen und Muslime. Beide waren keine wirklich bedeutenden Herrscher; aber da in ihrer Zeit Frieden herrschte, nach vorhergehenden Kämpfen und vor all den folgenden Unruhen, so prägte sie sich der Nachwelt besonders lebhaft ein, und die Herrschergestalten wurden gewissermaßen verklärt. Auf Harûn und seinen Kreis beziehen sich die folgenden Anekdoten: Harûn er-Raschîd und der falsche Kalif (III, 130; dies ist eigentlich ein kleiner Roman, in dem das Motiv des »Doppelgängers« aber ganz anders gewendet ist als oben S. 724); Harûn er-Raschîd, die Sklavin und der Kadi Abu Jûsuf (III, 160); Harûn er-Raschîd, die Sklavin und Abu Nuwâs (III, 298); Abu Nuwâs mit den drei Knaben und dem Kaufen (111,425); Der Kalif Harûn. er-Raschîd und die Herrin Zubaida im Bade (III, 440); Harûn er-Raschîd und die drei Dichter (III, 442); Harûn er-Raschîd und die beiden Sklavinnen (III, 446); Harûn er-Raschîd und die drei Sklavinnen (III, 447; eine Erweiterung der vorigen); Masrûr und Ibn el-Kâribi (III, 523; eine kleine Humoreske); Harûn er-Raschîd und die junge Beduinin (IV, 638); El-Asma'i und die drei Mädchen von Basra (IV, 641; ein Gegenstück zu der Geschichte von dem Lastträger und den drei Damen von Baghdad, aber aus einer ganz anderen Sphäre, auch bei Ibn es-Sarrâdsch, Paret S. 66 und 75); Ibrahîm el-Mausili und der Teufel (IV, 645); Ishâk von Mosul und der Teufel (JV 674; eine andere Fassung der vorhergehenden Anekdote). In die Zeit



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von Harûns Nachfolger el-Amin führen uns die beiden Anekdoten III, 497: Von Mohammed el-Amîn und Dscha'far ibn Mûsa und III, 577: Von Amin und seinem Oheim Ibrahim el-Mahdî, in die Zeit von dessen Bruder und Nachfolger el-Mamûn die folgenden: Ibrahîm el-Mahdî (III, 96; er hatte sich gegen el-Mamûn empört); Ibrahîm el-Mahdî und der Kaufmann (III, 321); Ishâk aus Mosul und der Kaufmann (III, 550; eine Variante der vorigen Anekdote); Ishâk el-Mausili (III, 115; die Geschichte der etwas romantischen Verlobung von el-Mamûn mit der Tochter von Hasan ibn Sahl. die auch sonst in der arabischen Literatur vorkommt: sie ist unhistorisch. worauf schon der muslimische Geschichtsschreiber Ibn Chald ûn aufmerksam macht); El-Mamûn und der fremde Gelehrte (III, 204); Der Mann aus Jemen und seine sechs Sklavinnen (III, 280); Abu Hassan ez-Zijâdi und der Mann aus Chorasân (III, 33'); Der Kalif Mamûn und die Pyramiden (III, 518). Die späteren Abbasiden sind seltener vertreten; aber manche Anekdote, die zuerst von ihnen erzählt wurde, mag jetzt unter dem Namen Harems stehen. Wir finden noch die Geschichte von dem Kalifen el-Mutawakkil und der Sklavin Mahbûba (III, 339) sowie die von ihm und el-Fath ihn Chakân (III, 578). Dieser selbe Kalif und sein Enkel el-Mu'tadid spielen eine wichtige Rolle in der Liebesgeschichte von Abu el-Hasan aus Chorasân (oben S. 708). Die Anekdoten von den Barmekiden sind weiter unten zusammengestellt; eine kurze Anekdote von einem der Tahiriden, die unter den Abbasiden mehrere Statthalterstellen bekleideten, findet sich III, 591. Von den fatimidischen Herrschern Ägyptens wird nur eine Anekdote erzählt, die von dem Kaufen el-Hâkim und dem Kaufmann (III, 488); dieser Kalif kommt auch in



