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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

Von den nordischen Völkern besitzen die Finnen und Esten eine besonders ausgedehnte Volksdichtung. Dabei stehen weit voran die beiden großen epischen Gesänge des »Kalevala« und des »Kalevipoeg«, die in ihrer Tendenz und stofflichen Vielfältigkeit wohl mit der »Edda« zu vergleichen sind und mit Einzelheiten großenteils an Märchenwelten anknüpfen. Der verlockende Gedanke, auf ihre folkloristisch höchst aufschlußreichen Probleme einzugehen, verbot sich für die gedrängte Kürze unseres Unternehmens von vornherein. Auszüge daraus zu bieten, würde erfordern, auf viele Schönheiten zu verzichten, auf deren berückende Poetik schon Jakob Grimm voller Begeisterung hinwies. Wäinämöinen ist der erlauchte Name des heldischen Sängers des umfangreichen, in viele weisheitsvolle Gesänge aufgegliederten Weltenschöpfungsgedichts des »Kalevala«. Die estnischen Sagen des »Kalevipo-eg« haben sich in ihrer gegenwärtig vertrauten Form aus einer vielfach unklaren, ursprünglichen Chaotik reinster Volksdichtung im Zuge mannigfaltiger Umschmelzung herausgelöst. Wir halten uns hier an die eigentlichen Volksmärchen, an denen Finnland ganz unvergleichbar reich ist. Das Archiv der Finnischen Literatur-Gesellschaft in Helsingfors birgt gegenwärtig gut 30000 handschriftliche Aufzeichnungen von im Volke von früher her überlieferten und mündlich erzählten echten Märchen und erfährt bis in unsere Tage fortwährend neue Bereicherung. Tiermärchen sind bei den Finnen vom Mittelalter her stets besonders beliebt gewesen. Schriftliche Aufzeichnungen sind erst im dritten und vierten Jahrzehnt des letztvergangenen Jahrhunderts erfolgt, und etwa um 1850 ist mit der Herausgabe der Märchen in finnischer Sprache begonnen worden. Erich Rudbeck, in finnisch



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Salmelainen genannt, hat eine ganze Reihe »Märchen und Sagen des finnischen Volkes« veröffentlicht, von denen Emmy Schreck einen größeren Teil ins Deutsche übertrug. Salm elainen selber arbeitete noch weithin nach der uns von den Brüdern Grimm her vertrauten Methode und erlaubte es sich, verschiedene mündlich vorhandene Varianten eines Märchens zu einem mehr oder weniger geschlossenen Ganzen zu verknüpfen.

Im Jahre i 88o fing die Finnische Literatur-Gesellschaft damit an, ihre vorbildliche Sammeltätigkeit systematisch auszubauen. Sie entsandte kundige Sammler in sämtliche Landesteile und ließ ein riesiges Märchenmaterial zusammentragen, das weitreichende Kenntnis hinsichtlich Verbreitung, Häufigkeit und ausgedehnte Wanderungen der einzelnen Stoffe vermittelte. Hervorragende Vertreter dieser Forschungstätigkeit waren außer dem Helsingforser Universitätsprofessor Kaarle Kron, der allein auf seinen schon in jungen Jahren begonnenen Reisen in abseitige und entlegene Landschaften weit über 8000 Märchen aufgeschrieben hat, A. Alaon, Lilli Lilius und J. Sjöros. Auch Tiermärchen brachte K. Kron zum Druck, der mit L. Lilius zusammen einen Band »Königsmärchen« veröffentlicht hat. Seit mehr als fünfzig Jahren, genau seit seinem Gründungsjahre 1907, besorgt der Folkloristische Forscherbund, dem bekannte Forscher aus allen Ländern, auch solche aus Deutschland, angehören, die Herausgabe der F. F. Communications und F. F. Publications, die über volkskundliche Forschungsergebnisse informieren. Sie sind vornehmlich in deutscher Sprache geschrieben und verdienen als überragend wichtiges Organ internationaler Märchenforschung hohe Beachtung. Infolge der riesigen Fülle von Varianten innerhalb der finnischen Sammlungen ist es seither zu einer staunenswerten Vertiefung der Forschungsmethoden gekommen.

Aus der estnischen Märchenforschung, die wesentlich geringeren Umfangs ist als die finnische, aber wohl ähnlich große Erfolge verzeichnet, sei erwähnt, daß sie bereits 1817 begann und von Jakob Grimm für die Wissenschaft entdeckt wurde. Grimm selber übersetzte auch sechs einzelne Märchen aus der ihm laut eigener Aussage »ungeläufigen Sprache« ins Deutsche und gab diesen in der Vorrede zu seinem 1834 erschienenen »Reinhart Fuchs« achtungheischend Raum.



