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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


4. LEHRHAFTE GESCHICHTEN

Fabeln und Parabeln, namentlich auch Tiergeschichten, sind bei verschiedenen Völkern zu Hause. Sie waren den alten Ägyptern bekannt; aber schon in ptolemäischer Zeit kamen indische Fabeln nach Ägypten. Von griechischer und römischer Fabelliteratur mag hier ganz abgesehen werden. Die alten Araber haben ihre Tiergeschichten gehabt, und ähnliche Erzählungen finden sich bei vielen primitiven Völkern Afrikas. Da aber die beiden großen Fabelzyklen in 1001 Nacht, die vom weisen Sindbad und von Dschali'âd und Wird Chân, sicher indischen Ursprungs sind, so mögen auch die einzeln vorkommenden Erzählungen dieser Art aus Indien stammen. Die indische Geschichte vom Stier und Esel (I, 27) steht in der Rahmenerzählung; die von König Sindibâd (I, 62) hat sogar noch einen indischen Namen. In Band II ist eine Reihe von Fabeln nach indischer Art zu einer Art von Zyklus vereinigt. Das sind die Geschichten von den Tieren und dem Menschen Vom Wasservogel und der Schildkröte (II, 244); Vom Wolf und vom Fuchs (II, 249); Vom Falken und Rebhuhn (II, 257); Von der Maus und dem Wiesel (II, 268); Vom Raben und von der Katze (II, 270); Vom Fuchs und vom Raben (II, 272); Vom Igel und von den Holztauben (II, 280); Vom Dieb mit dem Affen (II, 284); Vom Pfau und vom Sperling (II, 286). Diese Fabeln mögen auf schriftlichem oder mündlichem Wege, über Persien oder unmittelbar von Indien durch Seeleute oder Reisende zu den muslimischen Arabern gekommen sein; jedenfalls sind einige von ihnen im Arabischen stark umgearbeitet, wie vor allem die Geschichte vom Wolf und vom Fuchs, die mit ihren vielen Gedichteinlagen und



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ihren Dialogen zwischen den beiden Tieren wie eine komische Operette wirkt.

Indisch ist, wie längst bekannt, die »Geschichte von der Tücke der Weiber oder von dem König, seinem Sohne, seiner Odaliske und den sieben Wesiren«(IV, 259), die auch als »das Buch vom weisen Sindbad«oder als »das Buch von den sieben weisen Meistern<>oder nach der griechischen Form des indischen Namens Sindbad als »Syntipas» bezeichnet wird. Der Königssohn, der vom weisen Sindbad erzogen ist, muß nach der Bestimmung des Schicksals sieben Tagelang stumm bleiben. Gerade, wie diese Zeit beginnt, will eine Odaliske seines Vaters ihn verführen, und als er standhaft bleibt, verleumdet sie ihn bei seinem Vater, wie einst Potiphars Weib den keuschen Joseph verleumdete. Da treten die sieben Wesire auf und erzählen einer nach dem andern Geschichten von der Tücke und Untreue der Weiber, einem in Indien von jeher sehr beliebten Thema; die Odaliske selber erzählt dazwischen immer eine Geschichte, in der die Männer als böse. die Frauen aber als gut hingestellt werden. Der König schwankt hin und her in seinem Urteil, bis am achten Tage der Sohn die Wahrheit verkündet und seine Weisheit durch einige Erzählungen bekundet. Darauf wird die Odaliske verbannt, und der Prinz lebt hinfort mit seinem Vater herrlich und in Freuden. Dies Buch, dessen indisches Original noch nicht aufgefunden ist, ist in eine ganze Anzahl von orientalischen und europäischen Sprachen übersetzt worden. Vermutlich wurde es im .Jahrhundert ins Mittelpersische und von dort im .Jahrhundert ins Arabische übertragen. Denn es wurde schon von einem 815 gestorbenen arabischen Dichter in Verse gebracht; und der muß eine arabische Prosavorlage gehabt haben. Ob diese unserem Texte genau entsprochen hat, kann noch nicht



