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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


Liebesgeschichten

Der Liebesgeschichten, die in 1001 Nacht vorkommen, ist eine große Zahl. Aber sie sind ganz verschiedener Art; kurze Anekdoten, die man »Skizzen« nennen könnte, wechseln mit langen Liebesromanen; keusche, entsagungsvolle Liebe und echte, triumphierende Treue auf der einen Seite, bedenkliche Liebensabenteuer oder gar krasse Ehebruchsgeschichten auf der anderen Seite. Man kann hier drei Gruppen unterscheiden, von denen keine einzige etwas mit den Hezâr Efsân zu tun hat; wie viele von ihnen bereits in die Baghdader Fassung von 1001 Nacht aufgenommen wurden, entzieht sich vorläufig unserer Kenntnis. Die erste Gruppe ist die der altarabischen aus der Zeit vor dem Islam; sie sind meist kurz, in ihnen wird reine Liebe und Treue bis zum Tode geschildert, vom Liebestod wird oft erzählt, der Ort der Handlung ist die Wüste oder eine der Städte Arabiens; die schon stark einsetzende Sentimentalität nimmt sich bei Beduinen der Wüste etwas sonderbar aus. Die zweite Gruppe stammt aus Basra und Baghdad; städtische Kultur und Großstadtleben werden durchaus vorausgesetzt, das Liebesleben wird teils zu Liebesabenteuern, die liebenden Jünglinge oder Männer schleichen sich in die Häuser oder in den Palast ein, die Liebe zu schönen Sklavinnen tritt stark hervor, während es sich in der Wüste um freie Mädchen handelt, eine etwas dekadente Frivolität macht sich bereits bemerkbar. Die dritte Gruppe ist in Ägypten, hauptsächlich wohl in Kairo entstanden; in ihnen ist Laszivität und Frivolität nichts Ungewöhnliches mehr. So heißt es auch 1 341: »Sie



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hatte jedoch vom Volk von Kairo die Unzucht gelernt«; ferner nennt der Wachthauptmann von Kairo die dortigen »Häuser der Unzucht«(III, 313), und Zain el-Asnâm muß die Erfahrung machen, daß »es ihm nicht möglich war, in Kairo ein Mädchen zu finden, das vollkommen keusch und rein war« (VI, 232). Diese Urteile sind natürlich stark verallgemeinert, aber sie zeigen doch, in welchem Ansehen Kairo bei manchen Muslimen stand.

Liebesgeschichten müssen früh bei den Arabern und den arabisch sprechenden Muslimen sehr beliebt geworden sein. Bei den heidnischen Arabern gab es neben der Heldenpoesie schon eine entwickelte Liebespoesie; die Verbindung eines Liebesliedes mit einem Heldenliede wurde sogar zum poetischen Stil. In diesen Liedern tritt bereits eine starke Sentimentalität hervor; von Schmerz der Trennung, von der Sehnsucht nach der Geliebten wird oft gesungen. »Jene Asra, welche sterben, wenn sie lieben«sind durch Heines Lied »Der Asra« allgemein bekannt geworden. Ein Liebestod ist sogar inschriftlich bezeugt; denn eine griechische Grabinschrift aus dem Haurin-Gebiet, das damals von Arabern besiedelt war, lautet: »Aurelius Wahbân, Sohn von Alexandros. Liebe brachte mir den Tod. «' Trotz der angenommenen griechisch-lateinischen Namen erkennen wir an dem Namen Wahbân, daß dies Opfer der Liebe ein echter Araber war. Aus vorislamischer Zeit werden folgende Liebesgeschichten in 1001 Nacht erzählt: Die Liebenden aus dem Stamme der 'Udhra (III, 433); El-Mutalammis und sein Weib Umaima (III, 439) Die Liebenden vom Stamme Taiji (III, 558); Die Geschichte von 'Utba und Rana (VI, 616), die zwar aus der



