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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DES BARBIERS ERZÄHLUNG VON SEINEM SECHSTEN BRUDER

Was endlich meinen sechsten Bruder angeht, o Beherrscher der Gläubigen, den, dem beide Lippen abgeschnitten wurden, so war er in Armut geraten. Eines Tages nun ging er aus, um etwas zu erbetteln, mit dem er sein Leben fristen könnte; und unterwegs erblickte er plötzlich ein schönes Haus mit einem weiten und hohen Vorbau; und am Eingang saßen Eunuchen, die einließen und abwiesen. So fragte mein Bruder einen von denen, die dort herumstanden, und der sagte ihm: ,Dieser Palast gehört einem Sprossen der Barmekiden'; da ging er zu den Türhütern hin und bat sie um eine Gabe. Sie aber sprachen: ,Tritt ein durch das Tor des Hauses, und unser Herr wird dir geben, was du wünschest.' Er trat also in die Vorhalle ein und ging eine Weile



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weiter und kam dann in ein Wohnhaus von höchster Schönheit und Pracht, gepflastert mit Marmor und behangen mit Teppichen, und in der Mitte war ein Blumengarten, dessengleichen er noch nie gesehen hatte. Da stand mein Bruder eine Weile sprachlos vor Staunen und wußte nicht, wohin er die Schritte lenken sollte; doch dann ging er zum oberen Ende des Saales und fand dort einen Mann von schönem Antlitz und Bart. Als der meinen Bruder sah, da stand er auf, hieß ihn willkommen und fragte ihn, wie es ihm gehe; und er tat ihm kund, daß er in Not sei. Wie jener die Worte meines Bruders hörte, gab er ihm herzliches Mitleid zu erkennen, legte seine Hand an sein Kleid, zerriß es und rief: ,Wie! Bin ich in einer Stadt, in der dich hungerte So etwas kann ich nicht ertragen!' Und er versprach ihm alles Gute und sagte: ,Du mußt unbedingt mein Salz mit mir teilen.' ,Guter Herr', erwiderte mein Bruder, ,ich kann nicht mehr warten, denn wahrlich, ich bin gewaltig hungrig.' Da rief er aus: ,He, Knabe! Bringe Becken und Kanne', und zu meinem Bruder gewandt: ,Tritt vor, o mein Gast, und wasche dir die Hände.' Und mein Bruder ging hin, uni sich die Hände zu waschen, aber er sah weder Kanne noch Becken; doch der Herr des Hauses machte Bewegungen, als ob er sich die Hände wüsche, und rief dann: ,Bringt den Tisch!' Aber wiederum sah mein Bruder nichts. Da sprach jener zu meinem Bruder: ,Bitte, nimm von dieser Speise und sei nicht schüchtern!' Und er bewegte die Hand hin und her, als äße er, indem er zu meinem Bruder sagte:, Ich staune, daß du so wenig issest; du darfst mit dem Essen nicht zu kurz kommen, ich weiß doch, wie hungrig du bist.' Und mein Bruder begann zu tun, als äße er, derweilen der Gastgeber sagte: ,Greif zu und achte besonders auf dies schöne Brot und auf seine Weiße!' Aber immer noch sah mein Bruder nichts. Dann sprach er bei sich: ,Dieser Mensch



