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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Das Schicksal von Jannaki

Es waren einmal ein Mann und eine Frau im Dorf - er ein Besitzer, der gut zu wirtschaften verstand, aber Kinder bekam er nicht. Immer war er betrübt. Einmal ging er vom Land aus mit der Angel zum Fischen.



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Wie er so beim Fischen war, ging er auf einen ins Meer vorspringenden

Felsen. Dort stöhnte er von Herzen.

Auf der Stelle sprang ein Mohr herbei. Der redete ihn an: »Was hast du denn, daß du so stöhnst?«

Jener Mensch sagte ihm: »Was ich wohl habe?« sagte er. »Mir ist sehr beklommen zumut, weil Gott mich benachteiligte und mir kein Kindchen schenkte. Und in meinem Kummer streife ich umher, um ein Fischlein zu fangen . . . damit mir die Zeit vergeht.«

Der Mohr sprach zu ihm: »Ich vermag, dir ein Mittel zu geben, daß deine Frau schwanger wird, daß sie ein Knäblein bekommt. Doch nur zwölf Jahre lang wirst du dich seiner erfreuen. Wenn die zwölf Jahre um sind, sollst du es mir hier an die Stelle, wo du mich fandest, bringen. Sei aber ja darauf bedacht; wenn du es nach zwölf Jahren nicht bringst, so wirst du in deinem ganzen Geschlecht schwere Schicksalsschläge erleiden.«

Der wohlhabende Mann - dieser Arme - dachte: Dann will ich mich eben des Kindes zwölf Jahre lang erfreuen, und schließlich wollen wir bis dahin einmal sehen, wie es kommt.

Somit reichte der Mohr ihm einen Apfel, und den brachte er seiner Frau, ohne ihr aber etwas zu sagen. Er gab ihr den Apfel zu essen und sagte nur: »Hier komm - iß ihn.«

Von dem Tage an, an dem sie den Apfel genossen hatte, wurde sie schwanger. Nach neun Monaten gebar sie ein begnadetes, sehr schönes Knäblein. Die Freude der Eltern war so groß, daß sie sich nicht mehr beschreiben läßt.

Das Kindlein gedieh sehr gut. Als es sechs Jahre alt wurde, schickte der Vater es zur Schule. Das Kind, das äußerst feinfühlig war, nahm sehr gut auf, was gelehrt wurde. Es war immer der Erste in der Schule. Der Vater aber hatte dauernd den Kummer: Wie würde er es übers Herz bringen, es, wenn es zwölf Jahre alt wird, herzugeben, ohne daß die Mutter etwas davon weiß?

Als es dann zwölf Jahre alt war, stand der Vater vor der Notwendigkeit, das Gebot des Mohren zu erfüllen. In der letzten Nacht schlief er nicht vor Kummer.

Als er am Morgen wieder auf war, holte er die allerbesten Speisen herbei, um an diesem Tage etwas für das Kind zu tun. Er badete es, er zog ihm neue Kleider an, frische Wäsche, und dann sprach er zu ihm: »Komm am Nachmittag mit zum Fischen.«



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Er nahm also das Kind mit und ging fort. Als sie an die Stelle kamen, an die sie zu gehen hatten, fischte er, bis die Sonne unterging. Dann sprach er zudem Jungen: »Warte hier -ich muß mal etwas Kleines machen.«

Unter Tränen und Stöhnen ging der Alte davon und kehrte nach Hause zurück. Da sagte seine Frau zu ihm: »Wo ist Jannáki?«

Der Alte brach in Tränen aus und sprach: »Er ging, während ich beim Fischen war, ins Meer, und ein Haifisch hat nach ihm geschnappt und ihn aufgefressen.« Die Mutter weinte, daß es keinen Trost mehr gab.

Nun wollen wir von den Eltern, die weinten und wehklagten, lassen und uns Jannáki zuwenden, der seinen Vater verloren hatte und umherlief, um ihn zu suchen. Er ging in den Wald und wußte in der Dunkelheit nicht, wohin er lief.