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frühislamischen Zeit datiert wird, aber echt altarabisch ist. Die Geschichte der Liebenden vom Stamme 'Udhra (IV, 650) und die Geschichte von dem Beduinen und seiner treuen Frau (IV, 660) sind hierher zu stellen, obgleich sie zur Zeit des ersten Omaijadenkalifen spielen; der Schluß der letzteren erinnert an das berühmte Gedicht der Kalifengattin Mais Cin, die sich nach der 'Wüste zurücksehnt.' Diese Geschichte sowie die der Liebenden von 'Udhra und von Taiji kommen in der Sammlung des Ibn es-Sarrâdsch vor; sie waren demnach in Baghdad im elften Jahrhundert bekannt.'

In die Gruppe der Baghdader Liebesgeschichten mögen hier die gestellt werden, die nicht mit Sicherheit als ägyptische zu erkennen sind; durch spätere Forschung mag hier noch manches genauer erkannt werden. Da ist zunächst die Geschichte von Ghânim ibn Aijûb, dem verstörten Sklaven der Liebe (I, 460); sie ist mit Eunuchenanekdoten untermischt und wird in einigen Handschriften als Teil des Romans von 'Omar ibn en-Nu'mân gerechnet (oben S. 694). Die berühmte Sklavin Harûns Kût el-Kulûb, die von der eifersüchtigen Kalifengemahlin Zubaida beiseite geschafft wird, erscheint hier wie in der Humoreske vom Fischer Chalîfa. Als Teil des Romans von 'Omar erscheint auch in den gedruckten Ausgaben die Geschichte von 'Azîz und 'Azîza (11,25); sie ist in eine andere Liebesgeschichte eingefügt, die von Tâdsch el-Mulûk und der Prinzessin Dunja (II, W, und letztere ist nur eine andere, aber ganz ähnliche Form der Geschichte von Ardaschîr und Hajât en-Nufûs (V, W. Diese Geschichte stammt sicher aus der Baghdader Zeit; der Name Ardaschîr weist nach Persien,



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die Episode, in der die Prinzessin durch ein geschickt gemaltes Bild eines Vogelstellers, einer Taube und eines Täubers, von ihrer Abneigung gegen die Männer geheilt wird, stammt aus Indien. Man hat wohl mit Recht vermutet, daß der ganze 'Omar-Roman mit der Geschichte von Tâdsch el-Mulûk erst dann ein Teil von 1001 Nacht wurde, als die Parallelerzählung von Ardaschir bereits aufgenommen war; so erklärt sich am ehesten das doppelte Vorkommen. Auf einer Baghdader Anekdote, die aber kaum auf historischen Tatsachen beruht, ist die Geschichte von 'All ibn Bakkâr und Schams en-Nahâr (II, 289) aufgebaut. Der Held verliebt sich in eine Sklavin Harûns und hat zuerst einen Freund in Abu el-Hasan; dieser rettet sich, als das Abenteuer gefährlich wird, durch die Flucht nach Basra, was ohne Mißbilligung erzählt wird; aber das wäre zur Zeit Harûns unmöglich gewesen, während es zwei -bis dreihundert Jahre später denkbar war. Das Ganze ist eine arabische sentimentale Dichtung. Zu der Geschichte von Dschubair ibn 'Umair und der Herrin Budûr (III, 258) bildet die Geschichte der Liebenden zu Basra (IV, 667) eine kurze Parallele; sie wird vor Harûn erzählt. Sie scheint ein beliebtes Thema gewesen zu sein, da sie nicht nur in diesen beiden Fassungen, sondern auch in einer noch ausführlicheren in der Stambuler Handschrift vorkommt (oben S. 670). Die Geschichten von' Abdallâh ibn Ma'mar und dem Manne aus Basra mit seiner Sklavin (III, 432), von dem irrsinnigen Liebhaber (III, 560) und von dem Liebhaber, der sich als Dieb ausgab (III, 164), sind schon durch Ibn es-Sarrâdsch aus dem 11. Jahrhundert für Baghdad bezeugt. Die Geschichte von Di'bil el-Chuzâ'i und der Dame und Muslim ibn el-Walîd (III, 547) isteine typische Großstadtgeschichte; Di'bil lebte im neunten Jahrhundert in Baghdad. -



