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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Leila und Keila

Im Türkenlande lag eine Stadt; in dieser Stadt lebte ein gewisser Statthalter, dessen Herz sehr schlecht war und der, weil er keine Bezahlung von seiten des Sultans erhielt, die Armen zu bedrücken pflegte. Einmal hatte er einen Streit mit einem armen Tischler, und um sich zu rächen, legte er ihm auf, eine Summe von dreihundert Unzen Gold zu bezahlen. Der arme Tischler aber besaß weiter nichts als eben diese Summe und befand sich nach deren Weggabe in größtem Kummer und am Verhungern. Er besaß nun eine Tochter namens Leila. Diese war bucklig, häßlich, ihr Gesicht war pockennarbig, auf einem Auge war sie blind, und dazu hatte sie eine dunkle Hautfarbe; in kurzen Worten: sie konnte das Meer wild machen. Sie hatte eine Freundin namens Keila. In dem Maße, in dem Leila häßlich war, war Keila hübsch. Die



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beiden jungen Mädchen hatten sich sehr lieb, man konnte sie für Schwestern halten.

An dem Tage nun, der jenem folgte, da Leilas Vater dem Statthalter sein ganzes Geld gegeben hatte, traf unsere Leila bekümmerten Herzens mit Keila zusammen. Letztere merkte sogleich, daß Leila etwas zugestoßen war; deshalb fragte sie die Freundin, was geschehen sei. Mit Tränen in den Augen erzählte ihr Leila, was der Statthalter ihrem Vater angetan habe. Keila versetzte darauf: »Du hast ein Recht zu weinen, aber quäle dich trotzdem nicht länger! Bitte Gott, daß er uns einen Rat schicken möge, wie wir deines Vaters Geld sogar mit Zinsen zurückgewinnen können!«

Als nach etwa vier Tagen Keila in die Kirche ging und diese betrat, traf sie mit Leila zusammen und sprach zu ihr: »Höre, Leila! Ich habe dir etwas zu sagen!«Und auf der Stelle erzählte sie ihr, was für einen Plan sie gefaßt habe; dieser gefiel der Leila sehr, und sie nahm ihre Freundin mit nach Hause zu ihrem Vater, damit sie diesem erzählen könne, was sie sich ausgesonnen hatte. Der arme Tischler erklärte den Mädchen, der Plan sei sehr gut, und sie kamen überein, schon am folgenden Tage mit der Ausführung zu beginnen. —Ihr müßt nun wissen, daß die türkischen Frauen einen Schleier haben, der ihnen das ganze Gesicht bedeckt und nur die Augen herausschauen läßt. —

Also am nächsten Morgen um zehn Uhr begab sich Keila zum Statthalter und bat ihn, sie zu empfangen, denn sie wolle ihn um eine Gnade bitten. Der Statthalter ließ ihr sagen, daß er sie erwarte. Sofort stieg Keila zu ihm hinauf in den Palast, begab sich in den Saal, in dem er sich aufhielt, und sprach zu ihm, indem sie sich vor ihm auf die Knie warf: »Herr, ich lebe in ständiger Mißhandlung von seiten meines Vaters! Er will mich auch nie heiraten lassen, und jenem, der mich zur Frau wünscht, sagt er irgend etwas Schlechtes von mir. Ich komme, um dich zu bitten, mich aus seinen Händen zu befreien!« —»Höre, meine Tochter«, antwortete der Statthalter, »ich glaube dir ja, aber es ist nötig zu wissen, was dein Vater sagt.« —»Herr, ich schäme mich, es dir zu sagen!« — »Wenn du es nicht sagst, dann kann ich dir auch nicht helfen.« —»Nun, wenn du es wissen willst: er sagt, daß ich häßlich sei, von dunkelster Hautfarbe und bucklig, auf dem einen Auge blind, pockennarbig und alt.« — »Wie kann ich aber wissen, ob du häßlich bist oder schön, wenn ich dein Gesicht nicht zu sehen bekomme? Zeige dein Gesicht, meine Tochter, damit ich sehen kann, ob die Beschuldigungen



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wahr sind!« —Nun dürfen die türkischen Frauen nach ihrem Gesetz ihr Gesicht vor keinem Manne außer ihrem Gatten unverschleiert zeigen. —Trotzdem nahm unsere Keila den Schleier von ihrem Gesicht ab, und jener andere geriet in Verwunderung über ihre Schönheit. »Zermartere dein Herz nicht länger!«sprach der Statthalter. »Ich werde dich selbst aus den Klauen deines Vaters befreien, da ich dich zur Frau begehre.« Unsere Keila lachte im Herzen: >Dahin wollte ich dich haben!< Beide kamen überein, daß der Statthalter noch am gleichen Tage beim Tischler um dessen Tochter anhalten solle.

