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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die Schlange

Es war einmal ein Kaufmann, der hatte drei Töchter. Als er eines Tages auf die Reise ging, um seine Geschäfte voranzutreiben, fragte er seine Töchter, was er ihnen mitbringen sollte. Die älteste bat ihm um einen schönen Unterrock, die zweite dagegen um ein Schmuckstück, die jüngste aber sagte: »Ich wünsche mir nichts als ein paar Rosen, die es



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jetzt auf dem Markte reichlich gibt.« Nun gut, der Vater ritt fort, wickelte seinen Handel ab und kaufte zum Schluß die Geschenke ein, die er seinen Töchtern versprochen hatte. Nachdem er den Heimweg angetreten hatte, kam ein so heftiger Hagelsturm, der ihm seinen Rosenstrauß völlig zerschlug. Der Sturm wurde immer heftiger, und der Kaufmann war froh, als er schließlich ein Tor erblickte und sich unter ein Obdach flüchten konnte. Er versorgte sein Pferd und ging ins Innere des Hauses, konnte dort aber niemanden treffen. Da er hungrig war, aß er von den Speisen, die er auf der Tafel vorfand, und trank auch von den Getränken. Inzwischen hatte sich der Sturm gelegt, und der Kaufmann konnte daran denken, seinen Heimweg fortzusetzen. Er sattelte sein Pferd und war gerade dabei abzureiten, da bemerkte er im Garten einen Rosenstrauch, und die Bitte seiner jüngsten Tochter fiel ihm wieder ein. Er trat hinzu und pflückte sich einen Strauß Rosen ab. Kaum war das geschehen, da erschien vor ihm eine Schlange und sprach: »O du undankbarer Mensch! Genügt es dir nicht, daß du in meinem Hause Obdach, Speise und Trank gefunden hast? Mußt du mir auch noch meine liebsten Rosen mißgönnen und sie abreißen?« Der Kaufmann antwortete: »Hätte ich dich früher gesehen, dann hätte ich dich gewiß um Erlaubnis gefragt.« — »Gib acht, was ich dir sage«, antwortete ihm die Schlange, »du hast die Rosen für deine jüngste Tochter gepflückt; nun sollst du sie mir hierherbringen. Wenn du dich weigerst, werde ich dich aufsuchen und dich töten.« Weil den Kaufmann eine große Furcht ankam, stimmte er zu; was sollte der arme Mann sonst schon sagen?

Daheim angelangt, kamen sogleich die beiden ältesten Mädchen auf ihn zu und fragten nach ihren Geschenken. Die jüngste aber wartete schüchtern. »Komm her, liebe Tochter«, sprach der Vater, »hier sind auch die Rosen, die du dir gewünscht hast.« Und dabei traten ihm die Tränen in die Augen. Die Tochter verlangte zu hören, warum er denn weine, und er erzählte ihr sehr genau, was ihm auf dem Heimweg zugestoßen war. Sobald die Schwestern das erfuhren, schmähten und verhöhnten sie die jüngste und sagten: »Du hochmütiges Ding! Hättest du dir Schmuck oder Kleidung gewünscht wie wir, dann müßtest du nicht zu der Schlange gehen!« Das Mädchen aber, das sehr verständig war, kehrte ihnen den Rücken und ging ins Haus, um ihr Bündel zu schnüren. Als sie alles, was sie brauchte, beisammen hatte, bat sie den Vater, er möge das Pferd wieder satteln, nahm Abschied von ihren



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Schwestern und zog zum Palast der Schlange. Dort angekommen, führten sie das Pferd in den Stall und traten ins Haus hinein, wo sie wieder die Speisen vorfanden, ohne einen Menschen zu sehen. Bald aber stellte sich die Schlange ein und sprach zu dem Mann: »Ich sehe, du hast meinen Willen erfüllt. Nun kannst du getrost nach Hause zurückkehren!« Hierauf nahm er Abschied, während das Mädchen beider Schlange blieb.