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liebt es, die Leute zu Narren zuhaben'; und er erwiderte: ,Guter Herr, in meinem ganzen Leben habe ich nichts Schöneres gesehen als dies weiße Brot und auch nichts Süßeres gekostet.' Jener sagte: ,Dies Brot ist von einer meiner Sklavinnen gebacken, die ich für fünfhundert Dinare gekauft habe.' Dann rief der Hausherr: ,He, Knabe! Bringe als erste Schüssel die Fleischpastete, und tu recht viel Fett daran!' Und zu meinem Bruder sprach er: ,O mein Gast, sage mir bei Allah, hast du je etwas Besseres gesehen als diese Pastete? Bei meinem Leben, iß und sei nicht schüchtern !'Und er rief wiederum :, He, Knabe! Bringe das Ragout von dem gemästeten Flughulm', und sagte zu meinem Bruder: ,Wohlan, iß, o mein Gast, denn du bist hungrig und hast dergleichen nötig.' Mein Bruder begann, die Kiefern zu regen, und tat, als kaue er, derweilen der Herr des Hauses ein Gericht nach dem anderen bestellte und ihm doch nichts darbot als Mahnungen, zu essen. Und schließlich rief er: ,He, Knabe! Bringe uns die Küken mit Pistazienfüllung', und sagte zu meinem Bruder: ,Bei deinem Leben, o mein Gast, ich habe diese Küken auch mit Pistazien gemästet; iß drum etwas, wie du es noch nie gegessen hast.' ,O mein Herr', erwiderte mein Bruder, ,das ist etwas Gutes.' Und der Gastgeber machte mit der Hand eine Bewegung, als schöbe er meinem Bruder einen Bissen in den Mund, und in einem fort zählte er dem Hungrigen Gerichte auf und beschrieb sie, bis dessen Hunger so heftig wurde, daß ihn sehnlichst nach einem Stück Gerstenbrot verlangte. Jener aber fragte: ,Hast du je etwas Besseres gesehen als die Würzung dieser Speisens' Mein Bruder sprach: ,Niemals, o mein Herr!' ,Iß nach Herzenslust und sei nichts chüchtern!' sprach jener; aber der Gast erwiderte: ,Ich habe genug gegessen.' Da rief der Mann: ,Tragt ab und bringt die Süßigkeiten!' und zu meinem Bruder sprach er: ,Nimm davon, es ist vortrefflich! Iß



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von diesen Waffeln; bei meinem Leben, iß diese Waffel da, ehe der Sirup von ihr abläuft!' ,Möge ich deiner nie beraubt sein, guter Herr', erwiderte mein Bruder und fragte ihn nach der Menge des Moschus in den Waffeln. ,So lasse ich sie immer machen', versetzte er; ,man tut in jede Waffel ein halbes Lot Moschus und ein viertel Lot Ambra.' Während alledem bewegte mein Bruder immer Kopf und Mund und schob die Kiefern hin und her. Jener sagte noch: ,Iß von diesen Mandeln und sei nicht schüchtern!' Doch mein Bruder antwortete: ,O mein Herr, ich bin wirklich satt, und ich kann kein Stück mehr essen.' Darauf der Hausherr: ,O mein Gast, wenn du essen und dir zugleich die schönen Dinge ansehen willst, so bleibe doch -o Gott! o Gott! —nicht hungrig!' Aber mein Bruder entgegnete: ,O mein Herr, wer von all diesen Gerichten ißt, wie könnte der hungrig bleiben?' Darauf sann er nach und sagte zu sich selber: ,Ich will ihm einen Streich spielen, durch den ich ihn von solchem Tun abbringe!' Nun rief der Gastgeber: ,Bringt uns den Wein!' Und die Diener bewegten die Hände in der Luft, als brächten sie den Wein. Danach reichte er meinem Bruder einen Becher und sagte: ,Nimm diesen Becher, und wenn er dir gefällt, so laß es mich wissen!' ,O mein Herr', erwiderte er, ,er ist vortrefflich; doch ich bin gewohnt, nur zwanzig Jahre alten Wein zu trinken.' ,So klopfe an diese Tür', sprach der Wirt, ,denn Besseres kannst du nicht trinken!' ,Mit deiner gütigen Erlaubnis', sagte mein Bruder und bewegte seine Hand, als tränke er. ,Zum Wohlsein und zur Gesundheit!' rief der Herr des Hauses und machte eine Bewegung, als tränke er; darauf reichte er meinem Bruder noch einen Becher, und der trank ihn und tat, als sei er betrunken. Und plötzlich faßte er den Gastgeber unversehens, hob den Arm, bis man die Blöße seiner Armhöhle sah, und versetzte ihm einen Schlag ins Genick,



