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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Der alte Hahn

Es war einmal ein großes Schloß, und dessen Herr besaß einen alten Hahn. Weil dieser nun schon reichlich alt war, mochten die Schloßleute ihn nicht mehr füttern, und der Hahn mußte sich in der Umgegend durch Betteln sein Futter zusammensuchen. Weil aber auch das nicht genug einbrachte, damit er sein Leben fristen konnte, beschloß der arme Hahn, doch wieder heimzukehren. Unterwegs begegnete ihm ein Fuchs, der ihn fragte: »Wohin wanderst du denn, Hähnchen?« —»Ich gehe wieder heim«, antwortete der Hahn, »beim Betteln kommt nichts heraus!« — »Nimm mich mit«, sagte der Fuchs. — »Ich habe nicht die Kraft, dich zutragen«, erwiderte der Hahn; »aber wenn du dich in einen Floh verwandelst und dich unter meinen Flügeln versteckst, will ich dich wohl gern mitnehmen.« Der Fuchs verwandelte sich in einen Floh, und der Hahn steckte ihn unter seinen Flügel. Dann wanderte er noch ein Weilchen weiter, und es begegnete ihm ein Wolf und sprach ihn an: »Wohin gehst du, Hähnchen?« — »Nach Hause«, antwortete der Hahn. Als der Wolf das hörte, wollte er ihn durchaus begleiten und sagte: »Nimm mich mit!« — »So verwandle dich in einen Floh und setze dich in die Federn an meiner Seite, dann will ich dich mitnehmen«, antwortete der Hahn. Der Wolf ward zum Floh, und der Hahn steckte ihn ins Seitengefieder. Darauf, als er eine gute Strecke weitergewandert war, begegnete ihm ein Bär und bat ebenfalls, mitgenommen zu werden. Der Hahn riet auch ihm, sich in einen Floh zu verwandeln, und nachdem der Bär das getan hatte, steckte er ihn ins Schenkelgefieder.



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So wanderte er dahin und kam endlich in sein altes Heim, stellte sich auf den Schloßhof und fing an zu krähen:

»Kikeriki, Kikeriki!
Der Hahn hat einen goldenen Helm!
Der Herr ist nur ein armer Schelm,
Hat seinen Hahn verjagt!«


***
Das erregte im Schloßherrn einen großen Zorn. Er befahl seinem Knecht, den Hahn umzubringen.

Der Knecht fühlte Mitleid mit dem Hahn, der doch so schön krähen konnte; er weigerte sich, die unbequeme Arbeit zu tun, weil sie ihm einfach zuwider war.

»Nun, von mir aus magst du den Hahn auch in den Stall zu den wilden Hengsten sperren, die werden ihn rasch zu Tode stampfen«, meinte der Herr. Der Hahn wurde dann auch in den Stall gebracht. Aber er erlitt dort keinerlei Schaden; denn als die Hengste anfingen auszuschlagen, sagte der Hahn nur: »Komm unter meinem Schenkel hervor, lieber Bär, friß, soviel du vermagst, und töte das übrige!«Sofort erschien auch der Bär, der als Floh am Schenkel des Hahnes gesessen hatte, fraß so viele von des Herrn Zuchthengsten, als er nur konnte, und tötete und zerfleischte alle übrigen. Am folgenden Tage kam alles, um nach dem Hahn zu sehen; der Schloßherr selber kam in den Stall, um sich zu überzeugen, daß die Hengste den Hahn zerstampft hatten; aber dieser war noch am Leben und krähte genau wie früher:

»Kikeriki, Kikeriki!
Der Hahn hat einen goldenen Helm!
Der Herr ist nur ein armer Schelm,
Hat seinen Hahn verjagt!«


***
Im Schlosse waren zwölf gefürchtete, starke Stiere, und der König befahl seinem Knecht: »Hetzt die Stiere auf den Hahn, daß sie ihn stoßen; wir wollen hoffen, daß er getötet wird und das unverschämte Gekrähe ein Ende nimmt.«