Gott ließ es wieder Tag werden, und der kleine Bursch schritt ins Unbekannte weiter. Er wanderte ein, zwei Tage und Nächte lang, bis er an einen See kam. An diesem See befand sich am äußersten Ende, an einer entfernten Stelle, eine Hütte. Der kleine Bursch trat in diese Hütte ein, um sich auszuruhen.

Als er dort weilte, hörte er etwas wie ein Schlagen, wie ein Schwingen . . . und der Junge versteckte sich. Gleich danach sah er drei Tauben, die in die Hütte hinunterflogen.

Die erste sagte: »Es riecht mir doch nach Menschenfleisch . . .«Und die zweite sagte das gleiche.

Die dritte sagte: »Ach was, los . . . hier gibt's doch keinen Menschen!« Sie zogen sich aus und wurden zu drei fünfmalschönen Mädchen und stürzten sich in den See. Jannáki eilte herbei und griff nach den Kleidern und nahm sie weg. Da sagten die Mädchen zu ihm: »Um Gottes willen, gib uns unsere Kleider, denn wir sind nackt!«

Er packte die Kleider der ersten und gab sie ihr, auch die der zweiten gab er. Die der dritten, die die Schönste der ganzen Welt war, behielt er und zündete gleich ein dürres Geäst an und verbrannte ihr hautartiges Gewand, das sie oben drüber getragen hatte - in dem die Kraft steckte, in die Luft zu fliegen.

Das Mädchen hatte ihm wohl gesagt, er solle das Gewand ja nicht verbrennen, weil sie sonst zugrunde gehen würde. Doch weil er Angst hatte, sie könnte ihm entfliehen, verbrannte er es. Da blieben die beiden dort allein zurück. Ihre Schwestern waren davongeflogen.

Nachher gingen sie fort und schlugen den Weg zu der Stadt, außerhalb



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von der das Mädchen in einem kleinen Dorf lebte, ein. Sie schritten fünf Tage und fünf Nächte lang, um dorthinzukommen.

Weil sie aber Furcht vor ihrer Mutter hatten, ließen sie sich in einem ärmlichen Häuschen in der Nachbarschaft nieder.

Ihre Mutter, die eine Zauberdrakin war, mochte ihre Tochter gar nicht sehen.

Es vergingen zwei, drei Monate. Sie lebten in Armut. Jannáki arbeitete als Knecht für Fremde, damit sie zu leben hatten. Als einige Zeit vergangen war, kam der König zuweilen in dieser Nachbarschaft vorüber, und so erblickte er die junge Frau -da war er ganz verblüfft von ihrer Schönheit...

Als er in den Palast gegangen war, schickte er gleich Bewaffnete hin, um den Mann der jungen Frau herbeizuholen. Sie gingen hin und brachten ihn an.

Der König sprach zu ihm: »Wie bist du zu dieser Frau gekommen?« Er antwortete ihm: »Wie kommen wohl die Männer zu den Frauen? Sie war mir vom Schicksal bestimmt, und so holte ich sie.«

Da sprach der König zu ihm: »Diese Frau gehört nicht zu dir, sie gehört mir -damit sie Königin wird.«

»Ist das möglich«, sagte Jannáki zu ihm, »daß du meine Frau wegnimmst? Gibt es ein Gesetz«, sagte er zu ihm, »daß du dem andern die Frau wegnehmen kannst?«

»Ich werde dir drei Aufgaben als Wetten auferlegen«, sprach da der König zu ihm, »wenn du die gewinnst, wird die Frau dein sein - wenn es aber anders kommt, will ich dich köpfen lassen, damit ich sie selber nehme. Am Sonntag werde ich dir die erste Wette verkünden.« Wer weinte nun und klagte? Jannáki. Er ging weinend zu seiner Frau. Er wollte weder essen noch trinken vor Kummer und Not. Seine Frau äußerte zu ihm: »Hatte ich dir nicht gesagt, daß du mir ja das Gewand nicht verbrennen solltest?«

