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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Was in den Sternen geschrieben steht, ist unauslöschlich

»Hast du gehört, Großmütterchen? Marie Konstantios heiratet Manuel Atrulidomickilis, den wackersten Burschen des Ortes!« — »Beim Namen Gottes! Und du weißt es sicher?« —»Gewiß, aus dem Munde ihrer Base, der Pelagia, habe ich es gehört.«

»Eh, meine Kinder, es war ihr so bestimmt. Was Gott geschrieben hat, können die Menschen nicht auslöschen. Hört zu, ich will euch ein Märchen



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erzählen, aus welchem ihr die Macht Gottes des Allmächtigsten erkennen werdet.«

Es waren einmal zu einer Zeit ein König und eine Königin, die hatten eine einzige Tochter. Eines Tages, als der König spazierenging mit dem Rat der Zwölf, bemerkt er außen vor dem Eingang seines Palastes einen Mohrenknaben, so von zwei, drei Jahren: der saß und weinte. Der König, von Mitleid ergriffen, nimmt ihn herein und bringt ihn der Königin. Als diese ihn sah, erschrak sie anfangs, aber dann, als sie hörte, daß er ausgesetzt war, bemitleidete sie ihn und sagte zum König, sie sollten sich seiner erbarmen und ihn dann später der Königstochter als Diener geben. Der Mohrenknabe blieb also im königlichen Palast und wurde da erzogen, bis er fünfzehn Jahre alt war. Eines Tages träumte die Königin, daß sie ihre Tochter, die Prinzessin, mit dem Mohrenknaben vermähle. Sie steht also ganz früh auf und geht in das Schlafzimmer des Königs und weckt ihn und erzählt ihm ihren Traum. »O weh«, sagt da der König zu ihr, »sieh, ich habe denselben Traum gehabt!« —»Eh, was wollen wir jetzt mit ihm machen, was sollen wir tun?« —»Auf, rufe den Mohrenknaben, und wenn auch er denselben Traum gehabt hat, so bedeutet das, daß wir ihn von hier fortjagen müssen.« Sie lassen also dem Mohrenknaben sagen, er solle in das königliche Schlafzimmer kommen, weil sie mit ihm sprechen wollten. Er kommt, und sobald er den König und die Königin sieht, sagt er zu ihnen: »Gut, daß ich euch alle beide hier treffe, da ich mit euch sprechen will. Gestern abend sah ich im Schlaf den Engel des Herrn; der sagte zu mir: >Steh auf und suche den König und die Königin auf und sage zu ihnen: Es ist beschlossen von Gott dem Allmächtigen, daß du die Königstochter zum Weibe nimmst.«Als der König und die Königin diese Worte hörten, wurden sie rasend, und der König sagte zu ihm in großer Wut: »Hebe dich von mir weg, Mohrenbrut, schämt sich nicht dein Angesicht, Bastard, daß du meine Tochter zur Frau nehmen willst? Daß dich meine Augen nicht mehr sehen! Sonst lasse ich dich hängen!« — »Nur gemach, mein allergnädigster König, ich gehe; ich werde mich aufmachen, den Engel des Herrn zu fragen, ob das, was in den Sternen geschrieben steht, ausgelöscht werden kann. Wisse jedoch, daß, wenn die Dinge ihren Gang gehen, die Königstochter die Meine wird.«

Der Mohrenknabe ging also ab und marschierte Tag und Nacht, um den Engel des Herrn aufzusuchen und ihn zu fragen, ob, was geschrieben steht, ausgelöscht werden kann. —Als er so marschierte, einige Tage



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danach, sieht er am Wege drei Frauen, die hatten vor sich einen Haufen Silber- und Goldstücke und maßen sie immerzu und maßen sie. Der Mohrenknabe näherte sich ihnen und sagte zu ihnen: »Guten Tag!« —

»Guten Tag, Pallikare«, sagen die Frauen, »was suchst du, mein Kind, hier in der Einöde, wo wir noch keinen lebenden Menschen gesehen haben schon so viele Jahre?« — »Was soll ich euch sagen, meine Herrschaften, ich bin schlimm dran! Ich gehe, Gott den Allmächtigen zu fragen, ob, was in den Sternen geschrieben steht, ausgelöscht werden kann.« —»Glück auf den Weg, mein Kind, wir bitten dich, auch unseretwegen zu fragen, was wir tun müssen, um dieses Geld loszuwerden, das wir hier messen, jetzt schon fünfzig Jahre.«