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der Geschichte von der Frau mit dem Bären vor (III, 341 f.). Welcher ägyptische Herrscher in der Geschichte von el-Malik en-Nâsir und seinem Wesir (IV, 682) gemeint ist, läßt sich nicht sagen, da ja mehrere von ihnen diesen Beinamen trugen, und da auch sein Wesir nicht bestimmbar zu sein scheint. Vor einem Herrscher dieses Namens und vor el-Malik et-Zâhir werden die Schelmengeschichten erzählt (oben S. Wif.).

Eine eigene Gruppe bilden die Anekdoten von freigebigen Männern. Freigebigkeit und Gastfreundschaft waren neben der Tapferkeit bei den alten Arabern die höchsten Mannestugenden, und von ihnen wurde auch schon im alten Arabien manche Geschichte erzählt. Der Typus des freigebigen Helden war Hâtim, von dem oben S. 713 eine Legende angeführt wurde. Sein Nachfolger in diesem Rufe war Ma'n ib n Zâïda, von dem hier III, 87 und III, 88 zwei Anekdoten wiedergegeben werden. In diese Gruppe gehört ferner die Geschichte von Chuzaima ibn Bischr und 'Ikrima el-Faijâd (IV, 626) aus der Omaijadenzeit. Die Freigebigkeit und Verschwendung der Abbasiden kennt in den meisten Erzählungen, namentlich in den Märchen, gar keine Grenzen mehr; diesen Zug teilen sie aber mit den meisten Königen und Herrschern in 1001 Nacht. Der Glanz Harûns wurde auch auf das berühmte Geschlecht der Barmekiden übertragen, das unter Harûn ein so elendes Ende nahm und dessen Name heute in Ägypten die Landstreicher und anderes Gesindel bezeichnet. Der Wesir Dscha'far el-Barmeki ist der ständige Begleiter Harûns; ihm gilt eine besondere Anekdote (mit dem Bohnenverkäufer, III, 169). Von dem Edelmute seines Vaters erzählen die Anekdoten: Die Großmut des Barmekiden Jahja ibn Châlid gegen Mansûr (III, 195), Die Großmut



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Jahjas gegen den Brieffälscher (III, 199; eine ähnliche Geschichte wird von dem späteren Wesir 'All ibn el-Furât erzählt, und diese mag auf Jahja übertragen sein); Der Barmekide Jahja ihn Châlid und der arme Mann (III, 496). Dazu kommt noch die Geschichte von den Söhnen Jahjas ibn Châlid (das ist el-Fadl und Dscha'far) und Sa'îd ibn Sâlim el-Bâhili (III, 499).

Verschiedene Anekdoten aus dem Leben der Bürger finden sich neben denen von Herrschern und Ministern. Da ist zunächst die Geschichte von dem Schlachthausreiniger und der vornehmen Dame (III, 124). Das Thema »Reich und Arm«wird in drei Anekdoten variiert: Der Mann, der die goldene Schüssel stahl, aus der er mit dem Hunde gegessen hatte (III, 305); Der Arme und sein Freund in der Not (III, 335); Der reiche Mann, der verarmte und dann wieder reich wurde (III, 337). Von Jugend und Alter handeln zwei kleine Geschichten: Abu Suwaid und die schöne Greisin (III, 590); Die beiden Frauen und ihre Geliebten (III, 592); von Tyrannenmacht und den Leiden des Volkes erzählt die Geschichte von dem Pilgersmann und der alten Frau (III, 622); den Kauf einer Sklavin rechtfertigen die Verse des Abu el-Aswad (III, 446). Eine wahre Begebenheit aus der Zeit der Kreuzzüge mag in der Geschichte von dem Oberägypter und seinem fränkischen Weibe (V, 758) geschildert sein; denn die Kreuzfahrer wurden öfters von ihren Frauen begleitet.