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Zwei Varianten des gleichen Themas sind die Geschichten von Abu 'Isa und Kurrat el-'Ain (III, 568) und von el-Amîn und lbrahim el-Mahdî (III, 577). Auch die Geschichte von dem jungen Manne aus Baghdad und seiner Sklavin (V, 764) gehört hierher; sie wird gleichfalls von Ibn es-Sarrâdsch überliefert (Paret, S. 74, zu Nr. III). Die kurzen Anekdoten von dem Liebespaar in der Schule (III, 437), von den drei unglücklichen Liebenden (III, 556) und von dem Schulmeister, der sich auf Hörensagen verliebte (III, 533), können sowohl in Baghdad wie in Kairo entstanden sein; ebenso die Geschichte des Wesirs von Jemen und seines jungen Bruders (III, 435), eine Geschichte von der Knabenliebe, die leider in Baghdad ebensosehr wie in Kairo geübt wurde.

Von den größeren Liebesromanen können die von Masrûr und Zain el-Mawâsif (V, 557), von Abu el-Hasan aus Oman (VI, 353), von Ibrahim und Dschamîla (VI, 379) sowie von Abu el-Hasan aus Chorasan (VI, 408) in Baghdad entstanden sein, aber dann sind sie in Ägypten überarbeitet. Sicher aus Ägypten ist der Roman von Kamar ez-Zamân und Halîma (VI, 432); da letzterer nach Basra verlegt wird, ist es möglich, daß ägyptische Autoren die anderen hier genannten Geschichten teilweise in Baghdad und Basra haben spielen lassen, um ihre eigene Heimat davon zu entlasten. Die beiden Romane von Masrûr und Kamar ez-Zamân ähneln sich stark in ihrem unmoralischen Ehebruchsthema.

Für Masrûr und Zain el-Mawâsif (V, 557) werden Zeit und Ort nicht angegeben; nur als das Paar in die Fremde zieht ist von Aden als einer fernen Stadt die Rede. Masrûr ist Christ und vergeht sich mit der Jüdin Zain el-Mawâsif: aber als beide den Islam annehmen, ist alles gut, während der betrogene Ehemann



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in elender Weise umkommt. Die Geschichte scheint mehrfach überarbeitet zu sein, bis sie ihre jetzige operettenhafte Gestalt erhielt. Die Episode von dem Liebestode der Kadis (V, 612f.) mag noch aus Baghdader Zeit stammen, kann aber auch von einem späteren Verfasser, der mit den Liebestodgeschichten vertraut war, gedichtet sein.

Abu el-Hasan aus Oman (VI, 353) kommt nach Basra und Baghdad und soll zur Zeit Harûns gelebt haben. Er kommt in ein Mädchenhaus und wird von dem Besitzer fortgejagt, als er kein Geld mehr hat. Durch einen Glückszufall erhält er wieder ein großes Vermögen, aber da er ein Amulett zu billig verkauft, verliert er aus Kummer darüber die Farbe. Er gewinnt seine Geliebte wieder, und als er von Harûn den Tribut von drei Provinzen erhält, kehrt auch die Farbe in sein Gesicht zurück. Da ein babylonischer Zauberer auftritt (VI, 373) und da der Verfasser Ortskenntnis von Baghdad hatte, wird diese Geschichte doch wohl in spätbaghdadischer Zeit entstanden und dem Harûnkreise eingefügt sein.