Am Sonntag begab er sich zum König, damit der ihm die Wettaufgabe verkündete. Vor den Zwölfen (—den zwölf engsten, ersten Beratern des Königs-) und dem ganzen Rat sprach der König zu ihm: »Du sollst mir eine Weintraube bringen, von der soll mein ganzer Rat der Zwölf essen und mein ganzes Heer, und hinterher soll die Traube unversehrt sein!«

Das schien dem jungen Mann »etwas ganz besonders Ausstudiertes« zu sein, nicht nur dem jungen Mann, sondern allen, die es hörten.



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Jannáki ging fort - er kam mit Geweine zu seiner Frau. Er saß die ganze Nacht ungetröstet da. Zur Zeit der Morgendämmerung erbarmte sich seine Frau dann doch seiner und sagte zu ihm: »Geh meine Mutter besuchen - deine Schwiegermutter -, um ihr zu sagen, daß sie dir die Weintraube geben soll, die am Spalierdach hängt.«

Jannáki brach auf und ging zu seiner Schwiegermutter und klopfte bei ihr an die Tür - er kannte sie ja gar nicht. Er sah ein Weib, ein richtiges Ungetüm, eine Drachin. »He . . ., he . . ., willkommen sei mir, Jinni«, sagte sie zu ihm. »Was willst du denn?«

Sie mochte ihn, aber ihre Tochter wollte sie überhaupt nicht sehen, weil ihre Schwestern ihr gesagt hatten, sie hätte kein Menschenfleisch gewittert, als sie zum Baden in den See gingen. Und so meinte ihre Mutter, sie sei im Einverständnis mit Jannáki gewesen.

»Willst du mir die Traube geben, die an eurem Spalierdach hängt?« »Dir zu Gefallen, mein Schwiegersohn, will ich sie hergeben.« Dann lief sie gleich fort und brachte eine Traube mit drei Beeren an.

Jannáki nahm die Traube und lief weg. Während er nach Hause ging, sagte er (sich): Na . . . von drei Beeren sollte der Rat der Zwölf essen und das ganze Heer dazu? Da will ich sie selber essen, und dann mögen sie mich eben köpfen, eh' daß ich sie etwa hinbringe, und die verspotten mich!

Als er eben eine Beere abgebrochen hatte, sprossen zwei andere hervor, er brach die zwei wieder ab, da sprossen vier hervor. Und so viel er auch abbrach, die Traube wurde immer größer. Er bekam es fertig, alle abzubrechen (und aufzuessen), so daß nur ein Träubchen mit drei Beeren zurückblieb, und das brachte er seiner Frau. Die Frau wußte gleich Bescheid und sagte zu ihm: »Jetzt kannst du nichts machen, du hast es zerstört.« Sie wollte ihm eins auswischen.

Am Mittag nahm er die Traube und ging zum König, wo ihn alle erwarteten.

Der König sprach zu ihm: »Hast du die Traube gebracht?«

Jánnis holte etwas zwischen Rock und Brust hervor, eine Traube mit drei Beeren holte er hervor.

Der König lachte. »Von dieser Traube sollte der ganze Rat der Zwölf essen und mein ganzes Heer?«

»Ja, sehr wohl«, sagte Jànnis zu ihm, »von dieser Traube.«

Sie begannen also zu essen. Der König kam, um als erster zu essen. Er brach eine Beere ab, zwei sprossen hervor, um so viel, wie er abbrach,



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wurde die Traube größer. . . Das ganze Heer aß, und die Traube wurde fünfhundert Okka schwer.

Da klatschte der ganze Rat der Zwölf dem Jannáki Beifall.

Der König sprach zu ihm: »Am Sonntag sollst du herkommen, damit ich dir die nächste Wette verkünde.«

Jannáki ging weg, er begab sich heim. Er verbrachte die ganze Woche in Hangen und Bangen. Am Sonntagmorgen begab er sich zum König, damit der ihm die nächste Wette verkünde.