Ganz eigentümlich sind die Geschichten von War dân dem Fleischer mit der Frau und dem Bären (III, 341) sowie von der Prinzessin und dem Affen (III, 347). Über sie ist in Band III, 5. 344, Anm. 1 und 5. 347, Anm. 1 das Nötige gesagt. Sie stammen sicher aus Ägypten. Besondere Typen,



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die im Orient für Anekdoten ein beliebtes Thema bildeten und bilden, sind die Eunuchen, Schulmeister und Richter; den Eunuchen wird Dummheit und Frechheit, den Schulmeistern Torheit, den Richtern Bestechlichkeit und Ungerechtigkeit vorgeworfen. Schon im Altertum gab es den Typus des törichten Schulmeisters. In 1001 Nacht erscheinen diese Typen aber nur einige Male: Eunuchen sind Buchait (I, 465) und Kafûr (1,467); in Band III, S. 533-539 lesen wir hintereinander die Geschichten von dem Schulmeister, der sich auf Hörensagen verliebte; Von dem törichten Schulmeister; Von dem Schulmeister, der weder lesen noch schreiben konnte. Von ungerechten und tyrannischen Richtern und Beamten ist nur gelegentlich die Rede (IV, 320 und 379); in V, 660 wird ein Spottvers auf die hohen Beamten mitgeteilt. Dagegen wird die Klugheit des Richters in zwei Anekdoten gerühmt, in der von Harûn er-Raschîd, der Sklavin und dem Kadi Abu Jûsuf (III, 160) sowie in der von demselben Kadi und der Herrin Zubaida (III, 452), während in der Geschichte von 'All Chawâdscha und dem Kaufmanne von Baghdad (VI, 340) ein leichtsinniger Richter durch einen kleinen Knaben über sein Amt belehrt wird.

Zuletzt sei hier noch des nächtlichen Abenteuers des Kalifen (VI, 240) gedacht, das bisher nur durch Galland überliefert ist. In ihm finden sich drei ausführlich und breit erzählte Anekdoten, die mit Märchenmotiven durchsetzt sind: Baba Abdullah verliert Besitz und Augenlicht wegen seiner Habgier; Sîdi Nu'mân hat eine Frau, die in Wirklichkeit eine Dämonin ist (oben S. 682); Chawâdscha Hasan el-Habbâl wird reich durch einen Diamanten, den seine Frau im Bauche eines Fisches findet. Diese Geschichten können der Baghdader Zeit angehören; das persische Wort bacht, »Glück«



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(VI, 266), kann schon damals in die arabische Umgangssprache aufgenommen sein. Die Erzählungen sind aber durch Galland überarbeitet worden, und auf ihn wird die europäische Ausdrucksweise zurückgehen, auf die oben S. 259, Anm. 1 und S. 262, Anm. 1 hingewiesen ist.

Im vorhergehenden ist versucht worden, von dem unendlich mannigfaltigen Inhalt von Tausendundeiner Nacht und seiner Geschichte ein Gesamtbild zu geben. Sehr viele Fragen mußten offen gelassen werden; namentlich in den Abschnitten über die Legenden und die Anekdoten ist noch ein reiches Feld für künftige Forschungen enthalten.

Wir haben gesehen, daß es außer Tausendundeiner Nacht noch eine ausgedehnte arabische Erzählungsliteratur gibt, aus der auch sehr vieles in unsere Sammlung übernommen wurde. Aber insofern ist das Buch von Tausendundeiner Nacht einzig in seiner Art, als es ein ungeschminktes Bild des muslimisch-arabischen Mittelalters in seiner ganzen Vielseitigkeit bietet. Und in ihm ziehen die Motive der Volkserzählungen aus vielen Ländern und vielen Zeiten an unseren Augen vorüber, da die islamische Kultur eine Fortsetzung und Zusammenfassung vieler anderer Kulturen ist.


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