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festgestellt werden. Jedenfalls haben wir in ihm eine Umarbeitung, die vom Islam stark beeinflußt ist. Der Prophet Mohammed wird genannt; die Kadis kommen vor (IV, 310, 320); auf Hiobs Qual und Jakobs Trauer wird hingewiesen (S. 343). Die Namen von Geistern sind arabisch; Bint et-Tamîma (S. 276),Dhu el-Dschanahain (S. 286), Râdschiz (S. 287) und et-Taijâch (S. 276). Auch der Gebrauch von Reimprosa beweist, daß eine freiere Bearbeitung vorliegt. Inder äußeren Anlage ist das Buch von König Dschali'âd und seinem Sohne Wird Chân (VI, 7) dem Buche vom weisen Sindbad ganz ähnlich. Beide waren ursprünglich eigene Werke, und als solche werden beide auch bei el-Mas'ûdi genannt; erst später wurden sie in den Kreis von 1001 Nacht einbezogen. Die Namen des Königs, seines Sohnes und seines Wesirs werden in den Handschriften und gedruckten Texten sehr verschieden überliefert: ihre indische Urform ist noch nicht bekannt. Das vorliegende arabische Werk berichtet, daß dem König in seinem Alter noch ein Sohn geboren wird. Bei dieser Gelegenheit erzählen seine Wesire allerlei lehrhafte Geschichten. Dann wird der Sohn von weisen Männern erzogen und übertrifft schon in seinem dreizehnten Lebensjahre alle Gelehrten und Weisen seiner Zeit. Darauf besteht er vor seinem Vater eine Prüfung in Rede und Gegenrede mit Schimâs. Aber nach dem Tode des Königs neigt er sich den Frauen zu und vernachlässigt seine Pflichten. Da sucht Schimâs ihn durch Parabeln zu warnen, aber seine Lieblingsodaliske erzählt ihm Geschichten, durch die er seinem treuen Ratgeber entfremdet wird, und veranlaßt ihn schließlich, diesen und die anderen Wesire zu töten. Darauf gerät er in Kriegsgefahr, aus der er durch den Sohn des Schimâs gerettet wird. Dann regiert er wieder weise und tugendhaft, während seine bösen Weiber



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elend zugrunde gehen. Man könnte das Buch einen indischpersisch-christlich-muslimischen Fürstenspiegel mit praktischer Nutzanwendung nennen; denn außer den vielen muslimischen Spuren finden sich auch christliche in ihm, und es war bei den Christen des vorderen Orients sehr beliebt, wie uns denn auch christlich-arabische Handschriften. unter anderen eine in Tübingen, erhalten sind. Überall wird Monotheismus vorausgesetzt. Die theologischen Erörterungen über Adam und den Sündenfall (VI, Wf.) können christlich-jüdisch oder islamisch (von den Christen oder Juden her übernommen) sein; die Ausführungen über den Logos (S. 67) erinnern aber stark an das Johannes-Evangelium. Die Geschichte vom Blinden und Krüppel (S. 52) wird auch jüdisch überliefert. Salomos Frauen (5. 81) waren bei Juden, Christen und Muslimen berühmt, aber schwerlich im alten Indien bekannt. Echt indisch sind jedoch die Elefantenkämpfer (5. 128); auch im Sprichwort kommt der Elefant vor (S. 77). Man kann persische Spuren in dem Buche finden. S. 77 wird nach vier Dingen gefragt, in denen sich alle Geschöpfe gleich sind; es werden aber fünf genannt: Speise und Trank, Süße des Schlafs, Begierde nach dem Weibe und Todeskampf. Im Persischen würde man dadurch, daß man das gleiche Wort für Essen und Trinken gebraucht, die Vierzahl genauer herstellen können. Und die Frage nach der Wahrheit, die häßlich ist, obwohl eine jede an sich schön ist (5. 78), kommt in den neupersischen Fragen des Wesirs Buzurgmihr an seinen Meister ebenso vor; zwischen beiden wird ein Zusammenhang bestehen, und es ist nur natürlich, anzunehmen, daß unser Werk durch das Persische hindurchging, ehe es zu den Christen und Muslimen des vorderen Orients kam. Mir scheint es, daß sprachliche Eigenheiten auf eine Übersetzung ins Syrische deuten, die dann ins Arabische