Der König sprach zu ihm: »Besorg dir ein Pferd, damit du herkommen kannst, um mit meinem Kämpfer zu Lande einen Kampf auszufechten.« « —Der Kämpfer des Königs dort war der beste, den es auf der Welt gab.—

Jannáki ging wieder betrübt weg und begab sich weinend heim. Er teilte seiner Frau die Wettaufgabe mit. Die Frau äußerte zu ihm: »Hatte ich dir nicht gesagt, daß du mir das Gewand nicht verbrennen solltest?« Sie ließ ihn wieder bis in die Morgendämmerung weinen. Erst mit der Morgenröte sprach die Frau zu ihm: »Geh zu meiner Mutter, sie soll dir unser Dreibein geben.«

Jannáki brach auf, er ging zu seiner Schwiegermutter. Er klopfte bei ihr an die Tür, sie steckte den Kopf vor: »Ha . . . he . . . sei mir willkommen, mein Schwiegersohn! Was willst du, mein Schwiegersohn?«

»Gib mir das Dreibein, das du besitzt.«

»Gleich, mein Schwiegersohn«, sagte sie zu ihm. Sie lief weg und brachte ihm ein Pferdchen mit drei Beinen an.

Jannaki nahm es und ging fort. Unterwegs wollte er auf das Pferdchen steigen, da fiel es um. Das hatte seine Frau (die sich auf Zauberei verstand) so veranlaßt, um ihn etwas zu quälen, weil er ihr Gewand verbrannt hatte, das ihre Mitgift war. Sie liebte ihn aber dennoch.

Er zog das Pferd hinter sich her und ging heim. Als er nach Hause kam, schickte ihn seine Frau noch einmal zu ihrer Mutter, er solle das Schwert ihres Vaters holen. Wieder ging Jannáki zu seiner Schwiegermutter und erbat das Schwert von ihr.

Die Schwiegermutter ging ihm ein Schwert holen. . . das vor Rost nicht aus der Scheide ging. Er nahm es und lief zu seiner Frau. Zu der sagte er: »He . . . Frau, dies Schwert da vermag ich nicht aus der Scheide zu ziehen. Wie könnte ich da zum Kampfe gehen?«

Sie sagte: »Das haben wir - das geben wir dir.«

Am nächsten Tage rüstete sich Jannáki aus, um sich zum Schwertkampf



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zu begeben. Er gürtete sich mit dem verrosteten Schwert, nahm das Pferdchen am Zügel, schleppte es hinter sich her - und so zog er los. Und er ging an die bestimmte Stelle, wo der Schwertkampf vonstatten gehen sollte. Um die Zeit, als alle Welt ihn dort erblickte, wie er das Pferdchen hinter sich herschleppte, brach man in Lachen aus.

Der Schwertkämpfer des Königs dagegen war wie ein großes Ungeheuer, wie ein Riese und das Pferd sehr schön und stattlich.

Der Schwertkampf sollte genau um zwölf Uhr losgehen. Genau um zwölf Uhr, als das Horn erschallte, stand das Dreibein von Jannáki aufrecht da. Und es sprach zu ihm: »Jannáki, sei bereit. Zieh das Schwert.« Aus etwas, worauf drei Finger breit der Rost gesessen hatte, wurde ein Ding, das nur so blitzte . . . Er zog das Schwert und schwang sich aufs Pferd. Als er kaum darauf saß, stampfte das Dreibein mit den Hufen auf und flog in die Luft. Das Dreibein sprach zu Jannáki: »Nun sei bereit! Sobald ich es dir sage, sollst du ihm den Schwerthieb geben!«

Sie flogen einmal im Kreise, damit alle Leute sie sehen konnten, und danach flog ihn das Dreibein in einer Wendung (auf den Schwertkämpfer zu), Jannáki nahm ihm sofort (mit einem Hieb) den Kopf ab... und in anderer Richtung das Pferd

Und dann flog das Dreibein eine Schleife und ließ sich vor dem König nieder, und Jannáki überreichte dem König den Kopf des Schwertkämpfers.

