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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der siebenköpfige Drache

Es waren einmal ein Knabe und ein Mädchen, die Geschwister waren. Sie besaßen drei Schafe. Der Knabe pflegte diese auf die Weide zu treiben, während das Mädchen zu spinnen pflegte. Eines Tages weidete der Knabe wieder seine Schafe, da kam ein Mann daher, der einen Hund bei sich führte. Er sprach zum Knaben: »Komm, wir wollen ein Tauschgeschäft machen: ich gebe dir diesen Hund für dein Schaf!«Der Junge aber antwortete: »Nein! Denn wenn meine Schwester das erfährt, dann prügelt sie mich durch.« Der Reiter aber sprach zu ihm so lange, bis der Junge schließlich doch auf den Tausch einging.

Als der Knabe mit dem Hund nach Haus kam, zankte ihn seine Schwester gründlich aus, weil er das Schaf für den Hund hingegeben hatte. Am andern Tage zog er nunmehr mit den beiden übrigen Schafen und dem Hunde auf die Weide. Da kam der gleiche Mann wieder, mit einem anderen Hunde, und redete ihn an: »Mein Sohn, wir wollen auch diesen Hund gegen ein Schaf tauschen.« Aber der Junge versetzte: »Nein! Denn als ich gestern mit dem Hund nach Haus kam, hat mich meine Schwester gescholten.« Doch abermals redete der Reiter so lange auf den Knaben ein, bis dieser wiederum den Tausch machte: der Mann gab ihm den Hund, und der Junge verlor das zweite Schaf.

Als er nach Hause kam, sprach seine Schwester zu ihm: »Wo sind die Schafe? Warum bringst du statt ihrer Hunde, die uns zu nichts nütze sind?«Und sie prügelte ihn ordentlich durch. Am nächsten Tag begab



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sich der Knabe mit den beiden Hunden und dem letzten Schafe an den alten Platz, und es kam wieder derselbe Mann mit einem andern Hund. Es gab eine längere Verhandlung, aber schließlich fand abermals der Tausch statt, und der Knabe hatte nun kein Schaf mehr, sondern drei Hunde. Als er heimkam, schlug seine Schwester ihre Spindel an seinem Kopfe entzwei, verabreichte ihm eine gehörige Tracht Prügel und jagte ihn aus dem Hause. Der Junge zog nun mit seinen drei Hunden durchs Land und gelangte in ein anderes Reich, in dem allgemeine Trauer herrschte. Der Junge begab sich schließlich in einen Laden, um sich etwas zu essen zu holen. Er sprach zum Besitzer des Ladens: »Gib mir zu essen!«Jener antwortete: »Sprich nicht so laut, weil hier eine allgemeine Trauer herrscht.« Dann gab ihm der Ladenbesitzer zu essen und trinken. Der Knabe fragte ihn am Ende: »Was hast du zu bekommen?« Jener erwiderte: »Nichts. Geh nur wieder fort!« Da verließ der Junge mit seinen drei Hunden den Laden und zog weiter.

Er bemerkte eine Frau, die kam des Wegs daher und hatte Brot bei sich; zu ihr sprach er: »Maria, verkaufe mir zwei Brote, damit ich meine Hunde füttern kann!«Sie versetzte sogleich: »Sprich nicht so laut, denn hier ist allgemeine Trauer!« Er fragte: »Trauer weswegen?« Die Frau erklärte: »Die Prinzessin dort in jenem Hause soll ein Drache fressen!« Da sprach der junge Mensch: »Gut, geh nur weiter!« Die Frau ging weiter, der Knabe aber begab sich nach jenem Hause, in dem sich die Prinzessin befand. Er fragte sie: »Meine Schwester, warum weinst du?« Sie antwortete: »Geh fort, weil sonst der Drache uns beide auffrißt!« Der Knabe aber sprach ihr Mut zu: »Habe keine Angst! Er wird uns nicht fressen.«