Keila verließ eilends den Palast und traf Leila, der sie berichtete, daß der Statthalter sie wirklich für die Tochter des Tischlers halte, und erzählte ihr alles. Am Nachmittag ließ der Statthalter den Tischler rufen und sprach zu ihm: »Du hast doch eine Tochter, die Leila heißt?« — »Jawohl.« —»Warum läßt du sie nicht heiraten, wie es doch der Koran gebietet?« — »Herr! Wer möchte eine haben wie die?« —»Warum das?« — »Sie ist halb blind, pockennarbig, ganz dunkelfarbig, bucklig und häßlich.« —Der Statthalter sprach bei sich: >Lüg du nur! Ich habe deine Tochter heute morgen gesehen und erkannt, wie schön sie ist.<Und laut fuhr er fort: »Du willst sie mir nicht geben? Dann nehme ich sie dir weg!« Und weiter fuhr er fort: »Höre, warum willst du mir deine Tochter nicht zur Frau geben?« —»Ja, willst du sie denn so haben, wie sie ist?« —»Gewiß; ich will sie meinetwegen alt, halb blind, pockennarbig und bucklig.« —»Willst du mich verspotten?« — »Ich scherze nicht. Willst du nun oder willst du nicht?« —»Ja, wenn es denn so ist, Herr, dann nimm sie! Aber wer sagt mir, daß du sie, wenn du sie siehst, nicht wieder fortjagst?« — »Ich jage sie nicht wieder fort; das kann ich dir schriftlich geben. Ich lasse gleich einen Notar rufen, dann setzen wir den Vertrag auf.« Und es kam der Notar. Da sprach der Tischler: »Herr, lasse in das Schriftstück setzen, daß du mir jetzt gleich hundertzwanzig Unzen Gold gibst. Und wenn du meine Tochter verstoßen solltest, so mußt du mir weitere zweihundert Unzen Gold geben!« — »Gut«, sagte der Statthalter, »Notar, schreibe: Ich will die Tochter des Tischlers heiraten: alt, halb blind, pockennarbig, dunkelhäutig, bucklig und häßlich. Dem Vater gebe ich jetzt hundertzwanzig Unzen Gold, und sollte ich jemals seine Tochter verstoßen, so werde ich ihm weitere zweihundert Unzen in Gold geben.«Der Notar brachte das zu Papier, und beide Parteien setzten ihren Namen darunter.

So waren die Dinge den Wünschen Leilas und Keilas gemäß verlaufen.



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Aber Leila war doch etwas unruhig und hatte Angst, daß der Statthalter, wenn er den Betrug merken würde, sie schließlich zu Tode peitschen lassen könnte. Keila sprach ihr Mut zu, und sie beruhigte sich schließlich.

Die Hochzeitsfeier begann, und man begab sich zum Tischler und dann in die Kirche. Schließlich fand sich alles im Palast des Statthalters ein, die Musik hob an zu spielen, und es gab eine große Schmauserei, der Tänze folgten. Dem Statthalter aber verging die Zeit zu langsam, und es war ihm, als müsse er tausend Jahre warten. Endlich war die Feier zu Ende, und er konnte seine junge Frau in den Harem führen. Dort sprach er zu ihr: »Mein Herz, lege jetzt deinen Schleier ab und laß mich den Anblick deines hübschen Gesichtes genießen!« Leila nahm den Schleier ab. Als der Statthalter die entstellten Züge sah, da wurde er nicht schlecht wütend und jagte sie sofort hinaus. Leila verlor kein Wort, sondern eilte, so schnell sie konnte, heim in das Haus ihres Vaters. Der Statthalter wagte nicht zu atmen, denn wenn er erzählt hätte, was ihm zugestoßen war, so hätte ihn die ganze Stadt ausgelacht, und er wäre zum Gespött der Leute geworden. Außerdem hätte er sein Amt verlieren können, wenn es dem Sultan zu Ohren kam, daß er ein junges Mädchen dazu verführt hatte, ihm ihr Gesicht unverschleiert zu zeigen. So blieb ihm denn nichts anderes übrig, und er mußte wohl oder übel zum Tischler gehen und ihm die zweihundert Unzen Gold auszahlen, wie es der Kontrakt verlangte.

Als er ihm die Summe ausgehändigt hatte, sprach er: »Du hast mich ja richtig hereinfallen lassen und um einen großen Betrag geprellt.« — »Höre, mein Herr, vor kurzem hast du mir dreihundert Unzen abgenommen, und heute habe ich sie wieder zurückerhalten.« — »Elender Schurke, du hast mir nicht nur dreihundert, sondern dreihundertzwanzig Unzen abgeknöpft!« — »Mein Herr, das waren nur die Zinsen, die zu der Summe, die ich dir gegeben habe, hinzugekommen sind.« Bei diesen Worten mußte der Tischler lachen; der Statthalter aber begann zu fluchen und ging hinweg. Nie mehr aber hatte der Tischler vom Statthalter etwas zu befürchten. Und damit ist die Geschichte zu Ende.


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