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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Fischersohn

Es war einmal ein König, der hatte eine Tochter, aber immer wünschte er, auch einen Sohn zu erhalten. Deshalb fragte er seinen Koch, ob er ihm nicht irgendwoher einen Knaben verschaffen könne, damit er ihn großziehe. Der Koch sagte ihm, daß er einen armen Fischer kenne, der ihm vielleicht einen seiner Knaben übergeben könne. Da schickte der König seinen Koch zu dem armen Fischer und ließ fragen, ob er dem König wohl einen Knaben überließe, damit dieser ihn als seinen Sohn aufziehen könne. Der Fischer sagte: »Jawohl! Ein Glück wie dieses lasse ich mir nicht entgehen. Ich will dem König einen Knaben im Alter von vier Jahren schenken.« Die Tochter des Königs war nun gerade so alt wie dieser Knabe, und so wurden beide zusammen aufgezogen und liebten sich wie Geschwister.

Als sie erwachsen waren, wandte sich das junge Mädchen an ihre Mutter und sagte ihr, daß sie den Fischersohn heiraten wolle. Die Mutter wieder sprach mit dem Vater, und obwohl dieser zunächst nicht recht damit einverstanden war, fügte er sich schließlich doch den Bitten der beiden Frauen. Er sagte aber zu seiner Tochter: »Wenn ihr Hochzeit gehabt und du mit ihm ins Brautgemach kommst, so sage ihm ja nicht, daß er ein Fischersohn war, weil er sonst nicht mit dir zusammenbleiben würde.«

Nun richtete man die Hochzeit, und am Abend des Festtages, als der junge Mann mit seiner Frau ins Brautgemach getreten war und sie begonnen hatten, aneinander ihre Freude zu haben, sprach sie zu ihm: »Giuseppe, siehst du, wie ich die Sache dahin gebracht habe, wohin ich sie haben wollte, obwohl du ein armer Fischersohn bist?« Da wurde er wütend über diese Worte, zog seinen Hochzeitsrock aus und schleuderte ihn ihr vor die Füße und eilte hinaus. Dann zog er in ein anderes Land. Dort traf er mit einem armen Burschen zusammen und tauschte mit ihm seine Kleidung. Seinen Diamantring aber versteckte er in seinem Leibgurt. Schließlich meldete er sich beim Koch des dortigen Königs als Küchenjunge. Er sprach aber nur mit Gesten und stellte sich dumm.

Einmal stieg der König in die Küche hinunter und erblickte den jungen Menschen, der sehr schön war. Gleich fragte er den Koch: »Wer ist denn das?« —»Herr, das ist unser Küchenjunge. Er ist recht anstellig, aber leider stumm.« —»Ach«, versetzte der König, »was für ein Pracht-



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junge ist das! Ich will ihm schon zur Sprache verhelfen.« Damit ließ er verkünden, er habe bei sich einen stummen Jungen, wer diesem zur Sprache verhelfen könne, der solle einmal sein Nachfolger werden, wer seine Kunst jedoch vergeblich versuche, der solle seinen Kopf verlieren. Da reiste eine ganze Anzahl von Ärzten und Gelehrten herzu, aber alle mußten ihr Leben lassen, denn keiner konnte ihn zum Sprechen bringen. Schließlich zeigte niemand mehr Lust, seinen Kopf zu riskieren. Einst wusch der Junge eine Suppenschüssel aus, dabei wäre sie fast seinen Händen entglitten; da rief er voll Schreck aus: »Was ist das für eine Geschichte! Fast hätte ich die Schüssel zerbrochen.« Der Koch hörte ihn und dachte bei sich: >Sieh da, er ist ja gar nicht stumm!<Gleich begab er sich zum König und sagte diesem, daß er dem Jüngling zur Sprache verhelfen könne. Der König entgegnete: »Nein, Koch, warum willst du dein Leben beenden?« — »Hab keine Angst, Herr! Bei mir wird er schon sprechen lernen.« — »Gut! Ich gebe dir drei Tage Zeit. Wenn er dann nicht spricht, lasse ich dir den Kopf abhacken.«

Der Koch schloß sich nun mit dem Küchenjungen in einem Zimmer ein; jener antwortete jedoch auf keinerlei Gespräch. Da wurde der Koch wütend, er prügelte den Küchenjungen und zerriß dessen Kleider. Dabei platzte auch der Leibgurt, und der Ring rollte heraus. Der Koch nahm den Diamantring an sich und floh schleunigst aus dem Palast, denn er fürchtete, daß der König ihm seinen Kopf abhacken ließe. Endlich kam er in ein anderes Land, nämlich jenes, aus dem der Fischersohn weggegangen war. Da er nichts besaß als den Ring, ging er zu einem Händler, um den Ring zu verkaufen. Der Händler aber sagte: »Diamanten werden nur beim König angenommen.« So kam der Koch an den Hof, und als er den Ring verkaufte, war auch die Prinzessin (die Gattin des Fischersohnes) zugegen. Diese erkannte sogleich den Ring und fragte den Mann: »Wo hast du ihn hergebracht?«Jener erwiderte: »Herrin, er gehört mir nicht; er gehört einem armen Küchenjungen.« Da forschte die Königstochter weiter und erfuhr so die ganze Geschichte von ihrem Gatten und auch, daß er sich stumm stelle. Sie gab dem Koch die gebührende Summe und ließ ihn gehen.

Am nächsten Tag aber verschaffte sie sich Männerkleidung und begab sich zu jenem König, bei dem ihr Mann als Küchenjunge diente, um ihm zu sagen, daß sie gekommen sei, um dem jungen Menschen zur Sprache zu verhelfen. Der König entgegnete: »Nein! Ich will nicht noch mehr Menschen köpfen lassen.« —»Dann laß es mich als letzten versuchen!«



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sprach sie. Der König war einverstanden und ließ sie ins Zimmer des jungen Menschen führen. Als sie ihren Gatten sah, bat sie ihn, er möge ihr doch jenes Wort verzeihen, nämlich daß sie zu ihm >Fischersohn< gesagt habe. Er aber antwortete nichts und wollte nicht reden. So kam der Zeitpunkt heran, wo man sie zur Enthauptung führen mußte.

Der Fischersohn sagte immer noch nichts, aber er begleitete sie zur Hinrichtungsstätte. Wie sie nun den Tod erleiden sollte, bat sie den König, daß sie noch drei Worte sagen dürfe. Der König erlaubte es ihr und befahl dem Henker, noch zu warten. Da sprach sie: »Wer will mein Leben um drei Pfennige kaufen?« Niemand antwortete. »Wer will mein Leben um zwei Pfennige kaufen?« Wieder schwieg alles. »Wer will mein Leben für einen Pfennig kaufen?« Da rief ihr Gatte: »Ich kaufe es!«So war der Stumme zum Sprechen gebracht worden, und der König wollte dem vermeintlichen Lehrmeister sein Zepter übergeben. Aber die Prinzessin enthüllte nun ihre Verkleidung und erzählte dem König, wie sie ihren jungen Gatten in der Hochzeitsnacht beleidigt hatte. Ihr Gatte aber verzieh ihr nun, da sie sich gedemütigt hatte. Der König aber übertrug dem Fischersohn die Regentschaft, so daß er nun über zwei Reiche herrschte, und das junge Paar lebte nun abwechselnd in dem Palast der Prinzessin und ihrer Eltern und in dem Palast des Königs, bei dem der Fischersohn Küchenjunge gewesen war.


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