Nicht lange darauf verfiel der Vater aus Kummer und Schmerz über die Abwesenheit seiner Lieblingstochter einer schweren Krankheit und mußte sich zu Bett legen. Die Schlange aber pflegte, wenn das Mädchen aß, sich auf ihren Schoß zu legen und sie zu fragen: »Nimmst du mich zum Manne, Liebste?« Aber das Mädchen antwortete immer: »Ich habe Angst vor dir.« Eines Tages nun fand das Mädchen in einer Schublade einen Spiegel, in dem sich die ganze Welt spiegelte. Auch ihren Vater konnte sie darin sehen, und sie wurde traurig, weil er so krank zu Bette lag. Sie weinte bitterlich, und die Schlange kam aus dem Garten gekrochen und fragte: »Was fehlt dir, mein liebes Röschen?« —»Schau hier in den Spiegel! Siehst du nicht, daß mein Vater krank ist?« Da sprach die Schlange zu ihr: »Offne mal jene Schublade dort. Da findest du einen Ring; den stecke dir an den Finger und sage mir, wie lange du wegbleiben wirst.« —»So lange, bis mein lieber Vater wieder gesund ist«, antwortete das Mädchen. Die Schlange sprach: »Sobald dein Vater dich wieder erblickt, wird er augenblicklich wieder gesund werden. Dann gebe ich dir noch eine Frist von einunddreißig Tagen. Kommst du bis dahin nicht zurück und bleibst du nur einen einzigen Tag länger, so wirst du mich tot finden.« —»Da sei der Himmel für!«rief das Mädchen. »Sei sicher, daß ich vor Ablauf der Frist wieder bei dir bin.«

»Nun gut«, versetzte die Schlange, »iß jetzt erst zu Mittag, und dann werde ich dir sagen, was du weiter zu tun hast!«Nachdem das Mädchen gegessen hatte, sprach die Schlange zu ihr: »Lege dich in dein Bett und nimm den Ring in den Mund, dann wirst du dich alsbald in deinem alten Zimmer wiederfinden.«Das Mädchen tat, wie ihr die Schlange geraten hatte, und gelangte so ins Haus ihres Vaters zurück. Sobald ihr Vater sie erblickte, ward er gesund und fragte sie, wie es ihr ginge. Sie erzählte nun von der Schlange und daß diese sich immer in ihren Schoß lege und sie frage: »Nimmst du mich zum Manne?«und daß sie bisher stets geantwortet habe: »Ich habe Angst vor dir«, worauf sich die Schlange stets seufzend entferne. Als der Vater dies vernahm, sprach



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er: »So sage doch mal zu der Schlange, daß du sie zum Manne nimmst; wir wollen sehen, was dann daraus wird.« Das Mädchen versprach, das zu tun. Als ihre Schwestern alles gehört hatten, rieten sie, nicht mehr zur Schlange zurückzukehren, denn auf diese Weise wäre diese tot und die Schwester frei und ledig. Aber die jüngste sagte: »Warum sollte ich wohl die arme Schlange sterben lassen, die sich mir so freundlich und hilfsbereit erwiesen hat?« Und sie blieb bis zu dem Tage, den ihr die Schlange bezeichnet hatte, bei ihrem Vater. Dann nahm sie von diesem und ihren Schwestern Abschied, legte sich ins Bett und nahm den Ring in ihren Mund und war sogleich wieder bei der Schlange.

Als diese sie erblickte, rief sie freudig aus: »Bist du da, mein liebes Röschen?« Und als das Mädchen speiste, legte sich die Schlange wieder in ihren Schoß und fragte: »Willst du mich zum Manne, Liebste?« Da nun das Mädchen antwortete: »Ei freilich!«, warf die Schlange sofort ihre Haut ab, und ein schöner Königssohn stand vor ihr. Zugleich bevölkerte sich der Palast mit Dienern und Leuten. Verwundert fragte das Mädchen den Prinzen, wer er sei und warum er in eine Schlange verwandelt worden wäre. Er erzählte ihr, das sei die Folge einer Verwünschung gewesen, weil er eine Waise verführt habe; und wenn er nicht eine Frau gefunden, die ihn zum Manne haben wolle, hätte er immer in der Schlangenhaut bleiben müssen. Nun war er von dem Fluch erlöst, und er ließ gleich den Vater und die Schwestern seiner Braut holen und die Hochzeit vorbereiten. Die Schwestern aber wurden ganz gelb vor Neid, als sie von dem Glück der jüngsten hörten, und beschlossen, ihr einen bösen Streich zu spielen. Aber dazu kam es nicht, denn der Prinz, der gelernt hatte, Gut und Böse zu unterscheiden, verwandelte sie in zwei Krähen. Röschen und ihr Vater fingen bitterlich zu weinen an, als sie das sahen, aber der Prinz sagte, sie müßten büßen, bis sie sich von ihren bösen Wünschen gereinigt hätten. Dann veranstaltete man eine große Hochzeit, und der Prinz machte seinen Schwiegervater zum Minister. Alles gedieh bei ihnen aufs beste; hier jedoch finde ich es noch besser.


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