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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Wie die Verpflegung, so die Bewegung

Es war einmal ein Bauer, der war überaus geizig, und seine Frau übertraf ihn an Geiz womöglich noch. Sie hatten nur einen einzigen Knecht, der sollte alle Arbeit ganz allein tun, und dazu erhielt er nur eine sehr schmale Kost.

Als die Zeit der Ernte kam, schickte der Bauer seinen Knecht hinaus aufs Feld, er solle das Korn schneiden und die Oliven ernten. Er gab ihm einen Schnappsack mit, der war gar leicht zu tragen. Dem Knecht aber knurrte der Magen vor Hunger, denn er hatte am Morgen noch nichts zu essen bekommen.

Kaum war er auf dem Feld angekommen, öffnete der Knecht als erstes seinen Sack, aber er fand nur ein kleines Stück schwarzes Brot und ein winziges Fischlein darin, die Flasche aber enthielt nichts anderes als Brunnenwasser. Da wurde der Knecht zornig und schwur, 'wie das Essen, so die Arbeit<. Dann aß er das wenige, das er vorgefunden hatte, legte sich unter einen Feigenbaum zur Ruhe und verschlief den ganzen Tag.

So trieb er es von nun an immer, denn er fand nie etwas anderes in seinem Sack als ein Stücklein schwarzes Brot, ein kleines Fischlein und pures Wasser. — Nun kam eines Tages ein Nachbar zu dem geizigen Bauern und fragte ihn: »Hör mal, warum erntest du nicht dein Feld ab? Der Weizen ist doch schon längst reif.« Da antwortete dieser: >'Mein Knecht geht ja jeden Tag hinaus aufs Feld, schneidet das Getreide und sammelt die Früchte.« —»Nein«, sagte der Nachbar, »dein Knecht liegt unter dem großen Feigenbaum und schläft.«

Da wollte es der Bauer nicht glauben, denn der Knecht hatte sonst immer pünktlich alle Arbeiten verrichtet, die ihm aufgetragen waren.

Am nächsten Morgen ging der Bauer in aller Frühe heimlich selber aufs Feld und versteckte sich. Bald danach kam auch sein Knecht dort an, öffnete den Sack, holte das kleine Stück schwarzen Brotes und das Fischlein heraus, nahm einen Schluck aus der Flasche und sagte: »Wie die Verpflegung, so die Bewegung.« Und damit legte er sich in den Schatten des Feigenbaumes und schlief sogleich ein. Da schlich der Bauer von dort weg und ging zu seinem Nachbarn. »Du hast recht«, sprach er, »der Taugenichts liegt auf meinem Feld und schläft, statt zu arbeiten. Meinst du, ich sollte ihm eine tüchtige Tracht Prügel verabreichen?« —»Nein, tu das nicht«, riet ihm dieser, »sonst läuft dein Knecht



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davon. Ich glaube fast, daß deine Frau diesem Knecht nicht genug zu essen gibt.«Da wartete der Bauer, bis abends sein Knecht nach Hause kam; dann sprach er zu ihm: »Alle unsere Nachbarn sind schon fertig mit der Ernte, nur du hast sie noch nicht eingebracht.« »Wie das Essen, so die Arbeit«, sagte der Knecht. »Gebt mir mehr zu essen, dann will ich den Vorsprung der Nachbarn gleich einholen.«

Da ging der Bauer zu seiner Frau und sagte: »Frau, unser Knecht arbeitet nicht richtig, weil er zu wenig zu essen bekommt.« — »Der Galgenstrick bekommt mehr als genug«, antwortete sie. Da wurde der Bauer wütend und rief: »Entweder du tust, was ich dir sage, oder du machst die Erntearbeit selbst! Glaubst du denn, der Mensch braucht weniger als der Ochs und der Esel?« Und er schimpfte fort und schilderte der Frau, wie durch ihre Schuld die ganze Ernte zugrunde gehen könnte. »Nun, wenn du schon Hab und Gut an alle Welt verschleudern willst, dann soll der Knecht es meinetwegen verprassen!« schrie schließlich die Frau. Sie heizte den Backofen an, buk einen großen Honigkuchen, schlachtete einen Hahn und gab alles in den Sack, wobei sie nicht vergaß, die Flasche mit dem besten Wein zu füllen.

Am nächsten Tag kam der Knecht auf das Feld und öffnete seinen Sack. Als er die herrlichen Dinge sah, die darin lagen, sprach er: »Heute ist's nichts mit dem Faulenzen! Wie die Verpflegung, so die Bewegung!«Er machte sich gleich an die Arbeit und hatte bis zum Abend fast die ganze Ernte eingebracht. Da staunten der Bauer und seine Frau über den Fleiß des Knechtes, und da ihr Geiz nun schon einmal einen Riß hatte, scherten sie sich nicht mehr um die Aufwendungen, sondern ließen den Knecht hinfort so viel essen, wie er wollte. Und das wiederum hatte zur Folge, daß sie sich nie mehr über die Faulheit des Knechtes zu ärgern brauchten.


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