Da begann alle Welt, Jannáki Beifall zu klatschen, weil alle ihn gern hatten... außer dem König, dem sehr beklommen zumut war.

Er sprach zu Jannáki: »Auch diese Wette hast du gewonnen! — Am Sonntag sollst du herkommen, damit ich dir auch noch die dritte Wette verkünde.

Dankbar zufrieden ging der junge Mensch fort und brachte das Dreibein zu seiner Schwiegermutter und kehrte heim. Seine Frau lächelte, denn sie wußte ja alles durch ihre Zauberkraft.

Als der nächste Sonntag kam, ging der junge Mensch zum König, damit der ihm auch noch die nächste Wette verkünde. Dort war der ganze Rat der Zwölf versammelt und viele andere Leute, um zu hören, was für eine Wettaufgabe der König auferlegen würde.

Der König sprach zu Jannáki: »Mein Vater ist seit vierzig Jahren tot. Du sollst ihn aufsuchen, damit er dir den Schlüssel zur Geldtruhe gibt. Den sollst du mir bringen, weil ich die Truhe aufmachen will, um die



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Gelder, die darin sind, herauszunehmen.« Denn der Vater war nämlich »von der gleichen Schiffsladung« wie sein Sohn. (Er war ganz von der gleichen Art.)

Jannáki drehte sich (dem König zu) und sah ihn ganz, ganz genau an — sollte der König vielleicht nicht mehr recht bei Sinnen sein?

»Ist das möglich«, sprach dann der junge Mensch zu dem Rat der Zwölf, »daß sein Vater seit vierzig Jahren tot ist und daß ich ihn aufsuchen könnte?«Was sollten die Zwölfe sagen? Im Angesicht des Königs konnten sie nicht sprechen. Doch auch sie hielten ihn für nicht mehr bei Sinnen. Der König sprach: »Das ist die Wette. Ich gebe dir eine Frist von drei Tagen.«

Da ging Jann<iki wieder tränenden Auges weg und lief zu seiner Frau. Und er teilte ihr die Wettaufgabe mit. Seine Frau erwiderte ihm: »Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest mein Gewand ja nicht verbrennen?« Nachdem die Dunkelheit gekommen war und nachdem Jannáki bis Mitternacht geweint hatte (diesmal erbarmte sie sich schneller seiner als bei den anderen beiden Malen), sprach seine Frau zu ihm: »Geh zu meiner Mutter. Sie soll dir das Dreibein geben, damit du es herbringen kannst.

Er ging hin, er klopfte bei seiner Schwiegermutter an. Die sagte, als sie ihn kaum erblickt hatte: »Mein Schwiegersöhnchen, sei mir willkommen! Was willst du?« »Das Dreibein will ich, um es deiner Tochter zu bringen.«

Die Schwiegermutter ging, ihm das Dreibein zu holen. Er nahm es mit und brachte es heim. Seine Frau nahm ein rotes Tuch und band ihm seine Augen zu. Und dann sprach sie zu ihm: »Das Pferdchen wird dich geradenwegs dahin bringen, wo sein Vater ist. Der steckt bis zum Halse im Pech, und vor ihm fließt Wasser vorbei, und er ruft: >Findet sich denn kein Christenmensch ein, um mir ein wenig Wasser zu geben? . daß ich mir die Zunge netzen kann. . . da ich doch seit vierzig Jahren kein Wasser getrunken habe . . .< — Wenn du aber in der Hölle ankommst, wirst du rechts und links vor dir schreien hören. Daß du ja nicht etwa die Augen auf machst, um hinzublicken, denn ich bürge dir nicht dafür, was dann über dich käme. Das Pferdchen wird dich dahin bringen, wo du hinzugehen hast. Und dann erst sollst du das rote Tuch über die Augen streifen und vom Pferd steigen, um dem Vater des Königs Wasser zu geben, daß er genug bekommt.«