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Also wurden die Stiere losgelassen. Aber als sie den Hahn stoßen wollten, griff dieser nach dem Floh unter seinem Flügel; der Floh ward wieder zum Wolf und fraß und erwürgte die Stiere alle. Der Hahn aber fing wieder wie früher zu singen an:

»Kikeriki, Kikeriki!
Der Hahn hat einen goldenen Helm!
Der Herr ist nur ein armer Schelm,
Hat seinen Hahn verjagt!«


***
Das hörte der Schloßherr und sagte im Zorn zu seinen Knechten: »Wir haben ja noch zwölf böse Böcke; tragt den Hahn zur Nacht in ihren Stall; wir wollen sehen, ob er nicht endlich aufhört, sein Kikeriki zu singen!«

Gesagt, getan: sie sperrten den Hahn zu den Böcken. Diese gingen gleich auf ihn los, um ihn zu stoßen; aber der Hahn wußte Rat: er ließ den dritten Floh aus seinem Gefieder. Der verwandelte sich in den Fuchs und zerriß und erwürgte die Böcke ganz jämmerlich und fraß davon, soviel er vermochte und fertigkriegen konnte.

Am Morgen wurde nachgesehen, wie es dem Hahn ergangen war. Da fand man ihn noch immer am Leben; und kaum wurde die Tür geöffnet, als auch der Fuchs hinausschlüpfte und seiner Wege lief; wer weiß, wohin er gelaufen sein mag. Als der Schloßherr das erfuhr, ward er furchtbar zornig und sagte: »Dieses absonderliche Tier muß ich doch schließlich umbringen, mag geschehen, was will!« Mit diesem Entschluß ging er in den Viehstall, um den Hahn mit eigenen Händen zu töten. Bald fing er ihn ein und drehte ihm den Hals um, aber noch im Sterben sagte zu ihm der Hahn: »Du wirst mich nicht los, selbst wenn ich tot bin. Noch einmal wirst du meine Stimme hören; aber dann ist auch dein eignes Ende nahe.« Als der Schloßherr das hörte, überlegte er für sich: »Ich muß diesen absonderlichen Unruhestifter einfach aufessen; dann wird er doch endlich von seinem Geschrei lassen.«Deshalb ließ er ein Gastmahl herrichten, wozu alle die benachbarten Herren und viele andere eingeladen wurden, und der Hahn wurde als Braten zubereitet.



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Die Gäste waren alle beisammen; alles setzte sich an den Tisch und fing an zu essen. Da nahm der Schloßherr den gebratenen Hahn in die Hand, schnitt sich ein Stückchen davon ab, tat es in den Mund und sagte: »Du hast dir allerlei in deinem Leben zugute kommen lassen, aber dein Kikeriki wirst du nicht mehr rufen!«

Kaum hatte der Herr das gesagt, als der Hahn den Kopf aus dem redenden Munde herausstreckte und krähte wie ehedem:

»Kikeriki, Kikeriki!
Der Hahn hat einen goldenen Helm!
Der Herr ist nur ein armer Schelm,
Hat seinen Hahn verjagt!«


***
Als nun die Gesellschaft aus dem Munde des Schloßherrn diese sonderbare Rede vernahm, gerieten alle in die größte Bestürzung und ließen das Gastmahl unberührt stehen. Endlich, als sich der Herr von seinem Schrecken erholt hatte, rief er seinen Dienern zu: »Ergreift ein Beil, und wenn der Hahn wieder in meinem Mund erscheint, dann spaltet ihm eilends den Kopf!«

Die Diener taten, wie ihnen befohlen war, und als nun der Hahn wieder den Kopf zum Munde des Herrn herausstreckte, hieben sie mit dem Beil auf den Hahn ein; der aber zog schnell den Kopf zurück, und das Beil zerschmetterte das Haupt des Schloßherrn, der tot zu Boden sank, wie es der Hahn vorausgesagt hatte. So lang ist die Geschichte und ganz wahrhaftig hat sich alles so zugetragen.


Copyright: arpa, 2015.

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