Die Geschichte von Abu el-Hasan aus Chorasân (VI, 408) spielt zur Zeit der Kaufen el-Mu'tadid (892 -902) und el-Mutawakkil (847—861). Der Held erzählt, wie er in den Palast eindringt, um zu seiner Geliebten, der Sklavin Schadscharat ed-Dürr, zu gelangen. Er wird entdeckt, aber der Kalif verzeiht den beiden und gibt die Sklavin frei; auch schenkt er den beiden viel Gut. Das alles wird kaum historisch sein. Die Bemerkung, daß der Kalif sechshundert Wesire gehabt habe (S. 408), kann später in Ägypten hinzugefügt sein; die Geschichte wird wohl aus spätbaghdadischer Zeit stammen wie die soeben besprochene.

Dagegen istdie Liebesgeschichte von lb r ah îm und Dschamîla (VI, 379) ägyptisch oder in Ägypten umgearbeitet. Der



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Held ist ein Ägypter; und in Baghdad hätte man kaum einen ägyptischen Helden erfunden. Der Schauplatz ist hauptsächlich Baghdad und Basra. Die Szene (VI, 402), in der Dschamîla sich als Kapitän verkleidet, ist wohl der gleichen in der Geschichte von Marjam der Gürtlerin nachgebildet (oben S. 702); doch die letztere ist ausführlicher und auch besser motiviert. Überhaupt ist das Ganze nicht sonderlich gut erzählt.

Der lange Ehebruchsroman von Kamar ez-Zamân und seiner Geliebten (VI 432) ist sicher erst im 16. oder 1.Jahrhundert in Ägypten entstanden; dabei werden mancherlei Motive aus früheren Geschichten benutzt. Das Kaffeehaus wird S. 443f. genannt, das Kaffeetrinken S. 465, 468, 470, 477, der Schnupftabak S. 462. Hier liegt keinerlei Anlaß vor, diese Stellen als spätere Einschübe anzusehen. Daher werden auch die türkischen Wörter für Bannerträger (VI, 490) und für den Seesoldaten (VI, 471) im ursprünglichen Text gestanden haben. Aus früheren Geschichten finden sich hier die folgenden Szenen: der Beduinenüberfall (S. 447 und 495) wie bei 'Alâ ed-Dîn Abu esch-Schamât (II, 589); der schlafende Geliebte (VI, 464) wie bei 'Azîz und 'Aziza (11,45); das Motiv, daß eine Dame beim Zug durch die Straßen nicht gesehen werden will (S. 444, 451) wie bei 'Alâ ed-Dîn (II, 698), aber dort ist es eine Königstochter, hier eine Goldschmiedsfrau, bei der dieser Befehl sehr unangebracht ist. Die päderastische Szene VI, 440 if., wirkt abstoßend; die Szenen beim Betrug des Ehemanns würden bei uns in einem »Schundroman«stehen. Immerhin ist das Ganze nicht ungeschickt komponiert und mit Reimprosa und Gedichten ausgeschmückt. Der Schluß soll moralisch wirken und die unmoralische Geschichte gewissermaßen legitimieren. Die Ehebrecherin und ihre Sklavin werden getötet, aber der Ehebrecher selbst zieht sich ziemlich



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feige aus den Folgen seines Tuns heraus und wird sogar noch belohnt. Der Ehebrecherin aus Basra gegenüber werden die Kairiner Frauen als fromm und treu hingestellt. In den sich immer wiederholenden Szenen des Hinundhereilens zwischen dem Hause des Gatten und dem des Liebhabers zeigt sich ein ziemlich primitiver Geschmack; sie erinnern an Darstellungen im Schattentheater oder auf der Volksbühne, wo solche Wiederholungen sehr beliebt sind.

In den Liebesliedern und in Schilderungen des Liebeslebens finden sich sehr viele Ausdrücke, die aus der religiösen Sprache entnommen sind, wie ja andererseits bekanntlich die Sprache des Liebeslebens in der Mystik auf die religiöse Sprache stark eingewirkt hat. Es wäre eine lohnende Aufgabe, diese Frage genauer zu untersuchen. Nach einer arabischen Überlieferung soll der Liebestod dem Märtyrertod gleich geachtet werden.


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