Jannáki stieg aufs Pferd, und das stampfte mit seinen Hufen auf den



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Boden und flog in die Luft. Als sie in der Hölle ankamen (die Hölle befindet sich nämlich auch oben im Himmel), vernahm er rechts und links Schreie, die einen weinten, andere schrien: der Besucher möchte sie mitnehmen. Er wandte sich jedoch gar nicht um. Sie gelangten zu dem verstorbenen König. Jannáki stieg vom Pferd. Er hörte ihn rufen: »Gebt mir ein wenig Wasser, daß ich mir die Lippen kühlen kann.«

Jannáki streifte das Tuch von den Augen, schöpfte mit der hohlen Hand und schüttelte dem König Wasser zu, so daß er seinen Durst stillte. Als er getrunken hatte und ihn Dankbarkeit erfüllte, sprach er: »Wer bist du, Christenmensch, der du mich erfrischt hast? Und was für eine Gunst willst du von mir?«

»Die Gunst, die ich von dir haben möchte, ist, daß du mir den Schlüssel zu deiner Geldtruhe gibst, damit ich ihn dem Tyrannen bringen kann —deinem Sohn.«Und der junge Mensch erzählte ihm alles bis ins einzelste, was er mit seinem Sohn durchmachte.

Da stöhnte der König aus den Tiefen seines Herzens. Er sagte zu dem jungen Mann: »Sei mir behilflich, daß ich meine Hand aus dem Pech ziehen kann, und gib mir ein Bleistiftlein und ein kleines Blatt Papier, daß ich zwei Worte an ihn schreibe.«

Der junge Mann gab ihm dann gleich den Bleistift und ein Stückchen Papier, und der König schrieb. Jannáki nahm den Brief an sich, er steckte ihn in die Tasche, und danach sprach der König zu ihm: »Nimm den Schlüssel von meinem Hals und geh nun. Und sage meinem Sohn auch noch mündlich, daß er mit der Menschheit nicht tyrannisch umspringen soll, denn sonst wird er erleiden, was ich erlitten habe . . . der ich mich seit vierzig Jahren hier befinde, und vor meinem Mund fließt Wasser vorbei, und ich kann nicht trinken.«

Der junge Mensch grüßte den König zum Abschied, stieg wieder auf sein Pferd und ritt los, um sich davonzumachen. Auf dem Wege riefen sie ihn wieder an, die einen weinten, andere schrien. Aus Neugierde hob der junge Mann ein wenig das Tuch, um hinzusehen. . . Doch mit dem Hochstreifen des Tuches bekam er vierzig Stockschläge weniger einen . . . Da kam er auf einmal bei seiner Frau an, aber sein Rücken war rot vor Prügeln. Seine Frau sprach zu ihm: »Hatte ich dir nicht gesagt, daß du das Tuch gar nicht hochstreifen solltest?«

Am dritten Tage ging er aus und begab sich zum Könige. Alle waren schon neugierig zu erfahren, ob wohl diese Wettaufgabe gelöst würde. Der König sprach zu ihm: »Hast du den Schlüssel geholt?«



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»Nein. Wie könnte das möglich sein, daß ich herumlaufe, um deinen Vater zu finden, der vierzig Jahre tot ist?«

Der König freute sich, und er befahl, man solle ihn ergreifen, um ihn zu enthaupten. Da zog der junge Mann den Schlüssel zwischen Rock und Brust hervor und gab ihn dem König. Der König nahm ihn, ging unverzüglich zur Geldtruhe, steckte den Schlüssel (ins Schloß), und gleich ging die Geldtruhe auf, und die Goldstücke rollten auf den Boden. . . Dann holte der junge Mensch den Brief hervor und gab ihn dem König. Der König las, und er brach in ein Weinen aus - dieser Tyrann, der die Menschheit als Tyrann behandelt hatte.