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Dazu gehören u. a. die allerwärts sehr beliebten Märchen vom Fuchs, Wolf und Bären. Finnische und estnische Märchen pflegen mit Nachdruck das Tiermärchen. Daneben finden Zaubermärchen einen großen Anklang, die sich durch uralte und bedeutungsstarke Motive vor anderen auszeichnen. Eine erste Auswahl von »Märchen und Sagen des estnischen Volkes« in deutscher Übersetzung erschien schon in den Jahren 1881-1888. Die Märchen beider Völker sind weithin bunt gemischt mit solchen aus der estnischen Diaspora im russischen Gouvernement Witebsk. Diese häufig als »Ludsener (richtiger und korrekter auf russisch >Ljuziner<) Märchen«bezeichneten Märchen entstammen in ihren Ursprüngen Gebieten, in denen hauptsächlich Letten, Russen und Polen ansässig sind, und machen eine klare Unterscheidung zwischen ingermanländischen und finnischen Ursprüngen vielfach noch beschwerlicher. Russische Ausdrücke (Rubel, Werst, Pud, Samowar usw.) treten häufig auf, auch russische Redensarten sprichwörtlichen Charakters wie etwa »Der Morgen ist klüger als der Abend«. Spezielle Züge der finnischen und estnischen Märchen lassen sich wohl vor allem aus Natur- und Umwelt-Gestalten ablesen. Diese vermitteln Eingang ins rauhe, dunkle, unermeßliche Waldland des Nordens, führen zu entlegenen Seen und bedrohlichen Stromschnellen. In den Wäldern hausen Wölfe und Bären, die sich unschwer in Menschen verwandeln können, während die Bauern auf steinigen Äckern sich mit einem meist kargen Leben zufriedengeben müssen und die Fischer auf kaltem und vielfach stürmischem See ihre Fänge nur unter vielfältiger Not und Gefahr einzubringen vermögen. Die inbrünstige Sehnsucht nach dem Wohnen im »steinernen« Haus, wo es ausreichend Vieh gibt mitsamt Vorräten an Mehl und Brot, und das Hoffen aufs »Brodland«, in dem sich's geruhsam und sorgenfrei dem einer Zither ähnlichen Musikinstrument der Finnen, der Kantele, lauschen läßt, lockt und tröstet Köhler und Holzfäller in ärmlichen Hütten. Trocken und eintönig pflegen Finnen und Esten in ihren Märchen auch die phantastischsten Geschehnisse darzubieten. Dialoge werden meist straff und knapp gehalten. Traumwelt und fast jegliche lyrischen Bezüge gedeihen selten. Dennoch eignet diesen uns vielfach fremdländisch anmutenden Märchen ein höchst eigener, waldumdunkelter Reiz und Zauber.



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Lettland und Litauen - für eine deutsche Blickwendung nordöstlich gelegene Grenzbereiche - sind mit Proben innerhalb der zweiten Hälfte dieses Bandes vertreten. Dabei verdient es sorgliche Beachtung des Umstandes, daß sich vornehmlich in Litauen aus Gründen historischer Entwicklung von früh an Motive gemütvoller deutscher Märchentradition mit solchen osteuropäischer und russisch-polnischer Herkunft uneinheitlich und mehr oder weniger plump mischen. Häufig werden Motive ausgetauscht und verwechselt und auch Dinge aneinandergeknüpft, die nichts miteinander zu tun haben. Neben Ungeschicklichkeiten begegnet man oft auch auf die Dauer störenden Wiederholungen und nur unter Schwierigkeiten aufzuhellenden Widersprüchen. Mundartliche Wendungen steigern mitunter noch derartige Komplikationen. Tiermärchen stehen im Vordergrund. Der Teufel in mancherlei Abwandlungen spielt eine bedeutsame Rolle und wird gern als betrogener Betrüger gefoppt und angeführt. Beliebt sind wie bei anderen Völkern Dummkopfs- und Dümmlingsmärchen. Auch Lügenmärchen lassen gern den einfachen und armen Mann über vornehme und vermögende Adelsleute triumphieren.

Viele der lettischen Märchen entstammen der umfassenden Sammlung, die vom dortigen Volksschullehrer Hans Lerchis-Puschkaitis in Siuxt im damaligen Kurland um die Jahrhundertwende mit Unterstützung der Wissenschaftlichen Kommission des Rigaer Lettischen Vereins herausgegeben worden ist. Der verdienstvolle Herausgeber hat viele der aufgenommenen Märchen selber einfachen Leuten aus dem Volke abgelauscht. An seinem Sammelwerk, das er auf mehr als 6000 Stücke brachte, sind annähernd 900 Personen beteiligt gewesen.

In der unter den lettischen Märchen aufgenommenen Geschichte »Die Hexe auf der Espe« stellen wir eine neue Variante des in vielerlei Fassungen über die ganze Welt verbreiteten Brüdermärchens vor, das nachweisbar zu den ältesten Weltmärchen gehört und schon ums Jahr 1500 v. Chr. bei den Ägyptern erzählt worden ist. Viele werden darin auch »Das Märchen von den zwei Brüdern« aus der Grimmschen Sammlung wiedererkennen.


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