Der Mohrenknabe ging weiter und marschierte, und auf dem Wege trifft er einen Pfahl, der schwebte in Gottes Luft fünfzig Klafter über der Erde. Der Mohrenknabe kommt näher und hört den Pfahl reden und ihn fragen, wohin er gehe. »Ich gehe zu Gott dem Allmächtigen, um ihn zu fragen, ob das, was in den Sternen geschrieben steht, auf Erden ausgelöscht werden kann.« —»Frage ihn doch auch meinetwegen, was ich tun soll, um von hier hinabzufallen, wo ich schon tausend Jahre bin.«

Nach einigen Tagen kam er von dort an einen Ort, wo eine alte blinde Frau saß; und er redet sie an und sagt zu ihr: »Guten Tag, Tante!« — »Danke, Kind, was suchst du, mein Sohn, in dieser Wüstenei, die noch keines lebenden Menschen Fuß betreten hat, solange ich hier sitze?« — »Ich gehe, Herrin, um Gott den Allmächtigen zu fragen, ob, was einmal geschrieben steht, ausgelöscht werden kann.« — »Meinen Segen, mein Kind; frage doch Gott den Allmächtigen auch meinetwegen, was ich tun muß, um meine Blindheit zu verlieren, wo ich Unglückselige hier schon vierzig Jahre blind bin und den Weg nicht finden und weggehn kann.«

Nachdem er noch vierzig Tage gewandert war, kam er am vierzigsten an, da, wo Gott der Allmächtige mit seinen Engeln und allen seinen Heiligen war. Der Mohrenknabe tritt näher und klopft an die Pforte des Paradieses, und es öffnet ihm der Apostel Petrus und der Engel Gottes, der beauftragt ist, die Seelen zu bringen, daß Gott sie richte. Er nimmt ihn bei der Hand und führt den Knaben vor den Thron des Allmächtigen. Da fiel der Mohrenknabe vor dem vielen Glanz, der vom Antlitz Gottes ausging, auf sein Angesicht und betete ihn an. Da sagt der Allmächtige zu ihm: »Was suchst du hier, Mohrenknabe?«Anfangs



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war er blöde vor Furcht und konnte nicht reden; aber dann raffte er sich auf und sagte: »Ich bin gekommen, um zu fragen, ob das, was in den Sternen geschrieben ist, auf Erden ausgelöscht werden kann.« Da sagte Gott zu ihm: »Nicht kann solches je geschehn; mag der Himmel herabkommen und die Erde hinauf, aber was im Himmel geschrieben ist, kann auf Erden nicht ausgelöscht werden.«

Darauf fragte er Gott auch danach, worum ihn die drei Frauen, der Pfahl und die Blinde gebeten hatten. Sagt Gott zu ihm: »Sage der Blinden, sie solle weggehn und den Holzblock umdrehen, auf dem sie sitze: dann werde sie eine Quelle finden, in der solle sie ihre Augen waschen, die sich dann öffnen werden. Und wenn sie sich gewaschen hat und sehen kann, dann wasche auch du dich recht tüchtig an allen Stellen, die sichtbar sind; nur die verdeckten Stellen wasche nicht! Dann wirst du den Pfahl treffen und ihm sagen, er solle warten, bis jemand unten vorüberkommt; dann solle er fallen und ihn zermalmen; aber achte darauf, daß du weit von ihm entfernt bist, damit du es nicht sagest und er herabfalle und dich zermalme. Darauf wirst du die drei Frauen finden und ihnen sagen, sie sollen das Geld, das sie verwalten, nehmen und unter die Armen verteilen.«