Schließlich nahte sich der Drache und sprach: »Was machst du denn hier? Nun werde ich dich auch noch fressen, und zwar zuerst.« Der Junge rief: »Nur zu, wenn dein Appetit so groß ist, dann friß mich auf!«Und zu dem kleinsten seiner Hunde sagte er: »Geh und bekämpfe den Drachen!« Da sprang der Hund den Drachen an und raufte sich ordentlich mit ihm, bis er ihm nach einer Weile den Kopf abgerissen hatte. Der Drache rief hierauf sogleich: »Pause!«Der Hund rief gleichfalls: »Pause!«Und sie machten eine Pause. Nach einer geraumen Weile begannen sie den Kampf aufs neue, bis der Hund dem Drachen den zweiten Kopf abgerissen hatte. Wiederum schrie der Drache: »Pause!« Und der Hund machte Pause. So trieben sie es immer fort, und schließlich riß der Hund dem Drachen auch den siebten und letzten Kopf ab.



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Die Prinzessin wurde schier wahnsinnig vor Freude, als sie das sah. Sie fragte dann den Knaben: »Was soll ich dir jetzt als Geschenk dafür geben, daß du mir das Leben gerettet hast?« Der Junge entgegnete: »Mädchen, ich wünsche mir nichts außer dem Mantel, den du jetzt anhast.« Da gab sie ihm den Mantel und eilte zurück in ihren Palast. Der Knabe aber schnitt die sieben Zungen aus den Köpfen des Drachen ab und ging seiner Wege.

Nun befand sich an jenem Orte ein Türke als Wache. Der sollte aufpassen, ob der Drache die Prinzessin fresse. Dieser Türke lief dem Mädchen nach, hielt es fest und sagte: »Schwöre jetzt hier auf der Stelle, daß du nicht sagen wirst, jener Knabe habe den Drachen getötet, sondern sage, daß ich ihn umgebracht hätte! Wenn du das nicht schwörst, so werde ich dich gleich umbringen.« Da die Jungfrau keinen anderen Ausweg sah, schwur sie, was der Türke verlangte. Letzterer aber nahm die sieben Köpfe des Drachen an sich und ging damit zum König: »Sieh her, Majestät, diesen Drachen habe ich getötet, um deine Tochter zu befreien.« Der König aber hatte verkünden lassen, daß derjenige, der den Drachen töten würde, seine Tochter heiraten könne. So sollte nun der häßliche Türke die schöne Prinzessin zur Frau bekommen.

Alsbald begannen die Hochzeitsfeierlichkeiten. Nun begab sich der Knabe zum Palast des Königs und redete den Herrscher an: »Majestät, wer hat denn den Drachen getötet?« — »Ihn hat der Türke getötet, der hier neben mir sitzt.« Der Knabe forschte weiter: »Hat er denn auch Beweise, daß er den Drachen umgebracht hat?« — »Ja, er hat mir die Köpfe des Drachen mitgebracht.« Da fragte der Knabe: »Hast du sie auch genau angesehen?« —»Warum sollte ich sie wohl ansehen?« —»Ob sie auch alle Zungen haben?« Da ließ der König die Köpfe holen und öffnete ihnen die Mäuler, aber nirgends fand er eine Zunge. »Wisse denn«, sprach der Knabe, »ich habe den Drachen besiegt, und hier sind auch die sieben Zungen.«Da rief der König aus: »Wahrhaftig!« —»Und hier ist auch der Mantel deiner Tochter, den sie mir schenkte, nachdem ich den Drachen überwunden hatte.« Und er übergab dem König den Mantel. »Dann sollst du auch meine Tochter haben«, entschied der König, und da die Prinzessin damit sehr einverstanden war, wurde eine fröhliche Hochzeit gehalten. Dem Türken aber ließ der König erst die Zunge abschneiden und dann den Kopf abhacken. —Und nun ist die Geschichte zu Ende.


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