Sein Vater schrieb ihm: »Mein Sohn, entsage dem Königreich und werde Bettler, damit du nicht mehr mit der Menschheit tyrannisch umspringst. Denn ich selber bin nämlich von dem Tage, an dem ich gestorben bin, mitten im Pech, und vor meinem Mund fließt das Wasser vorbei, und ich kann nicht trinken.«

Als das der König gelesen hatte, legte er sogleich vor dem Rat der Zwölf seine Gewänder ab und gab sie Jannáki und sprach zu ihm: »Von heute an bist du König und ich ein Bettler auf deinem Hof.« Da waren die Zwölf zufrieden, daß sie diese Qual aus dem Kopfe hatten, denn der König war ihnen gegenüber ein Tyrann gewesen.

Dann nahm Jannáki sein Pferd; er führte es zu seiner Schwiegermutter. Seine Schwiegermutter hatte ja gewußt, daß er König werden würde, weil sie eine Zauberin war. Sie freute sich sehr über ihn und gab ihm ihren Segen. Nachher ging Jannáki heim, holte seine Frau und geleitete sie in den Palast. Dort legte er ihr nunmehr lauter goldene Kleider an. Und dann sprach er zu ihr: »Nun warte einen Monat lang auf mich, damit ich meine Eltern holen gehe.«

Der junge Mann nahm ein Pferd und auch einige Bewaffnete als Begleitung mit und ritt in die Gegend, wo sein Vater und seine Mutter wohnten. Als er in sein Dorf kam, ging er von außen vor sein (Eltern) haus, er sah es ganz schwarz verhangen. Er trat ins Haus, er erblickte seinen Vater mit einem Vollbart (dem Zeichen der Trauer), seine Mutter in schwarzen Kleidern. Ihm traten die Tränen in die Augen. Er sagte zu seinem Vater: »Warum trägst du einen Bart, Ohm?« Er wollte ihm nicht gleich sagen, daß er sein Sohn ist, um die Eltern nicht zu erschrecken.

Der Vater sagte zu ihm: »Ich hatte einen kleinen Jungen, und der ist mir gestorben«, und er begann zu weinen.



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Jannáki sagte gleich zu ihm: »Vergieß doch nicht Tränen, dein Sohn lebt.«

Der Alte äußerte: »Aber wie kann es sein, daß er lebt, nachdem acht Jahre vergangen sind, seit ich ihn verloren habe?«

Da sprach der Sohn zu ihm: »Würdest du ihn erkennen, wenn du ihn sehen solltest?«

»Wie wäre das möglich, daß ich mein Kind nicht erkenne?«

Dann aber konnte der Sohn nicht mehr an sich halten und umarmte seinen Vater und sagte zu ihm: »Ich bin dein Sohn, den du an dem vorspringenden Felsen zurückließest .

Sein Vater und seine Mutter fielen um den Hals ihres Kindes und küßten es.

Sie blieben dort zwei, drei Tage, und dann sprach der Sohn: »Nun wollen wir in mein Land ziehen.«

Der Vater sagte: »Wie könntest du diese Reichtümer hier verlassen?« »Was für Reichtümer sind das hier schon? Gegenüber den meinen ist es gar nichts.«

Sie brachen zu der Stadt und dem dazugehörigen Land auf, wo er König geworden war. Als sie dort hinkamen, bereitete man ihm einen großartigen Empfang, und dem Vater ging auf, daß sein Sohn nun König war. Dann wurde Hochzeit gefeiert - denn verheiratet waren er und seine Frau ja noch nicht. Und dann haben sie gut gelebt und wir dabei noch besser.

(Als der Erzähler des Märchens geendet hatte, fügte er noch hinzu: »Dieses Märchen hat einen tiefen Gehalt. Mit dem Mohren, der den Jungen des Bauern haben will, wenn er zwölf Jahre alt wird, ist das Schicksal gemeint, das ihn aus dem Dorf und der gewohnten Umgebung reißt, ihm einen anderen Weg zuteilt als den übrigen Kindern des Dorfes und ihn schließlich zum König macht.«)


Copyright: arpa, 2015.

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