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so daß der Raum davon hallte. Dann traf er ihn mit einem zweiten Schlage; aber da schrie der Gastgeber laut auf: ,Was soll das, o du Abschaum der Erde?' ,Guter Herr', erwiderte mein Bruder, ,du hast deinem Sklaven so viel Güte erwiesen, hast ihn in dein Haus eingelassen und ihm von deinen Speisen zu essen gegeben; und du hast ihm alten Wein zu trinken gegeben, bis er trunken wurde und ungebärdig gegen dich -aber du bist zu edel, um nicht seiner Torheit zu verzeihen und seinen Verstoß zu vergeben.' Als jener meines Bruders Worte hörte, da lachte er laut und sagte: ,Lange habe ich die Menschen zum besten gehabt und meinen Freunden Streiche gespielt, aber nie noch habe ich einen getroffen, der Geduld und Witz genug hatte, anfall meine Launen einzugehen, außer dir. Darum verzeihe ich dir jetzt, und du sollst nun wirklich mein Genosse werden und mich nie verlassen.' Darauf befahl er, man solle die vorher genannten Arten von Speisen richtig auftragen; und er aß mit meinem Bruder, bis sie beide gesättigt waren. Dann gingen sie in das Trinkgemach hinüber und fanden dort Mädchen, Monden gleich, die allerlei Lieder sangen und allerlei Instrumente spielten. Dort blieben sie beim Trunke, bis die Trunkenheit Gewalt über sie gewann und der Herr des Hauses meinen Bruder wie einen vertrauten Freund behandelte, so daß er wurde als wie sein Bruder; jener gewann ihn sehr lieb und verlieh ihm ein Ehrengewand. Am nächsten Morgen begannen die beiden von neuem zu prassen und zu zechen und lebten so weiter zwanzig Jahre lang. Da starb jener Mann, und der Sultan ergriff Besitz von all seinem Reichtum und preßte meinem Bruder seine Ersparnisse ab, bis er zum Bettler wurde, der nichts mehr besaß. Mein Bruder aber verließ die Stadt und floh hinaus aufs Geratewohl. Unterwegs nun fielen Beduinen über ihn her, banden ihn und schleppten ihn in ihr



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Lager; und der ihn gefangen hatte, begann ihn zu foltern und sagte: ,Erkaufe dein Leben von mir mit deinem Gelde, sonst werde ich dich töten!' Mein Bruder begann zu weinen und rief: ,Bei Allah, ich habe nichts; aber ich bin dein Gefangener; also tu mit mir, wie du willst.' Alsbald zog der Beduine ein Messer, schnitt meinem Bruder die Lippen ab und verlangte immer dringender Geld. Nun aber hatte dieser Beduine eine schöne Frau; die hielt sich in ihres Gatten Abwesenheit in der Nähe meines Bruders auf und wollte ihn verführen; doch er hielt sich von ihr zurück. Eines Tages begann sie ihn wieder zu versuchen; da scherzte er mit ihr und ließ sie auf seinem Schoße sitzen, als plötzlich der Beduine hereintrat. Wie er meinen Bruder erblickte, schrie er ihn an: ,Weh dir, verfluchter Schurke, willst du mir jetzt noch meine Frau verführen?' Und er zog ein Messer hervor und schnitt meinem Bruder die Rute ab; dann lud er ihn auf ein Kamel, führte ihn in ein Gebirge und ließ ihn allein. Dort kamen Reisende an ihm vorbei; die kannten ihn, gaben ihm zu essen und zu trinken und brachten mir von seinem Zustand Nachricht. Sofort ging ich zu ihm, ließ ihn aufsitzen und brachte ihn in die Stadt zurück; dort setzte ich ihm so viel aus, daß er davon leben kann. Nun bin ich zu dir gekommen, o Beherrscher der Gläubigen, und da wollte ich doch nicht wieder zurückkehren, ehe ich dir alles erzählt hatte; das wäre ja unhöflich gewesen, wo ich sechs Brüder auf dem Halse habe, für die ich sorge!'

Als der Beherrscher der Gläubigen meine Geschichte gehört hatte und alles, was ich ihm von meinen Brüdern erzählte, da lachte er und sagte: ,Du sprichst die Wahrheit, o Schweiger, du bist wahrlich ein Mann von wenig Worten, und bei dir ist keine Aufdringlichkeit zu finden; jetzt aber zieh hinaus aus dieser Stadt und laße dich nieder in einer anderen!' Dann verbannte



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er mich und ließ mich unter Bewachung zur Stadt hinausschaffen. So zog ich fort in die Fremde und durchstreifte die Länder, bis ich von seinem Tode hörte und von der Thronbesteigung eines anderen Kaufen. Da kehrte ich nach der Hauptstadt zurück und fand meine Brüder tot und traf auf diesen Jüngling, dem ich die freundlichsten Dienste erwies; denn wäre ich nicht gewesen, so wäre er getötet worden. Aber jetzt sagt er mir etwas nach, was gar nicht in meiner Natur liegt; denn das, o ihr Herren, was er von Aufdringlichkeit über mich sagt, ist leeres Gerede. Ja, gerade um dieses Jünglings willen bin ich durch viele Länder gereist, bis ich in diese Gegend gekommen bin und ihn bei euch getroffen habe. Ist dieses, ihr werten Herren, nicht ein Zeichen meines würdigen Auftretens?'


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