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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


3. SAGEN UND LEGENDEN

Die Stammessagen der alten Araber sind in 1001 Nacht kaum noch vertreten. Am ehesten könnte man die Geschichte von Hâtim et-Tâï (III, 85) noch hierher rechnen, die ich in meinem Vortrag »Tausendundeine Nacht in der arabischen Literatur« näher besprochen habe; sie ist aus dem arabischen »Buch der Lieder«(oben S. 677) übernommen. Sie ist auch keine eigentliche Heldensage, sondern eine spukhafte Legende, die an das Grab des Helden anknüpft. Sie Sage von der Säulenstadt Iram (III, 108), dem irdischen Paradies, dessen Erbauer



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durch ein göttliches Strafgericht umkam -ähnlich wie die Erbauer des Turmes von Babel für ihren Übermut bestraft wurden -, mag teils auf altarabische Überlieferungen zurückgehen; diese Überlieferungen waren auch Mohammed bekannt, da er im Koran von ihnen spricht. Gerade wegen ihres Vorkommens im heiligen Buche war die Sage bei den Muslimen sehr beliebt und wurde später ausgeschmückt. In 1001 Nacht wird erzählt, wie der Omaijadenkalif Mu'âwija l. durch Gewährsmänner Aufschluß über sie erhält. Aus der Zeit der arabischen Eroberungen stammt die Sage von der Stadt Le b ta (III, 90), die freilich an das Anekdotenhafte streift. In ihr wird erzählt, wie eine Stadt der Romäer von den Muslimen erobert ward und welche Schätze dort gefunden wurden. Die Stadt soll eingenommen sein, nachdem ein Usurpator einen verschlossenen Turm geöffnet hatte, in dem sich Bildnisse reitender Araberscharen befanden nebst einer Inschrift, die besagte, die Stadt würde erobert werden, wenn der Turm geöffnet wäre. In Lebta sehe ich eine Verschreibung für Sebta, das ist Ceuta in Marokko; mit dem Usurpator wird Graf Julian gemeint sein, der aber seinerseits auch der Legende angehört. Die drei genannten Sagen sind in die Baghdader Zeit zusetzen.

Die große Sagenerzählung von der Messingstadt (IV, 208) ist durch viele Märchenmotive erweitert worden. Sie spielt nach unserem Texte zur Zeit des Omaijadenkalifen 'Abd el-Malik ibn Marwân, doch sie liegt uns in einer späteren ägyptischen Überarbeitung vor. Die Messingstadt soll im äußersten Westen liegen; eine Messingstadt (Madinat en-Nahâs) ist uns aus Südwestarabien bekannt, und diese hat ihren Namen davon erhalten, daß viele Bronzegegenstände dort gefunden wurden. Eine kurze Fassung der Sage von der Messingstadt findet sich in der Geschichte von Abu Mohammed dem Faulpelz



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wieder (III, 192); sie erinnert an die Sage von den versteinerten Städten, die in 1001 Nacht vorkommen (I, 190; VI, 528). In der selbständigen Erzählung, wie sie hier vorliegt, mögen auch Reisebeschreibungen nach Nordwestafrika verwandt sein.

Als Tierlegende verdient die Geschichte vom Vogel Ruch (III, 541) besonders erwähnt zu werden; er kommt auch sonst mehrfach in 1001 Nacht vor (I, 178; II, 786; IV, 118, 120ff.). Die Vorstellung von ihm wird auf den Aepyornis maximus zurückgehen.

Eine große Anzahl von Legenden aus dem Leben von Heiligen oder von frommen Leuten ist in 1001 Nacht aufgenommen; sie stehen im schärfsten Gegensatz zu den frivolen Liebesgeschichten und zu vielen erotischen Ausführungen in anderen Geschichten. Diese Legenden sind meist kurz, nur wenige sind etwas breiter ausgeführt. Einige von ihnen könnten als Anekdoten gelten, andere werden auch zu den Liebesgeschichten gerechnet, sofern sie tugendhafte Liebe schildern. Ihr Ursprung ist mannigfaltig; einige stammen aus Indien, andere aus der jüdischen und christlichen Literatur, in der sie teilweise auf hellenistische Vorbilder zurückgehen, noch andere mögen in islamischer Zeit neu erfunden sein. Als Mystik und Derwischtum im arabischen Islam in immer weitere Kreise drangen, wurden diese Legenden eine sehr beliebte Erbauungsliteratur. Die charakteristischeste von allen ist wohl die Geschichte von dem frommen Prinzen (III, 526), in der erzählt wird, daß ein Sohn Harûns zum Derwisch wurde; sie erinnert an indische Vorbilder und an die weitberühmte Alexioslegende. Das Derwischlied III, 533 ist sehr bezeichnend. Es würde viel zu weit führen, hier jede einzelne Geschichte gesondert zu betrachten und auf ihre Herkunft zu prüfen; so