Nachdem Gott dies zu ihm gesagt hatte, betete der Mohrenknabe mit großer Ehrfurcht und ging dann weg. Nach einigen Tagen kommt er an, wo die Blinde war, und sagt zu ihr, was ihm Gott befohlen hatte. Als die Blinde es gehört hatte, steht sie auf und hebt auch den Holzblock auf und findet Wasser und wäscht sich; und als sie sich gewaschen hat, kann sie wieder sehen. Darauf geht auch der Mohrenknabe heran und wäscht sich die Stellen, die sichtbar sind, Gesicht, Hals und Hände. Und als er sich gewaschen hatte, daß er ganz sauber war, da war er weiß wie Milch geworden; nur da, wo er sich nicht gewaschen hatte, blieb er schwarz. —Darauf geht er weiter und kommt zu dem Pfahl und sagt auch diesem, was Gott zu ihm gesprochen hatte. Als der Pfahl dies gehört hatte, sagt er zu ihm: »Bitte, komm doch näher und sage mir das, denn ich höre nicht gut!« —»Such dir einen andern, dem du das vorredest, denn bei mir geht das nicht; aber bleib gesund! Und viel Vergnügen!« —Als er dann auch dahingekommen war, wo die Frauen waren, sagt er auch diesen, was Gott zu ihm gesprochen hatte. Als diese es gehört hatten, sagten sie zu ihm: »Auch du bist arm: mit dir wollen wir den Anfang machen.« Während sie mit ihm redeten, sahen sie ein Kamel laufen, und eine von den Frauen fängt es ein, und dann beladen



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sie es mit Goldstücken, soviel sie können, und dann schenken sie es ihm und tragen ihm auf, er solle sich auch nach anderen Armen umsehen und sie ihnen angeben.

Bald darauf kommt er in seiner Heimat an, und mit dem Gelde, das ihm die Frauen gegeben hatten, kaufte er sich einen Laden und verkaufte darin alles, was nur die menschliche Zunge zu nennen weiß. Dieser Laden lag gegenüber dem königlichen Palast, da, wo die Fenster der Königstochter hinausgingen. Von dort aus sah ihn eines Tages die Königstochter, und sie verliebten sich. Der König und die Königin, als sie bemerkten, daß der Jüngling, der den gegenüberliegenden Laden hatte, sehr fleißig sei, beschlossen, ihm ihre Tochter zu geben. »Einen besseren Schwiegersohn können wir nicht finden«, sagte der König. Sie entschließen sich also, und an einem Feiertage laden sie ihn in den Palast ein und sagen zu ihm, da sie sähen, daß er fleißig sei, so gäben sie ihm ihre Tochter, und wenn sie, die Alten, gestorben seien, so solle er auf dem Thron sitzen. —Um nicht viel Worte zu machen - er nahm es an, und sie beschließen, am nächsten Feiertage Hochzeit zu machen. Am nächsten Feiertage war der Palast mit Fahnen geschmückt, und eine Menge Leute gingen ein und aus: zu dieser Stunde fand die Hochzeit der Königstochter mit dem Jüngling statt.

Als sie getraut waren, dreht sich der Jüngling um und sagt zu dem König: »Gibst du zu, lieber Schwiegervater, daß, was im Himmel geschrieben ist, auf Erden nicht ausgelöscht werden kann?« — »Ich gebe es zu, lieber Schwiegersohn, aber warum fragst du?« — »Einst hast du doch aus deinem Haus einen Mohrenknaben vertrieben, der dir sagte, es stehe geschrieben, daß er die Königstochter bekomme?« — »Allerdings, lieber Schwiegersohn, tat ich das, weil ich es nicht ertragen konnte, daß ein Bastard sagte, er werde meine Tochter heiraten.« — »Nun, sieh her!« —damit zeigt er seine Brust, und es sehen alle, auch der König, daß er ganz schwarz war. Und dann sagt er zu ihm: »Ich bin der Mohrenknabe, den du vertrieben hast, weil du mich als Bastard ansahst; aber wiederum sage ich dir: Was im Himmel geschrieben ist, kann auf der Erde nicht ausgelöscht werden.«

»So ist es, meine Kinder« (schloß die Alte ihre Erzählung). »Darum darf es euch nicht wunderbar erscheinen, daß Marie Konstantios den Manuel Atrulidomichális bekommen hat, denn sie konnte den besten Burschen des Ortes bekommen, wenn Gott es wollte.«


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