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übertragen wäre; doch ist dies vorläufig noch zu unbestimmt. Der Stil des ganzen Werkes läßt Übersetzungstätigkeit erkennen; Reimprosa kommt wenig vor, dagegen sind langatmige Sätze und Konstruktionen nicht selten, während diese in den übrigen Teilen von 1001 Nacht recht wenig gebraucht werden, da sie dem Erzählungsstil nicht angemessen sind. Ungeschickte Darstellungen, wie zum Beispiel am Schluß der 918. und Anfang der 919. Nacht, mögen dem Übersetzer zur Last fallen oder bei der Einteilung in Nächte entstanden sein. Auch darauf sei hingewiesen, daß hier nie wie sonst immer in 1001 Nacht gesagt wird »er küßte den Boden vor dem König«, sondern »er warf sich anbetend vor Gott nieder und küßte die Hand des Königs«. An dieser Stelle mögen noch drei kleinere Geschichten von der Frauenlist angefügt werden, obgleich allein bei der ersten ein Satz am Schlusse lehrhaften Charakter hat, während die anderen beiden nur unterhaltende Anekdoten sein wollen. Das sind die Geschichten vom Müller und seinem Weibe (III, 448), von der List einer Frau wider ihren Gatten (III, 501), von der Weiberlist (III, 502). Die letztere ist nur in der ersten Calcuttaer Ausgabe ein Teil von 1001 Nacht; sie wird aber auch sonst mehrfach aus moderner Zeit überliefert, und mir wurde sie im Jahre 1900 in Jerusalem erzählt. Sie ist wohl in Syrien oder Ägypten zu Hause, obwohl sie in Baghdad spielt. Der Kaffee wird S. 505 erwähnt.

Ganz anderer Art aber ist die lange Erzählung von der klugen Sklavin Tawaddud (III, 626). Sie ist, wie Prof. Horovitz sagt, »weniger durch ihren Inhalt als durch ihre literarischen Nachwirkungen bemerkenswert«. Kluge Sklavinnen kommen mehrfach in 1001 Nacht vor, aber Tawaddud übertrumpft sie alle bei weitem. Sie hat ihrem Herrn, der in Not gekommen ist, geraten, sie auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen, und wird



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dann dem Kaufen zum Kauf angeboten. Vor ihm besteht sie ein gründliches Examen über Fragen der Theologie, Astronomie, Medizin und Philosophie; dabei gibt sie nicht nur Antworten auf die Fragen, die ihr gestellt werden, sondern sie richtet auch ihrerseits Fragen an die Examinatoren, worauf diese ihr die Antworten schuldig bleiben. Dann fordert der Kalif sie auf, sich eine Gnade zu erbitten, und gibt sie ihrem früheren Herrn zurück. Prof. Horovitz erkannte, daß diese Geschichte ihr Vorbild vielleicht in einer aus dem Griechischen übersetzten Schrift hat, deren Titel lautet »Das Buch von dem Philosophen, der durch die Sklavin Kitâr geprüft wurde, und der Bericht der Philosophen in ihrer Sache«, und daß sie eine Parallele in einem weitverbreiteten arabischen Buche hat, den Fragen des 'Abdallâh ibn Salâm, die in manche orientalische Sprachen übersetzt und deren lateinische Übersetzung vom 13. bis ins 17. Jahrhundert im christlichen Europa viel gelesen wurde. Vor allem betonte er die schon früher erkannten Beziehungen zu einem spanischen Volksbuche, der Historia de la doncella Teodor, die bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr beliebt war; der Name ist auch der gleiche, da Teodor aus der arabischen Nebenform Tudur entstanden ist. Die ältesten erhaltenen spanischen Versionen stammen spätestens aus dem 14., vielleicht schon aus dem 13. Jahrhundert. Das arabische Buch ist wahrscheinlich zu einer Zeit entstanden, in der man sich des Philosophen Ibrahim ibn Saijâr en-Nazzâm (III, 632, 686) noch erinnerte; dieser starb im Jahre 845. Es stammt also aus der Baghdader Zeit, und die koptischen Monatsnamen (III, 678 if.) sind erst später in Ägypten hinzugefügt. Als Tauded ist Tawaddud noch beiden heutigen Nordabessiniern bekannt, worauf ich im Vortrage »Tausendundeine Nacht in der arabischen Literatur«S. 23 aufmerksam gemacht habe.


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