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mag eine Aufzählung mit einigen Bemerkungen genügen. Der Einsiedler und die Tauben (II, 239); Der fromme Hirte (II, 240); Der fromme Israelit (III, 329); Der Wasserträger und die Frau des Goldschmieds (111,492); Die fromme Israelitin und die beiden bösen Alten (III, 508; es ist die bekannte Erzählung von Susanna, die auch bei Ibn es-Sarrâdsch steht, Paret, S. 70 und 76); Der König und die tugendhafte Frau (III, 539; da diese Geschichte auch in dem Zyklus vom weisen Sindbad vorkommt, IV, 262, so wird sie von dorther übernommen sein); Der jüdische Richter und sein frommes Weib (III, 708); Das schiffbrüchige Weib (III, 712; hier wird 5. 714 mit feiner Detailmalerei geschildert, wie ein kleines Knäblein auf dem Rücken eines Ungetüms im Meere schwimmt und am Daumen saugt); Der fromme Negersklave (III, 715); Der fromme Mann unter den Kindern Israel (III, 720; auch bei Ibn es-Sarrâdsch, Paret, S. 71 und 76); El-Haddschâdsch und der fromme Mann (III, 725); Der Schmied, der das Feuer anfassen konnte (111,727); Der fromme Israelit und die Wolke (III, 731); Der Prophet und die göttliche Gerechtigkeit (III, 747); Der Nilferge und der Heilige (III, 749; auch hier ist ein sufisches Gedicht besonders bezeichnend); Der fromme Israelit, der Weib und Kinder wiederfand (III, 752); Abu el-Hasan ed-Darrâdsch und Abu Dscha'far der Aussätzige (III, 758, mit einem Derwischlied).

Hierher gehören auch die Geschichten vom Engel des Todes vor dem reichen König und dem armen Manne (III, 697), vor dem reichen König (III, 699), vor dem König der Kinder Israel (III, 702) und ferner die Bekehrungsgeschichten. Von letzteren ist typisch die Geschichte von dem Prior, der Muslim wurde (III, 562); dazu kommen die Geschichten



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von dem muslimischen Helden und der Christin (III, 736) sowie von der christlichen Prinzessin und dem Muslim (III, 743). Auch sonst ist manchmal von Bekehrungen der Heiden, Juden und Christen zum Islam die Rede; so zum Beispiel II, 651 (Husn Marjam); IV, 769 (die Tochter des Juden Asra); V, 622 (der Christ Masrûr und die Jüdin Zain el-Mawâsif); V, 692 (Marjam die Gürtlerin); V, 763 (die fränkische Rittersfrau). Da solche Übertritte in Wirklichkeit oft genug vorgekommen sind, brauchen die hier erzählten Geschichten nicht alle legendarisch und zum größeren Ruhme des Islams erfunden zu sein. Wir kommen aber ins Reich der Sage und des Märchens. wenn wir lesen, daß Salomo die Dämonen zum Islam bekehrte (IV, 226) oder daß in der versteinerten Stadt ein einziger Prinz von einer alten Frau (I, 194) oder eine einzige Prinzessin von el-Chidr (VI, 539) den Islam annimmt. Wie Salomo, so bekehrt auch der Romanheld Gharîb die Dämonen; doch dieser verbreitet den Islam zugleich mit Feuer und Schwert unter den Menschen.

Es ist auffallend, daß fast alle die frommen Legenden oben im dritten Bande vereinigt sind. Das ließe auf einen Redaktor schließen, der besonderes Interesse für sie hatte. Da nun gerade unter ihnen sich manche Geschichten von frommen Juden befinden, hat man angenommen, daß hier ein zum Islam übergetretener Jude am Werke gewesen wäre. Die Annahme liegt insofern nahe, als hier die Juden als fromme und brave Leute erscheinen, während sie in anderen Teilen von 1001 Nacht manchmal verächtlich gemacht werden. Aber der Schluß ist nicht zwingend; denn einerseits waren die »israelitischen Geschichten« bei dem Völkergemisch in Baghdad und in Kairo den Muslimen bekannt, und andererseits finden sich auch sonst genug Gegensätze der Anschauungen in Tausendundeiner Nacht.


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